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Wunschkind und künstliche Befruchtung: Interview mit Barbara Bleisch

Leben

Wunschkind und künstliche Befruchtung: Interview mit Barbara Bleisch

  • Interview: Barbara Achermann

Bald stimmen wir darüber ab, ob künstlich gezeugte Embryonen auf Krankheiten getestet werden dürfen. Doch die Fortpflanzungsmedizin wirft viele weitere ethische Fragen auf. Ein Gespräch mit Philosophin Barbara Bleisch.

annabelle: Barbara Bleisch, rund fünf Millionen Menschen weltweit wurden bisher in vitro, also im Reagenzglas gezeugt. Man nennt sie Wunschkinder. Was weiss man über diese Kinder?
Barbara Bleisch: Viele dieser Kinder sind noch nicht erwachsen. Einige sind es. In aller Regel geht die Forschung davon aus, dass durch In-vitro-Fertilisation (IVF) gezeugte Kinder ganz normal und gesund sind. Es gibt aber vereinzelte Langzeitstudien, welche die Frage aufkommen lassen, ob bei ihnen möglicherweise mehr genetische Störungen oder Herz-Kreislauf-Probleme auftauchen könnten. Viele dieser Studien bedürfen aber noch der weiteren Überprüfung.

Wie steht es um die Psyche der Wunschkinder? Es gibt Psychologen, die sagen, Eltern stellten tendenziell höhere Erwartungen an sie. In den USA nennt man dies das Precious Baby Syndrom.
Ich halte nicht viel von solchen Zuschreibungen. Das Precious Baby Syndrom hat vor allem damit zu tun, dass viele Eltern nur noch ein Kind haben. Und dass Eltern, die sich eine künstliche Befruchtung leisten können, vermögend sind. Das kann dazu führen – muss aber nicht –, dass zu viel Aufmerksamkeit auf dem Kind liegt und man zu hohe Erwartungen an es stellt.

Nicht jeder kann sich ein Wunschkind leisten. Meist braucht es bei einer IVF mehr als einen Versuch, man muss gut und gern mit 30 000 Franken rechnen. Die Krankenkasse bezahlt in der Schweiz nicht. Müsste sie bezahlen?
Tatsächlich gibt es hier eine soziale Diskriminierung. Allerdings benötigen viele Paare heute eine IVF, weil sie lange mit der Erfüllung ihres Kinderwunschs warten. Es wird zuweilen argumentiert, diese Paare trügen eine Mitverantwortung für ihre Unfruchtbarkeit und sollten deshalb auch die Kosten selber übernehmen. Eine solche Argumentation finde ich zynisch.

Weshalb?
Einerseits ist generell strittig, was Eigenverantwortung im Gesundheitswesen heisst. Andererseits macht es unsere Gesellschaft den Frauen nach wie vor schwer, mit Kindern eine berufliche Laufbahn anzupeilen.

Momentan ist es in der Schweiz verboten, die im Reagenzglas befruchteten Eizellen auf Krankheiten hin zu untersuchen. Am 14. Juni stimmen wir darüber ab, ob das Gesetz gelockert und die Präimplantationsdiagnostik (PID) erlaubt werden soll. Die Nationale Ethikkommission empfiehlt ein Ja. Können Sie das nachvollziehen?
Ja, denn in der momentanen Gesetzgebung besteht ein Widerspruch. Dieser führt zur sogenannten Schwangerschaft auf Probe: also dazu, dass Kinder aufgrund von Krankheiten abgetrieben werden, die man bereits im Reagenzglas hätte feststellen können. Mit der Lockerung des Gesetzes geht man auch auf das Bedürfnis von Eltern ein, die Träger von schweren Erbkrankheiten sind und sich ein gesundes Kind wünschen.

Deutschland hat bereits vor Jahren über die Einführung der PID debattiert. Damals sagte der Philosoph Jürgen Habermas in einem Interview, er befürchte, dass uns die PID auf «falsche eugenische Gedanken bringt».
Man muss diesen Einwand von Habermas ernst nehmen. Man spricht in der Philosophie zuweilen von einer liberalen Eugenik, die im Gang sei: Paaren ist es heute im Rahmen der Fristenlösung erlaubt, sich gegen ein Kind zu entscheiden, weil es behindert ist. Habermas befürchtet, dass dies Ausdruck eines Werturteils über lebenswertes Leben sei und dass dies dazu führe, dass unsere Gesellschaft behindertes Leben generell abwerte. Ich glaube aber, dass Paare, die sich gegen ein behindertes Kind entscheiden, viel eher die Frage beschäftigt, ob sie in der Lage sind, es grosszuziehen.

Dammbruch ist ein wichtiges Stichwort der PID-Gegner. Lockert man das Gesetz ein wenig, dann bricht der Damm, dann ist bald schon alles erlaubt.
Es gibt dafür auch das Bild der schiefen Ebene. Stellen wir uns vor, wir können nicht mehr bremsen und rollen auf einen moralisch verwerflichen Zustand zu. Die Frage lautet: Können wir wirklich nicht mehr bremsen? Und: Ist der Endzustand tatsächlich verwerflich? Im Moment habe ich das Gefühl, dass genügend Bremsklötze im Weg liegen. Man legt ja klare und strenge Kriterien für die PID fest. Verwerflich wäre, wenn wir Eltern unter Druck setzen würden, ein behindertes Kind abzutreiben. Aber davon sind wir weit entfernt.

Trotzdem gibt es Gesellschaften, die uns sehr nahe sind, wie etwa die USA, die kaum Bremsklötze haben. In einigen Bundesstaaten ist sogar das Social Sexing erlaubt. Das heisst, man darf bei der künstlichen Befruchtung das Geschlecht des Kindes wünschen. Ist das nicht unmoralisch?
Wir sollten von geltendem Recht nicht auf die Moral einer Gesellschaft schliessen. Viele liberale Staaten halten wenig davon, gewisse Praktiken per Gesetz zu verbieten, tolerieren aber rigide Moralvorstellungen, die etwa in der Kirche gepredigt werden. Abtreibungsgegner haben in den USA zum Beispiel eine stärkere Stimme als in der Schweiz, trotzdem ist die Reproduktionsmedizin liberaler geregelt. Wir müssen uns deshalb die Frage stellen: Ist ein rechtliches Verbot immer das richtige Mittel, um das moralisch Wünschbare zu befördern?

Trotzdem, noch einmal: Ist das Social Sexing unethisch?
Natürlich ist es problembehaftet, gerade in Ländern wie Indien, wo sich Eltern die Mitgift für ihre Töchter nicht leisten können und deshalb weibliche Embryonen aussortieren. Das Problem ist aber nicht das Social Sexing, sondern die Mitgiftpolitik. Generell halte ich Social Sexing für kein grosses ethisches Problem. Schliesslich ist es ja auch kein Massenphänomen. Denn dem Social Sexing geht eine künstliche Befruchtung voraus. Die IVF ist kein Standardverfahren, um Kinder zu zeugen.

Braucht es denn überhaupt Regeln in der Fortpflanzungsmedizin, oder ist die Familienplanung nicht einzig und allein Sache der Eltern und geht sonst niemanden etwas an?
Wir befinden uns an einer Schwelle, an der wir die reproduktive Autonomie neu verhandeln müssen. Bis anhin sind wir mit der Fristenlösung davon ausgegangen, dass eine Frau bis zur zwölften Schwangerschaftswoche straffrei abtreiben darf. Es war ihr bis zu diesem Zeitpunkt aber gar nicht möglich herauszufinden, welches Geschlecht das Kind hat oder ob es behindert ist. Mit den neuartigen sogenannten nicht invasiven Bluttests haben wir eine neue Ausgangslage: Wir haben bereits vor der zwölften Woche die Möglichkeit, Behinderungen wie eine Trisomie festzustellen. Wenn Eltern dank den pränatalen Bluttests in Zukunft sehr viel mehr Informationen über das Ungeborene erlangen können, könnten sie künftig vielleicht aufgrund des unerwünschten Geschlechts abtreiben – oder der falschen Augenfarbe oder einer erhöhten Prädisposition für eine homosexuelle Orientierung. Einige fordern deshalb eine Einschränkung der Eigenschaften, die man untersuchen darf. Damit entsteht aber ein Widerspruch zur reproduktiven Autonomie der Frau, die man mit der Fristenlösung schützen wollte.

Auch in Ihrer aktuellen Forschungsarbeit beschäftigen Sie sich mit vorgeburtlichen Tests und insbesondere mit der Frage eines Rechts auf Nichtwissen.
Diese Fragen stellen sich aktuell auch in der Politik. In der Schweiz steht eine Revision des Gesetzes über genetische Untersuchungen beim Menschen an. Das ist auch notwendig, denn dank der wachsenden Möglichkeiten sind für uns alle, aber eben auch für angehende Eltern immer mehr Daten verfügbar. Wie gehen wir mit all dem Wissen um? Sollen Eltern wissen dürfen, dass ihr Kind mit einer grossen Wahrscheinlichkeit mit vierzig Jahren an Brustkrebs erkrankt? Muss man das Kind schützen? Hat es nicht ein Recht darauf, um seine erhöhten Risiken nicht zu wissen? Sollten wir entsprechend sagen, solche Dinge dürfen erst gar nicht getestet werden?

Die Studie ist erst im Juni abgeschlossen. Noch dürfen Sie keine Empfehlungen abgeben. Aber in einer anderen fortpflanzungsmedizinischen Debatte haben Sie Stellung bezogen. Eizellspenden sind in den USA und in mehreren europäischen Ländern legal, in der Schweiz aber illegal. Sie stellen dieses Verbot infrage.
Weshalb Samenzellen anders behandelt werden sollten als Eizellen, leuchtet mir nicht ein.

Die Entnahme von Sperma ist viel einfacher und nicht mit gesundheitlichen Risiken verbunden.
Das ist natürlich richtig. Deshalb muss unter allen Umständen verhindert werden, dass Eizellspenderinnen ausgebeutet werden, dass ihnen Preise bezahlt werden, die nicht das aufwiegen, was sie selber an Kosten und Risiken auf sich nehmen. Ich glaube aber, der eigentliche Grund, weshalb die Eizellspende in der Schweiz verboten ist, ist ein anderer: Man will am uralten Rechtsgrundsatz «mater semper certa est» festhalten – an der Idee, dass die Mutter immer «sicher» ist, nämlich diejenige Frau, die das Kind geboren hat. Ich glaube aber, davon müssen wir uns distanzieren. Das ist nicht mehr zeitgemäss.

Sollte man auch die Leihmutterschaft in der Schweiz legalisieren?
Die Leihmutterschaft ist ein Verfahren mit viel Missbrauchspotenzial. An sich sind aber Leihmutterschaftsverhältnisse denkbar, die ethisch unproblematisch wären. Dazu muss eine Reihe von Bedingungen erfüllt sein: Die Leihmutter muss anständig entlöhnt werden. Sie muss stets die volle Verfügungsgewalt über ihren Körper behalten, also selbstbestimmt entscheiden dürfen, welche Untersuchungen an ihrem Körper und dem Fötus in ihr vorgenommen werden. Und sie muss die Möglichkeit haben, den Kontakt zum Kind zu behalten, wenn sie dies wünscht. Wenn alle diese Bedingungen erfüllt sind, steht es uns nicht zu, Leihmütter generell als Opfer und als nicht selbstbestimmt zu taxieren.

Man kann sich schwer vorstellen, dass so eine geteilte Mutterschaft ohne Konflikte vor sich geht. Das Wohl des Kindes steht auf dem Spiel.
Ich bin froh, dass Sie das Kindeswohl einbringen; es wird meist ausser Acht gelassen. Aber es gibt aus den USA viele Geschichten, die zeigen: Geteilte Elternschaft ist zwar anspruchsvoll, aber sie kann gelingen. Ausserdem ist auch das Leben als Patchworkfamilie anspruchsvoll, und auch die traditionelle Kleinfamilie kann es sein. Wir sollten nicht darüber urteilen, welche Familienform die bessere ist. Gute Familien sind aus Kindessicht verlässliche Bezugspersonen, die sich liebevoll um sie kümmern. Das können auch unverheiratete oder homosexuelle Menschen sein.

Oder alleinstehende Rentnerinnen? Momentan ist eine 65-Jährige mit Vierlingen schwanger, die Eizellen wurden ihr gespendet und in der Ukraine eingepflanzt. Auch in der Schweiz leben Frauen, die im Rentenalter Kinder geboren haben.
Ich bin der Meinung, wir sollten eine Alterslimite für künstliche Befruchtung einführen. Und zwar ganz allein im Hinblick auf das Kindeswohl. Mit dem Social Freezing, also dem Einfrieren der eigenen Eizellen, haben auch Schweizerinnen legal die Möglichkeit, erst mit fünfzig oder sechzig Jahren ein Kind zu bekommen. Eine Schwangerschaft in diesem Alter ist mit hohen Risiken für Mutter und Kind verbunden. Auch steht von vornherein fest, dass diese Kinder bereits früh Halbwaisen oder Waisen werden. Das halte ich für egoistisch.

Was halten Sie von der anonymen Samen- oder Eizellspende?
Die Uno-Kinderrechtskonvention gesteht jedem Kind das Recht zu, bei Volljährigkeit seine genetische Abstammung zu kennen. Diese Konvention ist wichtig. Die genetische Abstammung ist Teil der Identität einer Person. Gleichzeitig meine ich, dass wir die genetische Abstammung überbewerten. Das merkt man beispielsweise, wenn man mit dem Kinderwagen unterwegs ist. Die einen blicken in den Wagen und rufen entzückt «Ganz die Mutter!», die anderen sehen nur Ähnlichkeiten mit dem Vater. Wir sind schnell bereit, gewisse Züge jemandem zuzuschreiben.

In der Fortpflanzungsmedizin geht ein neues Schreckgespenst um, das Genome Editing. Mit dieser Technik ist es nun erstmals möglich, das menschliche Erbgut zu verändern. Kritiker befürchten die Manipulation von Embryonen zu massgeschneiderten Menschen. Befürworter hoffen auf das Ende von Krankheiten wie Krebs oder Alzheimer. Was ist Ihre Haltung dazu?
Zunächst möchte ich festhalten, dass es hier um eine andere Diskussion geht als bei der Abstimmung vom 14. Juni. Bei der PID geht es um die Auswahl von Eizellen, die bestimmte Krankheiten nicht aufweisen. Beim Genome Editing hingegen geht es auch um Eingriffe in die Keimbahn eines Menschen, also darum, seine Gene zu verändern. Es gibt Philosophen, die glauben, Eltern hätten die Pflicht, ihre Kinder auch genetisch zu verbessern. Andere ermahnen uns, wir sollten Kinder als gegeben annehmen und ihrem Wesen mit Demut begegnen. Diese Haltung der Demut halte ich tatsächlich für sehr wichtig.

Wissenschafter sagen, Genome Editing sei so einfach wie Brötchenbacken. Das heisst, jeder, der sich mit Genetik auskennt, kann nun am Erbgut eines Embryos herumbasteln. Novartis baut die Forschung im Genome Editing bereits aus, doch die Philosophen schweigen.
Ich glaube nicht, dass sie schweigen. Die Ereignisse in der Genmanipulation überstürzen sich. Die Philosophie tut gut daran, erst einmal abzuschätzen, was aus den Neuerungen tatsächlich folgt. Praktisch alle Eigenschaften, die erstrebenswert erscheinen, wie etwa Intelligenz oder Schönheit, haben keine einfachen manipulierbaren genetischen Grundlagen, sondern beruhen auf einem höchst komplexen Zusammenspiel von genetischen Faktoren und äusseren Einflüssen, von dem Genetiker erst ansatzweise Kenntnis haben. Selbst eine Technik, die so einfach ist wie Brötchenbacken, kann deshalb nicht zu einem Durchbruch führen. Aber natürlich sind das Fragen, die wir im Blick behalten müssen.

Worüber stimmen wir ab?

Es geht darum, bei der künstlichen Befruchtung ein gesetzliches Verbot aufzuheben. In der Schweiz ist die sogenannte Präimplantationsdiagnostik (PID) verboten. Am 14. Juni stimmen wir über eine Verfassungsänderung ab, welche zulassen soll, dass man Embryonen auf Erbkrankheiten hin untersucht. Ziel der PID ist die Auswahl eines gesunden, kräftigen Embryos. Für die Reifung von Embryonen sollen die Bestimmungen ebenfalls gelockert werden. Heute dürfen nur maximal drei Embryonen künstlich erzeugt werden, neu sollen es zwölf sein, und man dürfte bis zum fünften Tag warten, bis man sie in die Gebärmutter einpflanzt. Es bleibt aber verboten, Embryonen aufgrund des Geschlechts oder als Retterbaby für kranke Geschwister auszuwählen.

Pro
Die Argumente der Befürworter:
— Die Erfolgschancen der künstlichen Befruchtung werden erhöht, und es gibt weniger Mehrlingsschwangerschaften. Denn es kann nur ein gesunder Embryo pro Behandlung ausgewählt und eingesetzt werden.
— Träger schwerer Erbkrankheiten haben bessere Chancen auf gesunde Kinder.
— Embryonen im Reagenzglas sind heute besser geschützt als Föten im Mutterleib. Das führt dazu, dass Föten abgetrieben werden, deren Krankheiten man im Reagenzglas hätte feststellen können.

Contra
Die Argumente der Gegner:
— Die Verfassungsänderung ist ein erster Schritt hin zur schrankenlosen Reproduktionsmedizin.
— Die Präimplantationsdiagnostik führt zu einer Diskriminierung von Menschen mit Behinderung, indem sie als unerwünschte und vermeidbare Risiken betrachtet werden.
— Die geplante Aufhebung des Einfrierverbots für Embryonen führt zu Tausenden überzähligen Embryonen, die einem ungewissen Schicksal überlassen werden.

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