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«Niemals würde ich eine Figur spielen, die die Frau zum Objekt degradiert»

Popkultur

«Niemals würde ich eine Figur spielen, die die Frau zum Objekt degradiert»

Erst glänzte Vanessa Kirby als Prinzessin Margaret in «The Crown». Jetzt brilliert sie im erschütternden Netflix-Drama «Pieces of a Woman» über eine Hausgeburt mit tragischem Ausgang. Oscarreif!

Es war ein Moment für die Ewigkeit: Cate Blanchett, Jurypräsidentin des Filmfestivals Venedig im September, trat auf die Bühne der Sala Grande und kündigte den Preis für die beste weibliche Hauptrolle an. «Es gab dieses Jahr viele herausragende Performances», sagte Blanchett, «aber es gab eine, die wir einfach auszeichnen mussten: die von Vanessa Kirby.» Unter Applaus und scheinbar ganz cool stand die blonde, schlanke Frau auf – im schwarzen asymmetrischen Armani-Kleid wirkte sie zeitlos schön wie eine hellenische Statue – und stieg unter Fanfarenklängen auf die Bühne.

Dort nahm sie die Coppa Volpi entgegen, die Trophäe für die beste schauspielerische Leistung, zog mit der noch freien Hand ihre schwarze Stoffmaske vom Mund, entblösste knallrote Lippen und warf die Maske mit Schwung in den gerade verliehenen Pokal. Cate Blanchett lachte und klatschte. Es war das Jahr von Corona, und das war der Moment, ihr Moment. Der Augenblick, in dem Vanessa Kirby ankam, ganz oben, auf dem Zenit.

Eine Hausgeburt, die tragisch endet

Dass das Festival in Venedig überhaupt stattfinden konnte, als erstes und einziges nach dem Lockdown im Frühling, war ein kleines Wunder im Jahr der Pandemie. Das andere Wunder war Kirby, die hier gleich mit zwei Filmen vertreten war, allem voran mit dem unvergleichlichen «Pieces of a Woman». In Kornél Mundruczós Drama geht es um eine Hausgeburt, die tragisch endet, um die verwaiste Mutter, die an ihrer Trauer geräuschlos zerbricht, um eine Ehe, die verstummt.

Zuallererst aber schreit und presst Vanessa Kirby die herzzerreissende Geburtsszene förmlich aus sich heraus, in einem einzigen Take, 28 Minuten am Stück. «Es ist ein Auftritt, der diese Schauspielerin auf einen Schlag unsterblich macht», schrieb ein Kritiker. Eine erstaunliche, einzigartige, aufwühlende Performance, der klare Favorit für die Coppa Volpi, noch bevor Kirby auch in «The World to Come» glänzte, einer Romanze über eine lesbische Affäre im 19. Jahrhundert, als extrovertierte, rotmähnige Verliebte, als Frau voller Feuer.

«Dieser Film soll ein Tabu brechen»

Dabei war «Pieces of a Woman» ihre erste Hauptrolle. In ihrer Rede dankte die 32-Jährige ihrem «furchtlosen Regisseur» Kornél Mundruczó, dessen Partnerin selbst einen Kindstod erlebt hat. «Ich widme diesen Preis allen Müttern, die ihre Babies bei der Geburt verloren haben, und den Babies, deren Leben zu Ende ging, bevor es begann», sagte sie sichtlich bewegt, «dieser Film soll ein Tabu brechen.» Und dann folgte noch so ein Satz für die Ewigkeit: «Wenn andere unsere Geschichten erzählen, dann zerspringt das Glas unserer Einsamkeit. Wir sind nicht allein, auch wenn wir uns einsam fühlen. Wenn wir uns in unserem Schmerz verbinden, heilen wir.»

Man erstickt beinahe an der Dichte der dargestellten Emotionen

Angst vor Pathos hat sie nicht. Und Schmerz, das ist wohl ihre Spezialität. Vanessa Kirby war so gut wie unbekannt, bevor sie als Prinzessin Margaret im Netflix-Hit «The Crown» zur Sensation wurde. Sie spielte alle anderen Darsteller an die Wand (sorry, liebe Claire Foy!): Ihre Margaret ist verletzlich, störrisch, begierig, narzisstisch, fleht um Liebe, verführt, trotzt, betört, triumphiert, verliert – und ist immer atemberaubend. Man erstickt beinahe an der Dichte der dargestellten Emotionen.

Peter Morgan, der legendäre Mastermind hinter «The Crown», warf alle Pläne um, nachdem er die fast Unbekannte gecastet hatte. Kirby hatte ihn elektrisiert. «Man merkt sofort, wenn man sich in der Gesellschaft eines seltenen und besonderen Talents befindet», schwärmte er einmal. 2006 hatte er schon Helen Mirren in «The Queen» zu einem Oscar verholfen. In Kirby erkannte er sofort die Verletzlichkeit, nach der er für Margaret gesucht hatte.

Mit 13 sah sie auf der Bühne Tschechows «Der Kirschgarten»

Entflammt für ihren Beruf hat Vanessa Kirby das Theater. Mit 13 sah sie auf der Bühne Tschechows «Der Kirschgarten». «Ich war ein gelangweilter Teenie, doch den beiden Schauspielern habe ich jedes Wort geglaubt. Ich war so tief bewegt, dass ich plötzlich wusste, was ich vom Leben wollte: Schauspielerin zu werden.» Der Vater, ein Arzt, und die Mutter, eine Redaktorin beim Landliebe-Magazin «Country Living», waren erstaunt. Zahllose Schulaufführungen, ein Gap Year mit Reisen und ein Englischstudium später ergatterte sie 2009 einen Platz an der Londoner Academy of Dramatic Arts.

Fast gleichzeitig kam ein Angebot des Theaterregisseurs David Thacker, sie für drei Stücke zu verpflichten. Kirby sagte den begehrten Platz an der Schauspielschule ab. Es sei die schwierigste, aber beste Entscheidung ihres Lebens gewesen, sagt sie, «Thacker hat mir alles übers Schauspielern beigebracht.» Mit Stücken wie «Endstation Sehnsucht», «Die Gespenster» oder Shakespeares «Wie ihr wollt» etablierte Kirby sich rasant als eines der hottesten Bühnentalente des Vereinigten Königreichs. Der Independent jubelte: «Wenn man je einen Star sah, dann sie!»

«Wenn ich etwas fühle, dann von ganzem Herzen»

Dann kam ihre Margaret. Und Kirby war umwerfend als dünnhäutige, nach Liebe und Freiheit dürstende Prinzessin. «Ich habe besonders Margarets Leidenschaft geliebt, vielleicht, weil ich selbst so leidenschaftlich bin», erzählt die Schauspielerin im Interview. «Wenn ich etwas fühle, dann von ganzem Herzen, zu hundert Prozent. Ich hatte jedes Buch über Margaret gelesen, ahmte ihre Sprache nach, hörte sogar ihre Musik, selbst wenn es sich um ein schottisches Dudelsack-Stück handelte – sehr zum Bedauern meiner Mitbewohnerinnen.»

Ihre Energiequelle sei ihre WG

Wir sitzen in einem lindgrünen Eckzimmer des ehrwürdigen Hotels Excelsior am Lido, der Strandinsel vor Venedig, mit desinfizierten Händen und Gesichtsmaske. Gross ist sie, und auch in einem schlichten «kleinen Schwarzen» gertenschlank, die glatten Haare – nicht margarethaft dunkel, sondern weissblond – trägt sie offen. Ihre Haut ist milchweiss. Und ihre riesigen Augen, irgendwo zwischen Veilchenblau und Aquamarin, wirken hypnotisch, magnetisierend, luzid. Ihre Energiequelle nach jedem schauspielerischen Kraftakt sei ihre WG, verrät Kirby. Sie wohnt mit ihrer Schwester Juliet, einer Theateragentin, und ihrer besten Freundin Anna, die in der Filmbranche arbeitet, zusammen. «Die beiden sind ganz besondere Menschen für mich», sagt sie, «wir sind gemeinsam aufgewachsen. Sie geben mir Bodenhaftung und Flügel zugleich. Nach einem heftigen Tag ist es das Wichtigste, am Abend zu lachen.»

Tom Cruise brachte ihr ein neues Level von Disziplin bei

Ihre Mitbewohnerinnen waren auch Zeuge, als eines Tages Tom Cruise anrief. Der engagierte sie für seinen sechsten «Mission: Impossible»-Film als glamouröse «White Widow», mittlerweile hat er sie auch für Nummer sieben und acht verpflichtet. Cruise habe ihr ein neues Level von Disziplin beigebracht, sagt sie. «Man kann viel von ihm lernen, er ist der King der Stunts – und ich war in der Schule immer die Schlechteste im Sport.»

Sie drehte gerade in L. A., als sie von Kornél Mundruczós Drehbuch für «Pieces of a Woman» hörte. 24 Stunden später landete sie in Budapest und traf sich mit dem ungarischen Regisseur. Kirbys Entschlossenheit beeindruckte ihn. «Als Schauspielerin trägt man die Verantwortung, Figuren so zu spielen, dass sie völlig ehrlich und authentisch wirken», sagt sie. «Deshalb war mir wichtig, dass die Geburt nicht elegant aussieht, sondern so echt und chaotisch, schrecklich und wunderschön wie eine Geburt nun mal ist. Eitelkeiten haben da einfach keinen Platz.»

«Frauen sind doch nicht auf der Welt, um es Männern recht zu machen»

Kirbys Anspruch an ihre Figuren ist hoch. «Niemals würde ich eine Figur spielen, die die Frau zum Objekt degradiert», sagt sie. «Wenn ein Mann die Rolle so schreibt, wie er Frauen gern hätte, würde ich den Part nicht übernehmen. Frauen sind doch nicht auf der Welt, um es Männern recht zu machen. Ich spiele in dem Moment ja nicht mich – ich repräsentiere Frauen im Allgemeinen. Und Frauen sind auf Augenhöhe mit Männern.»

Jetzt, nach diesem verrückten Jahr, nach der Coppa Volpi in Venedig und einem BAFTA in Grossbritannien, winkt auch noch der Oscar. Seit dem Triumph in Venedig gilt Vanessa Kirby als klare Favoritin für die berühmteste Trophäe der Kino-Industrie. Dabei sei sie auch so schon ganz zufrieden, sagt sie. «Ich liebe meinen Beruf. Geschichten über Frauen zu erzählen, finde ich wichtiger denn je, weil sie in der Vergangenheit nicht genug Raum bekommen haben.»

Beim Abschied erzählt sie uns noch eine letzte Anekdote zu «Pieces of a Woman»: «Vor dem Dreh traf ich mich mit einer Hebamme. Sie zeigte mir einen Kreissaal, wo wir das Drehbuch durchgingen. Plötzlich steckte ein Arzt den Kopf durch die Tür: Nebenan ginge eine Geburt los, ob ich dabei sein wolle. Klar! Der werdenden Mutter war alles egal. Wir unterhielten uns erst, als das Baby da war. ‹Das gibts doch nicht›, sagte sie immer wieder, ‹Prinzessin Margaret war bei der Geburt meines ersten Kindes dabei!›»

Seit 7. Januar 2021 auf Netflix verfügbar: «Pieces of a Woman» mit Vanessa Kirby