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«Frauen ohne Kinder wirken immer noch bedrohlich»

Literatur & Musik

«Frauen ohne Kinder wirken immer noch bedrohlich»

  • Interview: Kerstin Hasse; Foto: Steph Martyniuk

Sheila Heti gilt als eine der grossen intellektuellen Denkerinnen unserer Zeit. Wir haben mit der 42-jährigen Kanadierin über ihren neuen Roman «Mutterschaft», übers Frausein, Mütter und Nicht-Mütter gesprochen. 

annabelle.ch: Sheila Heti, Ihr neues Buch ist semi-fiktional. Wie viel Sheila steckt in «Mutterschaft»?
Sheila Heti: Es ist schwierig, diese Frage zu beantworten. Wenn ich ein Buch schreibe, dann ist das Schreiben eine Art Schauspielerei für mich. Wenn ich mein Thema gewählt habe, werde ich in den Jahren, in denen ich das Buch schreibe, zu einer Schauspielerin, die die Protagonistin darstellt. Mein Charakter im Buch ist eine Mischung aus mir und einer Person, die ich werden muss, um meine Geschichte zu erzählen. Ich muss das so angehen, um die Probleme, die sich meiner Protagonistin stellen, zu verarbeiten. Ich glaube, wenn ich dieses Buch nicht geschrieben hätte, hätte ich mich selbst nicht mit der Frage gequält, ob ich Kinder haben will oder nicht. Aber um das Buch zu schreiben, musste ich diese Seiten von mir hervorbringen. Ich musste mir diese Fragen stellen. Darum ist es schwierig zu sagen, was fiktional ist und was real, denn das ganze Buch ist eine Art Performance in meinem eigenen Leben.

Als Frau kurz vor 30 kann ich die Dringlichkeit dieser Frage gut nachvollziehen. Die Themen, die Sie behandeln, sind auch in meinem Umfeld omnipräsent.
Es sind Themen, die viele bewegen und deshalb wollte ich auch darüber schreiben. Die Frage, ob ich Kinder will, hat mit meinem Leben zu tun, aber auch mit dem Leben von so vielen Frauen und Männern, die sich darüber Gedanken machen – wenn vielleicht auch auf unterschiedliche Weise.

Worin sehen Sie den Unterschied, wie Frau und Mann darüber nachdenken, ob sie Kinder wollen?
Das ist eine schwierige Frage, weil ich Männer und Frauen nicht generalisieren möchte. Aber ich denke, es gibt einen Unterschied. Wenn du als Mann kein Kind hast, dann sagt das nichts über deine Maskulinität aus, während es bei Frauen nach wie vor so ist, dass ihre Weiblichkeit infrage gestellt wird, wenn sie sich gegen Kinder entscheiden. Für einen Mann ändert diese Entscheidung nichts an der Art und Weise, wie die Gesellschaft ihn betrachtet. Für Frauen ist es eine Frage, die zeitlich mehr drängt. Männer können auch mit 60 noch Kinder bekommen. Frauen können dann auch noch ein Kind adoptieren, aber sie können ab einem bestimmten Punkt kein eigenes biologisches Kind mehr haben. Frauen sind auch ein wenig realistischer, wenn es darum geht einzuschätzen, was es an Aufwand, Effort und auch Opfern braucht, um ein Kind zu bekommen.

Sie schreiben in Ihrem Buch, Frauen ohne Kinder hätten etwas Bedrohliches. Die Gesellschaft, so schreiben Sie ein wenig überspitzt, wisse nicht, was eine Frau ohne Kinder anstellen könnte mit ihrem Leben. Warum hat die Gesellschaft Ihrer Meinung nach Angst vor Frauen ohne Kinder?
Es hat immer noch mit der Idee zu tun, dass Frauen ohne Kinder in einer gewissen Weise nicht richtig weiblich sind. Eine Frau mit einem Kind, hat eine moralische Verantwortung und auch eine häusliche Verantwortung – davon gehen wir aus, wobei ich denke, dass das nicht unbedingt stimmen muss. Eine Frau ohne Kinder hingegen ist schwieriger einzuschätzen: Was sind ihre Werte? Was ist ihre Moral? Das lässt sich nicht so leicht beantworten. Und: Es ist einfach etwas Neues, dass Frauen diese Entscheidung für sich überhaupt treffen dürfen. Mythologisch gesehen war eine Frau ohne Kinder lange entweder eine Hexe oder eine Nonne – oder die böse Stiefmutter im Märchen.

Sie beschreiben auch, dass es eine Art Krieg zwischen Müttern und Nicht-Müttern gibt. Warum entsteht dieser Graben zwischen Frauen?
Ich weiss es nicht. Jede Person ist unsicher, wenn es um das eigene Leben geht. Man fragt sich, ob man die richtigen Entscheidungen getroffen hat, ob man etwas verpasst, ob andere Leute glücklicher sind. Es ist einfach, sich selbst die Bestätigung zu geben, dass man die Dinge richtig gemacht hat, indem man über andere sagt, sie hätten falsch gehandelt. Vielleicht sind einige Leute einfach unglücklich mit ihren eigenen Entscheidungen und versuchen, das zu überspielen. Das ist viel einfacher, als zuzugeben, dass wir uns alle irgendwie durchkämpfen im Leben und manchmal auch gemischte Gefühle gegenüber unseren eigenen Entscheidungen haben. Und da sind wir ja alle in der gleichen Position – ob wir Kinder haben oder nicht.

Aber wie kann man diesen Graben überwinden?
Eine Lösung wäre es, dass wir einfach alle ein wenig ehrlicher miteinander sind. Leute sollten damit aufhören, so sehr einem Bild entsprechen zu wollen. Für mich war es ausserdem wichtig, trotz meiner Entscheidung keine Bitterkeit zu verspüren – ob mit Kindern oder ohne. Ich wollte eine ehrliche und bewusste Entscheidung für mich selber treffen, und ich wollte eine authentische Beziehung zu dem Leben haben, das ich für mich ausgewählt habe. Und ein Leben wird auch nicht nur geformt durch meine eigenen Entscheidungen, sondern durch andere Umstände, die mein Leben zu dem machen, was es ist. Es gibt so viel mehr, das wir selber nicht beeinflussen können.

Ihre Protagonistin versucht, Münzen zu werfen, sie spricht mit Wahrsagerinnen, und sie analysiert all ihre Gedanken ausgiebig, um Antworten auf ihre Fragen zu bekommen. Wenn es ums Kinderkriegen geht, reden viele Frauen von einem Bauchgefühl, auf das sie hörten. Ist Ihre Protagonistin zu verkopft, um auf dieses Bauchgefühl zu hören?
Zum Teil sicher, ja. Aber gleichzeitig wechselt ihr Bauchgefühl auch stark. Nachts träumt sie davon Kinder zu haben, und sie wacht auf und ist glücklich. Einen Moment später löst die Vorstellung, Mutter zu sein, ein Gefühl des Horrors bei ihr aus. Sie vertraut ihrem Bauchgefühl nicht wirklich. Sie weiss nicht, ob sie wirklich Kinder will, oder ob es eben ihr Körper ist, der ihr diese Signale sendet. Sie stellt sich also die Frage: Bin das wirklich ich? Bin ich mein Körper?

Oder ist mein Bauchgefühl einfach meine hormonelle Uhr, die tickt?
Wenn man sich vorstellt, dass der Bauch ein Teil des Körpers ist, müssen wir uns fragen: Wie sehr wollen wir in solchen Entscheidungen auf unseren Körper hören? Dieser Körper will manchmal auch Sex mit Leuten, die man eigentlich kaum anschauen würde. (lacht) Der Körper ist nicht immer der vertrauensvollste Ratgeber. Ausserdem: Selbst wenn meine Protagonistin das Bauchgefühl hätte, dass sie keine Kinder will, lässt die Gesellschaft sie diesen Instinkt infrage stellen. Dann heisst es: Du wirst es später bereuen, wenn du keine Kinder hast! Oder: Du wirst erst wissen, wie toll es ist, wenn dein erstes Kind da ist! Das ehrliche Gefühl zu haben, dass man keine Kinder will, wird einem abgesprochen.

Welchen Ratschlag würden Sie einer Frau Anfang 30 geben, die vor all diesen Fragen steht?
Ich würde ihr dazu raten, die Frage ganz direkt anzuschauen. Mein erster Instinkt war es, mich nicht mit dem Thema Kinder auseinanderzusetzen, weil ich Angst hatte. Ich fand, es sei eine Zeitverschwendung, weiter darüber nachzudenken. Selbst als ich darüber schrieb, dachte ein Teil von mir: Es gibt doch wichtigere Dinge! Du wirst eh keine Antwort finden! Vieles wehrte sich in mir. Ich wollte, dass Mutter Natur übernimmt oder irgendein Unfall passiert, aber ich selbst wollte keine Verantwortung übernehmen. Aber dass ich dieses Buch geschrieben und mir diese Gedanken gemacht habe, ermöglicht es mir nun, auf sicherem Boden in meine Zukunft zu gehen.

Also keine Angst haben und den Dingen in die Augen schauen.
Genau! Mir haben Frauen auf meiner Tour gesagt, sie trauen sich nicht, mein Buch zu lesen, weil sie Angst vor den Fragen darin haben. Ich kann nichts anderes raten als: Lest es, setzt euch genau mit diesen Fragen auseinander!

Sie haben einen sehr beruhigenden Gedanken in Ihrem Buch eingebaut: Vielleicht müssen wir alle gar nicht Mutter werden, weil es da draussen ja schon prima Mütter gibt. Die Mutterschaft ist schon in guten Händen, schreiben Sie.
Ja, ich sehe Mutterschaft heute weniger als Verpflichtung – zumindest für die Frauen, die die Wahl haben – und mehr als eine Berufung. Wir können nicht alles erleben auf dieser Welt, und man ist auch nicht dazu berufen, alles auf dieser Welt zu machen. Ich baue nicht auch noch Häuser oder regiere ein Land. Heute gibt es genug Menschen, wir müssen eigentlich nicht noch mehr davon machen. Es sollten also die Leute Kinder bekommen, die das als ihre Berufung sehen, die in ihrer Seele spüren, dass sie das wirklich wollen…

Sie stellen ausserdem die Frage in den Raum, ob Kunst zu erschaffen nicht auch eine Form der Fortpflanzung ist.
Menschen haben das Bedürfnis, die Welt zu verändern, Spuren zu hinterlassen, etwas zu bewegen. Es gibt so viele Möglichkeiten, das zu tun. Eine davon ist Kinder zu kriegen. Man kann aber auch unterrichten, als Architekt arbeiten oder als Künstlerin etwas erschaffen… Nichts davon ist mehr oder weniger wert.

Sheila Heti liest am 20. März im Kaufleuten Zürich aus ihrem Buch. 

«Mutterschaft»

In ihrem semi-autobiografischen Roman stellt sich Sheila Heti all die Fragen, die sich viele Frauen in ihren 30ern stellen: Will ich Kinder? Oder will ich keine? Was heisst es, wenn ich mich dagegen entscheide? Was, wenn ich mich dafür entscheide? In «Mutterschaft» setzt sich die Protagonistin – eine Frau, Mitte 30, die in Toronto mit ihrem Freund lebt – auf philosophischen, moralischen und biologischen Ebenen mit eben diesen Themen auseinander. Mit inneren Monologen ihrer Protagonistin schafft es Heti, diese grossen Fragen nicht nur sich selbst, sondern auch ihren Leserinnen und Lesern zu stellen.

– «Mutterschaft» Rowohlt Verlag, 320 Seiten, ca. 33.90 Franken