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Wenn man tagelang eingeschneit ist

Leben

Wenn man tagelang eingeschneit ist

  • Text: Jessica Prinz; Bild: Kurt Westreicher

Alle paar Jahre schneit es im Bündner Bergdorf Samnaun so viel, dass gar nichts mehr geht. Unsere Autorin erinnert sich an eingeschneite Wintertage, an denen statt Schule Schneespass auf dem Programm stand.

Im kleinen Bündner Bergdorf Samnaun, in dem ich meine Kindheit verbrachte, kennt man grundsätzlich nur zwei Jahreszeiten: Winter und Frühling. Bei meinem letzten Aufenthalt in meiner Heimat über die Weihnachtstage hat es schon recht ordentlich geschneit. Regelmässig haben uns die Lawinensprengungen, die im Dorf per Knopfdruck ausgelöst werden können und für Sicherheit sorgen, morgens geweckt. Seit wir am 2. Januar abgereist sind, nimmt der Schneefall kein Ende mehr. Als meine Mutter mir heute am Telefon erzählt, dass die Strassen nach Samnaun wegen des starken Schneefalls gesperrt sind, wird die Erinnerung an den Jahrhundertwinter 1999 in mir wach.

Damals, im 99 – so beginnt die Kindheitsgeschichte jeweils, die ich und meine Freunde wohl am häufigsten und mit besonders viel Stolz erzählen – hats gar nicht mehr aufgehört zu schneien! Über eine Woche waren die Strassen zu. Im Dorf selbst und nach aussen sowieso. Über eine Woche ging gar nichts, wir Kinder hatten schneefrei und durften uns den Schneebergen vor der Tür widmen – dass wir das Verpasste später an Samstagen nachholen mussten, verschweigen wir jeweils. Klingt gleich viel besser. Langweilig wurde uns natürlich keineswegs. Erst kürzlich schwelgte ich mit meinem Cousin in Erinnerungen an das Labyrinth, das wir zwei Meter tief in den Schnee hinter dem Haus gruben. Von den unterirdischen Gängen, die wir erschufen – kleine architektonische Wunderwerke, die sehr gefährlich hätten werden können. Die wohl schönste Erinnerung ergab sich dann aber erst Jahre später, im Winter 2012, als seit 1999 erstmals wieder die Strasse für längere Zeit geschlossen war. Zu der Zeit wartete ich frisch verliebt zu Hause aufs Eintreffen meines Freundes, der mich besuchen wollte und 24 Stunden warten musste, um ins Dorf zu gelangen. Das Kribbeln im Bauch war kaum auszuhalten, und als er dann vor mir stand, setzte mein Herz kurz aus. Unnötig zu erwähnen, dass wir die verschneiten Tage – er konnte ja leider nicht rechtzeitig abreisen – in vollen Zügen genossen haben …

Dass solche Schneemassen aber auch ihre Schattenseiten haben, war damals deutlich spürbar. Die Regale im Supermarkt waren schnell leer gefegt, Nachschub musste per Helikopter geliefert werden. Meine Mutter kaufte Hefe auf Vorrat, um bei Bedarf wenigstens Brot backen zu können. Eine Lawine zerstörte unter anderem die Fensterfront eines Hotelschwimmbads, liess das Schlafzimmerfenster eines Freundes zerbersten, das sich im 4. Stock befand und füllte dessen Zimmer mit Schnee. Meine Tante musste wegen einer Lungenentzündung mit dem Helikopter ins nächste Krankenhaus geflogen werden. Menschen starben in Lawinen, besonders in Galtür.

Als meine Mutter mir nun erzählt, dass die Strassen wieder gesperrt sind, wäre ich dennoch gern wieder Kind – ausgelassene Sprünge vom Hausdach in den butterweichen Schnee sind unschlagbar. Die Wespen hatten es übrigens angekündigt: sind sie im Sommer überdurchschnittlich viele, gibts im Winter viel Schnee, sagt man. Nun sind Familie und Freunde, Einheimische und Touristen im Dorf eingeschneit, während ich in Zürich im Büro sitze. Die Bäume vor dem Fenster haben den Sturm Burglind fast unbeschadet überstanden, in der Früh blendete mich bereits wieder die Sonne und die Temperaturen sind mild. Heute erscheint mir Samnaun besonders weit weg. Dort warte man noch auf die Aufhebung der Strassensperre, habe ich gehört. Schon bald soll der Alltag wieder ins Dorf zurückkehren.

Memo an Frau Holle: In ein paar Wochen werde ich nach Hause in die Berge fahren, für ein paar Tage Ferien. Gerne können ein paar mehr daraus werden…

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…und heute