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«Auf Genuss darf man nicht verzichten»

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«Auf Genuss darf man nicht verzichten»

  • Interview: Kerstin Hasse; Illustration: Lisa Rock

Wer mit Hungern abnehmen will, hat die Rechnung ohne das Gehirn gemacht: Die Wiener Neurochirurgin und Psychiaterin Iris Zachenhofer (41) hält darum nichts von klassischen Diäten.

Iris Zachenhofer ist eine grosse, schlanke Frau. Sie setzt sich in engen Jeans und Bluse an den kleinen Tisch neben dem Fenster im Wiener Kaffeehaus Sperl und bestellt Kaffee und Kuchen. Wenn man sie sieht, fällt es einem schwer, sich vorzustellen, dass sie sich irgendwann mal den Kopf über ihr Gewicht zerbrechen musste. Doch Zachenhofer hatte Übergewicht und probierte alles aus: Verzicht auf Kohlehydrate. Saftkuren. 20-Tage-Pläne, bei denen die Pfunde hätten purzeln sollen. Taten sie aber nicht.

Eines Tages stiess die ausgebildete Neurochirurgin, die in Wien als Psychiaterin arbeitet, zufällig auf die Idee, die Lösung für ihr Gewichtsproblem in den für automatisierte Abläufe zuständigen Regionen des Gehirns zu suchen. Siehe da: Als sie anfing, ihr Wissen über bestimmte Hirnprozesse zu nutzen, nahm sie kontinuierlich ab.

Ihre Erfahrungen schrieb sie gemeinsam mit ihrer Arbeitskollegin Marion Reddy in einem semi-autobiografischen Ratgeber nieder. Eine Kernaussage in «Kopfsache schlank» lautet: Herkömmliche Diäten funktionieren ein paar Tage gut, weil der präfrontale Cortex, das Vernunftshirn, dann noch stark genug ist, um daran zu erinnern, dass man wegen der kommenden Badesaison Diät machen muss. Später übernimmt jedoch sein Gegenspieler, das Belohnungssystem, das Kommando und verlangt nach Genuss und Freude. Da übliche Diäten dies weitgehend ignorieren, scheitern sie.

annabelle: Iris Zachenhofer. Wir sitzen hier bei Kaffee und Sachertorte. Wäre ich auf Diät, würde ich jetzt gerade alles falsch machen, oder?
Iris Zachenhofer: Nicht unbedingt. Klar, wenn Sie jeden Nachmittag hier sitzen und ein Stück Torte verdrücken würden, wäre es sicher schwierig abzunehmen. Aber grundsätzlich ist ein Stück Torte ab und zu kein Problem. Es ist auf jeden Fall besser, wenn man sich in einem schönen Kaffeehaus ein Stück Torte gönnt und diesen Genuss ohne schlechtes Wissen zelebriert, anstatt auf der Strasse irgendwas Frittiertes zu verschlingen.

Die Zeit macht den Unterschied?
Ja. Wir essen oft aus Gewohnheit, im Vorübergehen. Wenn man die Einkaufsstrasse entlangspaziert, kommt einem niemand entgegen, der nicht irgendein Gebäck in der Hand hält. Aber das hat nichts mehr mit Genuss zu tun. In einem Kaffeehaus zu sitzen allerdings schon.

Vor einigen Jahren litten Sie unter Gewichtsproblemen. Woran lag es?
Ich hatte eine Phase, in der es sehr viel Druck bei der Arbeit gab. Diesen Stress und Frust versuchte ich mit Nutella-Baguettes am Morgen oder einem Hotdog auf dem Heimweg zu lindern. So nahm ich in kurzer Zeit fast 15 Kilo zu und war deshalb unglücklich.

Vor lauter Frust über das eigene Gewicht assen Sie dann noch mehr.
Ja, das Gewicht belastete mich so sehr, dass ich gar nicht mehr abnehmen konnte, ich war blockiert. Ich versuchte verschiedene Diäten, aber keine funktionierte. Nach wenigen Tagen gab ich jeweils wieder auf und ass aus Frust Schokolade. Es ging nicht darum, satt zu werden, sondern den Stress zu betäuben.

Wie durchbrachen Sie diesen Teufelskreis?
Beim Aufräumen zuhause fand ich ein Buch über Neurochirurgie. Ich las darin über Basalganglien, eine wichtige Struktur in unserem Gehirn. In den Basalganglien haben wir Tätigkeiten und Verhaltensweisen abgespeichert, die wir mal gelernt haben, die nun aber automatisiert ablaufen; etwa gehen, Klavier spielen oder Schlittschuh laufen. Das ist so eine Art Outsourcingprogramm unseres Gehirns für Tätigkeiten, bei deren Ausführung wir nicht mehr aktiv nachdenken müssen. Ich dachte mir: Wenn wir dort all unsere automatischen Verhaltensweisen abspeichern, dann gilt das auch für unser Essverhalten. Also muss ich dort ansetzen.

Wie muss ich mir dieses automatisierte Essverhalten vorstellen?
Wenn ich jeden Tag nach der Arbeit an der Bäckerei vorbeigehe und ein Schokolade-Croissant kaufe, dann wird dieses Verhalten automatisch: Ich esse, weil ich mich daran gewöhnt habe, nicht, weil ich hungrig bin. Das kann auch für die Chips beim Fernsehen gelten. Das Entscheidende ist: Solche Verhaltensweisen lassen sich umprogrammieren.

Wie beginnt man damit?
Man kann sich zum Beispiel aufschreiben, was man gegessen hat. So wird man sich seines Essverhaltens bewusst. Grundsätzlich gilt: Änderungen schafft man nicht von einem Tag auf den anderen, egal, wie gut die Vorsätze sind. Man muss das neue Verhalten so lange üben, bis es in den Basalganglien abgespeichert ist. Rückfälle gehören dazu und sind nicht schlimm. Das ist wie bei einem Kind, das Velofahren lernt, umfällt, aufsteht, weiterfährt und so lange übt, bis es fahren kann.

So ein Rückfall ist zum Beispiel eine Heisshungerattacke, das Verlangen nach etwas Verbotenem.
Heisshungerattacken, also die Lust auf Kohlehydrate, entstehen im Kopf, das hat nichts mit Willensschwäche zu tun. Der Hypothalamus funktioniert wie eine Kommandozentrale im Hirn. Er kontrolliert den Kreislauf, die Körpertemperatur und den Blutzucker. Wenn Letzterer zu niedrig ist, geht im Hirn eine Art Alarm los. Unser Sehen und unser Geruchsinn werden intensiver – wir sind wie Jäger, die Nahrung suchen. Da kommt der Schokoriegel genau richtig.

Unser Kopf torpediert also die Diät?
Das Gehirn will verhindern, dass es unterversorgt ist. Das ist ein Überlebenstrieb, dagegen kann man sich nur schwer wehren. Man kann diese Attacken aber verhindern. Nahrungsmittel mit einer hohen glykämischen Last – etwa eine Baguette mit Nutella – lassen den Blutzuckerspiegel schnell steigen und schnell wieder sinken, das führt wenig später zu Heisshungerattacken. Besser sind Lebensmittel mit einer tiefen glykämischen Last, die machen länger satt, und der Blutzuckerspiegel bleibt länger stabil.

Also kein Brot und keine Pasta mehr?
Nein, so schlimm ist es nicht. Ein Sauerteigbrot aus dem Holzofen hat eine viel niedrigere glykämische Last als ein billiges Weissbrot. Das Gleiche gilt bei den Teigwaren: Je besser die Qualität des Hartweizens, desto niedriger die glykämische Last. Es ist also nichts Schlechtes, wenn man Spaghetti isst, ganz im Gegenteil.

Fast jede Frau hat einmal irgendeine Diät ausprobiert. Ich selber versuchte einmal, abends nur noch klare Suppen zu essen. Ich hielt nicht lange durch.
Das kann ich nachvollziehen. Diäten haben grundsätzlich immer etwas sehr Hoffnungsvolles, weil wir uns in kurzer Zeit eine Verbesserung versprechen. Doch diese Diäten bestehen meist aus Regeln, die im normalen Alltag schlicht nicht umsetzbar sind. Es heisst: Iss das so! Lass das sein! Da kann man ja nur scheitern. Und wenn man dann im 20-Tage-Programm bei Tag 5 einen Fehler macht, gibt man auf.

Kann man denn abnehmen und dabei trotzdem glücklich sein?
Man muss sich Zeit lassen und sich Fehler eingestehen. Man setzt sich ja nicht nur mit dem eigenen Essverhalten auseinander, sondern auch mit sich selbst. Dazu gehört auch die Überlegung, weshalb man jetzt diesen Schokoriegel auf dem Heimweg von der Arbeit braucht. Weil man Stress hat? Oder weil man unglücklich ist? Unser Ansatz ist es, langfristig etwas an seinem Leben zu ändern, wir bieten kein 20-Tage-Programm.

Solche Diätratgeber sind es aber, die im Frühling massenweise von Frauen gekauft werden.
Letztes Jahr ist ein Buch erschienen, in dem den Leserinnen geraten wurde, nie mehr Zucker zu essen. Das ist furchtbar! Solche Diäten versprechen ein schnelles Resultat – das scheint viele Frauen anzuziehen. Viele Diäten funktionieren nur über extremen Verzicht, da sitzt man dann am Abend mit seinem Knäckebrot am Tisch, während die Familie etwas Leckeres isst. Das ist kaum durchzuhalten.

Was denken Sie in Ihrer Rolle als Psychiaterin: Weshalb beschäftigen sich viele Frauen permanent mit dem eigenen Gewicht?
Ich denke, dass viele Frauen sehr körperbewusst sind, oft körperbewusster als Männer. Wir vergleichen uns oft mit anderen Frauen und wissen genau, was uns stört.

Woran liegt das?
Evolutionspsychologen vermuten, dass es sich dabei um uralte Verhaltensmuster handelt: Für Frauen war es in der Steinzeit wichtig, dass der Mann ein Versorger und Beschützer war, an äusseren Kriterien war daher vor allem die Körpergrösse wichtig, die mit Kraft und Macht assoziiert wurde. Männer hingegen sind rein biologisch auf der Suche nach einer fruchtbaren Frau und finden damit Merkmale anziehend, die für Jugendlichkeit stehen: volle Lippen, hohe Wangenknochen, niedriger Taille-Hüft-Quotient. Nach dieser Vorstellung tragen wir noch immer die Gene der Steinzeit in uns, es ist quasi kein genetisches Update erfolgt, deshalb wollen Frauen, bewusst oder unbewusst, die Kriterien der Jugendlichkeit erfüllen, und dazu gehört eine Sanduhrsilhouette.

Der Start von Diäten hat immer etwas sehr Rituelles. Was halten Sie von Neujahrsvorsätzen?
Ich finde Vorsätze etwas Gutes, weil sie bedeuten, dass man reflektiert, wie man lebt. Ich weiss bloss nicht, weshalb die Vorsätze aufs neue Jahr fallen müssen. Wenn man im nächsten Sommer besser in Form sein will, dann ist es besser, wenn man im November oder Dezember beginnt – und nicht erst im April oder Mai. Egal, was all die Zeitschriften und Bücher versprechen: Es ist unmöglich, in so kurzer Zeit mehrere Kilo abzunehmen.

Jetzt steht aber die Weihnachtszeit bevor. Guetsli, Braten, Schoggichläuse. Wie übersteht man diese Zeit, wenn man abnehmen möchte?
Klar, Weihnachtsgebäck ist kein Abnehmknüller, aber auch hier geht es um die Qualität. Genuss ist Teil unserer Kultur, darauf kann und soll man nicht verzichten. Bedenklich finde ich die industrielle Massenware, die Kekse im Kilopack vom Supermarkt, das verleitet zum ständigen Essen. Greifen Sie lieber zu selbst gemachten Keksen, die qualitativ besser sind und die man bewusst geniesst. Die Vorweihnachtszeit kann ja auch die Möglichkeit bieten, bewusst einmal innezuhalten und zu reflektieren: Was will ich in meinem Leben?

Der Kellner tritt an unseren Tisch. «Hat es den werten Damen geschmeckt?» «Sehr», antworten wir. «Darfs noch ein Stück Sacher sein?» Iris Zachenhofer lacht und schüttelt den Kopf. Zwei Stück Sachertorte ist dann eben doch eines zu viel.

Iris Zachenhofer ist Co-Autorin eines Buchs übers Abnehmen: Kopfsache schlank. Verlag Edition A, 2016, 208 S., ca. 24 Fr.