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«Frauen sind in der Forschung eine Randgruppe»

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«Frauen sind in der Forschung eine Randgruppe»

  • Text: Stefanie Nickel, Bild: Unsplash

Die medizinische Forschung ist auf männliche Patienten ausgerichtet – mit fatalen Folgen für Frauen. Vera Regitz-Zagrosek kämpft dafür, dass Gendermedizin in die Pflichtlehre aufgenommen wird.

annabelle: Vera Regitz-Zagrosek, Sie gelten als Pionierin der Gendermedizin im deutschsprachigen Raum, haben an der Charité in Berlin das erste Institut für geschlechtsspezifische Medizin aufgebaut. Nun unterstützen Sie auch die Universität Zürich dabei, ein Institut für Gendermedizin zu etablieren. Warum braucht es die Geschlechterperspektive in der Medizin?
Vera Regitz-Zagrosek: Im Zentrum der medizinischen Lehre und Forschung steht noch immer der Mann. Es sind hauptsächlich seine Symptome und Beschwerden, die in die Lehrbücher eingehen. Medikamente werden an männlichen Mäusen und dann an Männern getestet. Studien mit Frauen gelten wegen Schwankungen im Hormonhaushalt und der Möglichkeit einer Schwangerschaft als zu komplex und teuer – zu Unrecht übrigens. Und so werden Frauen nach einem auf Männer ausgerichteten Standard behandelt.

Was hat das für Konsequenzen?
Frauen haben deutlich mehr Nebenwirkungen, wenn sie Medikamente einnehmen. Manche Präparate und Therapien wirken gar nicht. Andere müssten anders dosiert und angewendet werden. Das hat fatale Folgen: Frauen sterben nachweislich häufiger an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, weil man sie nicht erkennt oder weil Frauen mit Medikamenten behandelt werden, die nicht auf sie abgestimmt sind.

Sie sagen also, dass etwa die Hälfte der Menschheit medizinisch benachteiligt wird?
Ja, es ist tatsächlich so. Frauen sind in der Forschung eine Randgruppe.

Wann sind Sie das erste Mal mit dem Thema in Berührung gekommen?
Mitte der Neunzigerjahre. Als junge Ärztin arbeitete ich am Herzzentrum in München. Da wurde eine junge Frau in sehr schlechtem Zustand mit einem Kreislaufschock eingeliefert. Wir wussten nicht, was mit ihr los war. Manches deutete auf einen Herzinfarkt hin. Aber die Patientin zeigte nicht die typischen Symptome, wie sie bei Männern vorkommen. Männer haben meist ein Stechen in der Brust. Heute wissen wir, dass Frauen eher über Schwindel, Übelkeit oder auch Hals- und Kieferschmerzen klagen. Damals konnten wir uns das nicht erklären. Ich erinnere mich noch genau, wie der leitende Oberarzt aus dem Raum ging und sagte: «Verstehen wir nicht – das ist ’ne Frau.» Die Frau starb.

Würden Sie rückblickend sagen, dass dieses Erlebnis ein Schlüsselmoment war?
Ja. Allerdings, war ich damals vor allem geschockt. Mir ist erst Jahre später bewusst geworden, dass dahinter offenbar ein systemisches Problem steckte.

Wie wurde aus Verwunderung ein Lebensthema?
Anfang der Nullerjahre war ich als Oberärztin am Deutschen Herzzentrum Berlin für sehr viele Patient*innen verantwortlich und ich sah: Frauen verhielten sich anders als Männer. Sie reagierten nicht so gut auf unsere Therapien und die Medikamente. Also machten wir eine grosse Untersuchung zu Verläufen nach Operationen an Herzkranzgefässen mit 17 000 Patientinnen und Patienten. Und stellten fest: Die jungen Frauen starben häufiger als altersgleiche Männer. Das Ergebnis hat mich sehr erschüttert. Offenbar waren unsere Behandlungsmethoden nicht auf Frauen optimiert. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich, dass ich tiefer in die Forschung einsteigen wollte. Ich hatte meine Lebensaufgabe gefunden.

Warum starben die Frauen häufiger?
Das wissen wir immer noch nicht genau. Wir haben damals nur wenig Mittel bekommen. Aber wir denken, dass es eine Kombination aus biologischen und auch soziokulturellen Faktoren war. Möglicherweise waren Frauen tatsächlich schwieriger zu operieren, weil sie zum Teil kleinere und stärker gewundene Gefässe hatten. Sie brauchten also eigentlich erfahrenere Operierende. Und sie verhielten sich nach Operationen anders: ängstlicher, depressiver, kamen seltener zu den Wiedervorstellungsterminen. Möglicherweise weil sie sich von den Ärzt*innen nicht gut betreut fühlten, weil es Schwierigkeiten in der Kommunikation gab.

Wie war die Resonanz auf Ihr Vorhaben, Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Frauen zu untersuchen?
Es gab viel Widerstand.

Aber wie kann das sein? Die Fakten sprachen doch für sich.
Die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie und die deutschen Forschungsförderer sind extrem konservativ. Ausserdem sind die meisten Kardiologen Männer. Die verstanden überhaupt nicht, was das sollte. Die typische Reaktion von freundlichen, älteren Herren war: «Vera, du hast früher so tolle Forschung gemacht. Und jetzt machst du so komische Dinge.»

Wie gingen Sie mit dieser Kritik um?
Ich liess mich nicht abbringen, fand Fürsprecher*innen und gründete schliesslich eine Arbeitsgruppe für Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Frauen. Wir wurden recht schnell bekannt mit unseren Ergebnissen. Später bekam ich eine Professur an der Charité, gründete das Institut für Gendermedizin. Wir verankerten die geschlechtsspezifische Forschung an der Charité in der medizinischen Pflichtlehre – das war ein Novum in Deutschland, ist es leider bis heute.

Letztes Jahr wurde Ihnen für Ihre Arbeit das Bundesverdienstkreuz verliehen. Das tönt nach einer Erfolgsgeschichte. Sind Sie zufrieden?
Wenn man zurückblickt und sieht, wo wir hergekommen sind, sind wir einen langen Weg gegangen. Es wird heute ganz anders über das Thema diskutiert – auch auf Kongressen und bei Fortbildungen. Viele niedergelas­sene Kardiolog*innen greifen die Ideen auf und sagen: Ja, man muss sich die gendermedizini­schen Aspekte anschauen. Und so profitieren auch die Frauen, die von diesen Ärzt*innen behan­delt werden. Aber es liegt noch ein weiter Weg vor uns.

Was meinen Sie?
Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Es gab vor ein paar Mo­naten eine Publikation im «New England Journal of Medicine», unserer grössten und wichtigsten Zeitschrift. Da ist eine neue Therapie zur Behandlung von Herz­infarkten vorgestellt worden. In dieser ganzen Studie waren nur zwanzig Prozent der Proband*innen Frauen. In der Hauptarbeit wurde nicht aufge­schlüsselt, ob die Substanz bei Frauen und Männern anders wirkt. Und dann konnte man irgendwo hinten im Kleingedruckten einer Tabelle entnehmen: Das Me­dikament wirkte bei Frauen überhaupt nicht.

Ist das für Sie und Ihre Arbeit nicht ein Schlag ins Gesicht?
Ich kann mich da nicht immer geschlagen fühlen, das ist die Norm. Wir haben jetzt in einer grossen europäi­schen Studie gesehen, dass die von den Leitlinien emp­fohlenen Dosen für einige wichtige Herzmedikamente bei Frauen einfach zu hoch sind. Wir kämpfen ja stän­dig gegen diese Widerstände an. Aber natürlich, ja: Das ist alles völlig inakzeptabel.

Was fordern Sie?
Die geschlechtsspezifischen Aspekte müssen in alle Bereiche der Medizin integriert werden – in die Arznei­mittelentwicklung, in die Diagnostik der Krankheiten, in die Behandlung. Und sie müssen endlich überall in die medizinische Pflichtlehre aufgenommen werden. Gendermedizin darf nicht länger ein Wahlfach sein. Und wir müssen auch die soziokulturellen Bedingun­gen, unter denen Männer und Frauen in der Gesell­schaft leben, stärker miteinbeziehen, wenn wir Krankheiten betrachten.

Das tönt nach immensen Mehrkosten. Werden Pharmaunternehmen das mitmachen?
Natürlich schrecken die vor den Mehrkosten für männliche und weibliche Mäuse zurück. Aber das kann ja kein Argument sein, wenn es um die Gesundheit der Frauen geht. Übrigens ist es am teuersten, wenn Medikamente wieder vom Markt genommen werden müssen, weil man merkt, dass sie bei Frauen nicht oder sogar negativ wirken. In Kanada und in den USA ist es jetzt schon die Regel, dass Mäuse beiderlei Geschlechts in die Grundlagenforschung integriert werden, und auch für klinische Studien braucht es vergleichbare Zahlen von Frauen und Männern. Da müssen Wissenschafter*innen Rechenschaft darüber ablegen, wenn sie die genderspezifischen Aspekte nicht beachten. Und im Zweifel wird ein Medikament dann nur für Männer oder eben nur für Frauen zugelassen.

Werden geschlechtsspezifische Aspekte bei der Bekämpfung von Covid-19 genügend beachtet?
Auch in der aktuellen Krise werden sie nicht ausreichend diskutiert. Soweit man den aktuellen Zahlen trauen kann, scheinen die Männer durch ihre Biologie benachteiligt – sie erkranken häufiger, haben häufiger schwerere Verläufe und sterben häufiger. Frauen können virale Infekte oft besser abwehren. Allerdings: Sie haben sozioökonomisch die schlechteren Karten, haben mehr prekäre Jobs, stecken sich häufiger an. Wir müssen darauf achten, dass das bei der Therapieentwicklung für Covid-19 rechtzeitig berücksichtigt wird – anders als es bei vielen anderen Erkrankungen der Fall ist. Dazu haben wir an der Uni Zürich ein Forschungsprojekt ins Leben gerufen.

Woran liegt es, dass die genderspezifische Forschung in der Medizin immer noch ein Nischenthema ist?
Wir haben zu wenige Frauen in den Führungspositionen von Universitäten. Wenn wir mehr Genderforschung haben wollen, müssen wir die Frauen in die Chefetagen holen. Es gibt nur zwei Dekaninnen an den medizinischen Fakultäten in Deutschland. Weniger als zehn Prozent der Universitätskliniken werden von Frauen geleitet – das schlägt sich auch in der Forschung nieder. Denn die meisten Männer halten es für nicht so interessant, den Gesundheitszustand speziell der Frauen zu erforschen.

Warum gelingt es Universitätskliniken nicht, Frauen Aufstiegsmöglichkeiten zu bieten und sie langfristig zu halten?
Frauen zwischen 35 und 40 Jahren werden in der Medizin regelrecht aus dem Beruf gedrängt – weil sie Mütter sind oder nur, weil sie noch Kinder bekommen und dann vielleicht vorübergehend fehlen könnten. Das Arbeitsklima an den Hochschulen wird als extrem kompetitiv und auch sexistisch empfunden. In den Berufungskommissionen werden Frauen gefragt, ob sie nachts in die Klinik kommen würden, wenn es einen Notfall gäbe. Das ist eine Zumutung. Männer würden so etwas nie gefragt werden. Viele Chefs glauben, dass sie mit einem Mann – auch wenn er Kinder hat – eine zuverlässigere Arbeitskraft haben.

Wie lässt sich das ändern?
Wir brauchen eine ganz andere Haltung. In der Wissenschaft herrscht ein regelrechter Jugendlichkeitswahn im Rennen darum, die wichtigen Leistungen bis zum Alter von vierzig Jahren zu erbringen. Das ist aber häufig eine Zeit, in der Wissenschafterinnen sich entscheiden, Kinder zu bekommen und eine Familie zu gründen. Und so brechen viele Frauen ihre Laufbahn als Forscherin ab. Frauen müssen irgendwann Kinder bekommen, sonst sterben wir alle aus. Daher sollten wir uns darum bemühen, dass Kinderbekommen nicht so eine furchtbare Karrierebremse ist. Es muss auch jenseits der vierzig noch möglich sein, Karriere zu machen – und zwar in einem Umfeld, das Mütter unterstützt und nicht ausgrenzt. Zudem müssen die Männer bei der Kindererziehung stärker ins Boot geholt werden. Auch wirtschaftlich macht es keinen Sinn, wenn Frauen ihre Karriere abbrechen.

Gibt es dazu Untersuchungen?
Wir etablieren gerade an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich ein Projekt, in dem wir überprüfen wollen, welchen volkswirtschaftlichen Schaden diese «Leaky Pipeline» anrichtet. Denn stellen Sie sich doch mal vor: Wir bilden Tausende hoch kompetente Frauen im Medizinstudium aus, sie werden Fachärztinnen und dann schafft man Arbeitsbedingungen, die dazu führen, dass sie den Beruf entweder ganz verlassen, auf einer Halbtagsstelle oder in einer sehr unterqualifizierten Position in ihrem Beruf arbeiten.

Würden Sie sich als Feministin bezeichnen?
Mittlerweile ja. Aber als ich die Gendermedizin auswählte noch nicht. Mir war es immer wichtig, als Forscherin Neues zu tun, die Qualität in der Medizin und damit die Lebensbedingungen möglichst vieler Menschen zu verbessern. Um ehrlich zu sein, hatte ich den Feminismus lang nicht auf dem Schirm. Früher dachte ich, Männer und Frauen hätten die gleichen Chancen. Da war ich wirklich naiv.

Wann haben Sie gemerkt, dass das nicht der Fall ist?
Ich bin nach meinem Studium zum Max-Planck-Institut für Experimentelle Kardiologie nach Bad Nauheim in der Nähe von Frankfurt am Main gefahren, unangemeldet und habe gefragt, ob ich eine Stelle haben kann. Der damalige Chef stellte mich am Ende des Tages ein, per Handschlag. Später erfuhr ich, dass ich die erste Frau war, die er eingestellt hatte. Da dachte ich: Hoppla. Die Hälfte der Menschheit sind doch Frauen. Warum sind nicht auch die Hälfte der Forschenden am Max-Planck-Institut Frauen? Aber bei der Arbeit im Institut hatte ich dann die gleichen Chancen wie meine männlichen Kollegen.

Sind Sie ein Vorbild für junge Kolleginnen?
Ich habe eigentlich all das gemacht, was man möglichst nicht tun sollte. Ich bin wie die typische Frau in meinen Beruf gestolpert. Ich habe nie eine systematische Planung gemacht. Immer nach dem Motto, ich möchte jetzt das tun, was mir am meisten Spass macht und was ich für am wichtigsten halte. Aber vielleicht steckt da doch eine kleine Empfehlung drin: Ich glaube, wenn man authentisch ist, dann ist man meistens auch gut und kann andere überzeugen.

Sie kamen im vergangenen Jahr mit einer Anna-Fischer-Dückelmann-Gastprofessur an die Uni Zürich und beraten die medizinische Fakultät seitdem in gendermedizinischen Fragen. Wie ist die Resonanz?
Es gibt ein grosses Interesse und eine breite Unterstützung für das Thema. Ich habe an sehr vielen Instituten Vorträge gehalten und auf die genderspezifischen Aspekte in der Medizin hingewiesen. Mittlerweile wollen mehr als 15 grosse Fächer diese Aspekte in die Lehre einf liessen lassen, darunter so unterschiedliche Bereiche wie Augenheilkunde, Zahnmedizin, Neurologie, Kardiologie, internistische Intensivmedizin, Labormedizin, Psychologie, Kinderheilkunde, Immunologie, Rheumatologie, Dermatologie und Orthopädie.

Wie wird es in Zürich nun weitergehen?
Die Gendermedizin soll an der Uni Zürich und auch an der Eidgenössischen Technischen Hochschule stärker implementiert und auch strukturell organisiert werden. In den nächsten beiden Jahren soll ein Institut für Gendermedizin entstehen, das einen klinischen Schwerpunkt hat. Das Ziel: In der Forschungseinrichtung erworbenes Wissen soll direkt angewendet wer-den. Wir haben gemeinsam mit den Universitäten Bern und Lausanne einen Postgraduiertenstudiengang geplant, der einen kompletten Überblick über die Gendermedizin gibt – mit soziokulturellen Anteilen, mit dem Stand der Forschung, aber auch mit starkem Bezug zu den Krankheitsbildern. Das Certificate of Advanced Studies for Gendermedicine sollte eigentlich im Mai 2020 an den Start gehen, wurde nun aber wegen Corona um ein Jahr verschoben.