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Was Eltern bei der Kinder-Erziehung von Pferdeflüsterern lernen können

Leben

Was Eltern bei der Kinder-Erziehung von Pferdeflüsterern lernen können

  • Text: Julia Hofer; Fotos: Nathalie Bissig

Der letzte Schrei in der Elternbildung: Kinder wie Pferde erziehen. Funktioniert das? Ein Erfahrungsbericht.

Zugegeben, als ein Arbeitskollege letzthin einen Flyer in der Redaktionssitzung herumzeigte, der für ein neues Eltern-Pferde-Erziehungsseminar warb, löste das erst mal eine gewisse Erheiterung aus. Will uns hier ernsthaft jemand weismachen, dass Kinder wie Pferde zu dressieren sind? Vielleicht sogar mit der Peitsche? Doch die Situation wurde zumindest für mich schlagartig ernst, als mein Chef befand, die Sache klinge interessant genug, dass sie jemand ausprobieren sollte. Und dass dieser jemand ich sei. Ausgerechnet ich, deren Erfahrung mit Pferden sich auf folgende Begebenheiten beschränkt: Als mein Sandkastenfreund und ich einmal mit der Kutsche vom Kindergarten abgeholt wurden, brannte das Pferd durch. Es hielt erst im übernächsten Dorf an. Einige Jahre später entschloss sich ausgerechnet mein Pony, die ausgelatschten Pfade des Ponyhofs zu verlassen, um ein Bad im See zu nehmen – mit mir auf dem Rücken. Zu diesen einschlägigen Erfahrungen kommt ein olfaktorisches Unbehagen: Ich bin der Meinung, dass Pferde stinken.

Obwohl ich meine Erziehungskompetenz bislang nie grundsätzlich infrage gestellt habe – es wurden weder Gefährdungsmeldungen eingereicht, noch werde ich von unseren Kindern geschlagen –, gestand ich mir schliesslich ein, dass es wohl immer ein Verbesserungspotenzial gibt. Es wäre schön, wenn ich nicht immer alles zehnmal sagen müsste. Und wenn mir weniger häufig das Ärger-Adrenalin ins Blut schiessen würde. Das Übliche eben. Bereits die erste Begegnung mit Parentship-Seminarleiterin Liz Heer ist ziemlich beeindruckend: Eine strahlende 53-Jährige mit Schirmmütze, die blonden Haare zum Pferdeschwanz gebunden, hüpft vor dem bezaubernd gelegenen Engadiner Reitstall San Jon aus dem Jeep und begrüsst mich mit festem Handschlag. Dann öffnet sie den Anhänger, und ihre Pferde entsteigen ihm im eleganten Rückwärtsschritt, ohne mit der Wimper zu zucken. Diese Lady hat Leadership! In mir keimt Zuversicht. Tatsächlich erklärt Verena Albertin, Erwachsenenbildnerin und Initiantin des Elternseminars, später, dass bei Parentship das Einüben von Führungsqualitäten im Vordergrund stehe. «Pferde suchen einen Leader, als Herdentiere wollen sie sofort wissen, welchen Rang sie in der Gruppe haben. Im Umgang mit ihnen können wir unsere natürliche Autorität entwickeln.»

Ein 600-Kilo-Wallach names Parron

Im Unterschied zuanderen Elternkursen erwartet uns hier also keine dröge Theorie zur Entwicklungspsychologie des Kindes, sondern entlarvende Selbsterfahrung. Ein durchaus zeitgemässer Ansatz, wenn man bedenkt, wie viele Eltern sich heutzutage nicht entschliessen können, in der Kindererziehung die Zügel in die Hand zu nehmen. Wie oft habe ich mich schon über Mütter geärgert, die in säuselndem Singsang auf ihre längst muttertauben Kinder einreden, obwohl gemäss Studien nur 7 Prozent aller Botschaften verbal, der Rest mittels Körpersprache und Stimmausdruck vermittelt werden. Spricht Liz Heer über den Pferdeflüsterer Pat Parelli, leuchtet ihr Gesicht. Ziel seiner Methode sei es, das Vertrauen und den Respekt der Pferde zu gewinnen, sodass sie den Menschen als ihren Leader anerkennen. Vor 15 Jahren besuchte Liz Heer mit ihrem Mann zum ersten Mal Parellis Pferderanch in Kalifornien und begann dort eine Ausbildung in sogenanntem Natural Horsemanship. Ihre Söhne waren fünf und zwei Jahre alt, als sich Heer zum ersten Mal fragte, ob sich die Erkenntnisse aus dem Pferdetraining auch auf die Kindererziehung übertragen liessen.

Einer der Söhne litt unter der Aufmerksamkeitsstörung ADHS. Liz Heer sagt: «Ich habe Bücher über ADHS gelesen, die mir zwar einiges erklärt, aber im Alltag mit den Kindern nicht geholfen haben. Erst als ich anfing, Prinzipien des Natural Horsmanship anzuwenden, hat sich die Situation entspannt.» Doch nun werden wir erst mal sehen, ob die Sache zwischen mir und dem Pferd funktioniert. Jeder Kursteilnehmer soll ein Tier von der Koppel holen, ihm das Halfter anlegen und es zum Viereck führen. «Achtet auf eure nonverbale Kommunikation», werden wir gewarnt, «das Pferd hat euch in zehn Sekunden durchschaut. Wenn ihr keinen Plan habt, wird es die Führung übernehmen.» Meine stählerne Entschlossenheit zerbröselt schnell zu einem mulmigen Gefühl, als ich auf den 600-Kilo-Wallach Parron zumarschiere. Er schaut mir tief in die Augen – und läuft davon. Was für ein erbärmlicher Einstieg! Erst als ich mich etwas vorsichtiger nähere, klappt es: Ich kann ihn gemäss Anleitung streicheln («Nicht klopfen, ich habe noch nie eine Stute gesehen, die ihrem Fohlen auf den Hals klopft!»). Die Knoten, mit denen aus einigen Seilen ad hoc ein Halfter gezurrt werden soll, lassen mich nervös an Parrons überdimensioniertem Kopf herumnesteln.

Er scheint ein Auge zuzudrücken. Uff, geschafft. Ich stapfe los. Und Parron folgt mir, ohne dass ich am langen Seil ziehen muss. Wow, das fühlt sich gut an! Natürlich durchschaut nicht nur das Pferd, sondern auch die Seminarleiterin ihre Kursteilnehmer augenblicklich. Ihre Manöverkritik: Leadership-Qualitäten seien durchaus vorhanden. Doch weil meine Energie zu frontal gewesen sei, habe sich Parron erst mal von mir abgewendet. «Wir gehen die Dinge oft zu direkt an, ganz egal, ob es sich um Pferde oder Kinder handelt.» Stattdessen ist mehr Einfühlungsvermögen gefragt. «Denke zuerst wie ein Pferd, bevor du handelst wie ein Mensch!» Dem Fluchttier Pferd nähert man sich seitlich – dem Kind gibt man kindgerecht verpackte Aufträge. Auf dem Platz werden wir mit den vier Phasen des Natural Horsemanship vertraut gemacht: Zuerst zeige ich dem Pferd mit einer Hand- oder Armbewegung, was es tun soll, zum Beispiel rückwärtsgehen. Dann hebe ich das Seil oder den Touchierstab an, in der dritten Phase mache ich damit rhythmische Bewegungen (in der Pferdesprache eine Art Drohung), und – wenn immer noch nichts geht – dann touchiere ich es.

Diese vier Phasen haben die Pferdeflüsterer den Stuten abgeschaut, die ihren Fohlen zuerst mit angelegten Ohren einen Befehl erteilen, dann mit dem Schweif schlagen, den Huf anheben und schliesslich ausschlagen oder beissen. Am nächsten Tag arbeiten wir ohne Seil mit den Pferden, laut Heer «bleibt jetzt nur noch die Wahrheit übrig». Obwohl ich mir die Abfolge von Aufforderungen, Korrekturmassnahmen und Belohnungen kaum merken kann, setze ich der Vollblutaraberstute Ice-Tea gegenüber ein Pokerface auf. Sie soll auf einem imaginären Kreis um mich herumtraben. Stattdessen geht sie einfach ihrer Wege. Resigniert winke ich der Trainerin, die mich schon scharf beobachtet. «Du solltest an deiner Einstellung arbeiten, dein Loserhirn meldet sich, du gibst zu schnell auf», rügt sie mich. Also reisse ich mich zusammen. Und siehe da, diesmal interpretiert Ice-Tea mein Fredy-Knie-mässiges Anheben des Seils auf Anhieb richtig und beginnt, im Kreis um mich herumzutraben. Obwohl ich mich natürlich am liebsten ständig nach ihr umdrehen möchte, um sicherzugehen, dass sie nicht doch plötzlich hinter meinem Rücken stehen bleibt, muss ich eine entspannte Körperhaltung einnehmen und gelangweilt geradeaus schauen: «Die Beibehaltung der Gangart liegt allein in der Verantwortung des Pferdes!»

Süssigkeiten von der Tankstelle

Nach einigen Runden trottet Ice-Tea unaufgefordert zu mir in die Mitte. Erst jetzt darf ich korrigierend eingreifen, indem ich sie gleich noch einmal losschicke. Als sie dann auf mein Kommando zu mir kommt, bekomme ich das Zeichen zum Aufhören. «Jetzt ist genug. Wir dürfen das Programm nicht überladen, das gilt auch für die Kindererziehung. Oft scheitern wir, weil wir zu viel wollen.» Auf dem Pferderücken stellt sich dann ein weiteres Aha-Erlebnis ein, diesmal in Sachen Fokussiert-Sein. Starre ich in die Mähne des Pferdes, geht es irgendwohin, fokussiere ich dagegen das Ziel, scheint es das zu spüren und trabt brav. Im Erziehungsalltag kennt man das Problem des mangelnden Fokus’ unter dem Begriff Multitasking, die Auswirkungen sind in etwa dieselben. Zuhause realisiere ich, wie schwierig es ist, die 4-Phasen-Methode einigermassen konsequent anzuwenden. Ich soll meine Wünsche zuerst mit einer freundlichen Aufforderung kundtun, sie in einer zweiten Phase bestimmt wiederholen, in einem dritten Schritt falls nötig eine Konsequenz androhen und sie dann auch umsetzen. In Liz Heers amerikanisierter Coachingsprache heisst das: Do less sooner – mach weniger, aber mach es früher.

Erschreckend, wie oft ich die erste Phase überspringe und gleich in genervtem Tonfall loslege, weil ich schon vorwegnehme, dass die Kinder nicht folgen werden. Wie aber sollen sie sich einen angenehmen Umgangston angewöhnen, wenn wir Eltern den hässigen Unterton nicht loswerden? Ich muss dringend die Verantwortungen klären, denn wenn die Kinder wissen, was sie zu tun haben, so die Überlegung, können sie schön ihre Runden um mich traben – und ich kann mich entspannen. Ich berufe einen Familienrat ein, in dem wir Standards für die neuralgischen Punkte des Familienalltags definieren: Garderobenordnung, Aufräumen (vor dem Fernsehen und bevor die Putzfrau kommt), Zähneputzen ohne Streit. Heimlich Süssigkeiten an der Tankstelle kaufen: Geht gar nicht. Meine Aufgabe ist die schwierigste. Anstatt mich zum ständigen «Micro-Management» hinreissen zu lassen, soll ich die Säumigen bloss an ihre Pflicht erinnern. Ganz gelassen. Wie mein Vorbild Liz Heer, die einmal sagte, sie freue sich jedes Mal, wenn ein Pferd etwas falsch mache, denn erst das gebe ihr die Gelegenheit, mit den Tieren zu arbeiten. Die neue Methode wird schnell durchschaut.

Wenn ich nörgle, halten mir die Kinder den Spiegel vor: «Kannst du das erst einmal freundlich sagen?» So war das nicht gedacht, aber immerhin ist es ein Zeichen, dass am andern Ende jemand den Hörer abgenommen hat. Zumindest zeitweise habe ich tatsächlich das Gefühl, ein besserer Boss zu sein. Weniger Polizist. Ich marschiere meinen Entchen ohne schlechtes Gewissen voraus, anstatt sie wie ein Gänsehirt vor mir herzutreiben. Anstatt eine nichts als Streit verursachende Meinungsumfrage zu starten, visualisiere ich meine aufgeräumte Pferdetrainerin («Ihr müsst einen Plan haben!»), schlüpfe in die Rolle des multikompetenten Mamis und treffe, bevor wir alle rausgehen, alle nötigen Vorbereitungen von Schlüssel suchen bis Öffnungszeiten überprüfen und verkünde dann meinen Plan (kindgerecht verpackt, selbstverständlich). Das Echo ist meistens einwandfrei – jedenfalls sehr viel besser, als wenn ich meine Kinder mit einer weiteren Gestresste-Mama-versucht-seit-zwanzig-Minuten-aus-dem-Haus-zu-kommen-Vorstellung langweile. Natürlich kann man den Ansatz auch kritisieren: Kindererziehung ist mehr als bloss Leadership.

Eltern sollen authentisch sein und dürfen auch mal durchgeben: «Ich bin jetzt einfach müde und wäre froh, wenn du das tun könntest.» Auch sollte man vor lauter Zielgerichtetheit nicht vergessen, wie heilsam es ist, wenn der Fokus darauf liegt, dass man gerade überhaupt keinen Plan haben will. Liz Heer hat wohl recht, wenn sie sagt: «Man muss nicht alles verändern, oft reichen zwei Millimeter aus.» Ihre Söhne sind mittlerweile erwachsen. Zuverlässig und selbstständig seien sie, sagt sie stolz. Auch wenn die Frage im Nachhinein schwierig zu klären ist – sie glaubt zu wissen, warum es so herausgekommen ist: «Die Pferde haben mich verändert. Und alles um mich herum hat sich verändert.»

— Infos zum viertägigen Elternseminar auf www.parentship.ch

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