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Grimes: Der Popstar, der sich selbst abschafft

Literatur & Musik

Grimes: Der Popstar, der sich selbst abschafft

  • Text: Daniel Gerhardt; Foto Getty Images 

Musikbranche und -presse trauen ihr den grossen Durchbruch zu. Auf ihrem neuen Album spielt Grimes jedoch einen Popstar, der sich selbst abschafft.

Zehn Jahre gibt Claire Boucher der handgemachten Kunst noch. Dann sind die Roboter dran. In einem Interview mit Lana Del Rey hat die kanadische Musikerin im vergangenen Jahr über die Zukunft ihrer Branche philosophiert. Boucher tut das häufiger: Unter dem Künstlernamen Grimes veröffentlicht sie Popsongs, die immer wieder davon handeln, wie menschliches Empfinden und künstliche Intelligenz sich in die Quere kommen, vereinen oder abstossen. Die euphorischsten Lieder von Grimes malen sich Welten aus, in denen Mensch und Maschine eins werden, befreit von allen Konflikten, die sich aus ihrer gegenseitigen Abhängigkeit ergeben. In der Realität sieht Boucher die Sache weniger rosig.

Schon bald, glaubt die 31-Jährige, wird es Computer geben, die menschliche Gefühle nicht nur originalgetreu nachempfinden, sondern auch manipulieren können. Viele schlimme Dinge werden für diese Computer möglich sein – aber auch die Schöpfung von Popmusik, die nie zuvor gekannte Emotionen und Reaktionen in ihren Zuhörern heraufbeschwört. So eindringlich und überwältigend stellt sich Boucher diese künstliche Kunst vor, dass jedes Verlangen nach Menschen mit Instrumenten, Kameras oder Pinseln in kürzester Zeit erlöschen wird. Ob das gut oder schlecht ist, lässt sie in ihren Überlegungen offen.

Einmal mehr erregte Boucher mit diesen Aussagen Aufsehen in derPopszene, auf Social Media und in Lifestylemagazinen. Das Wort der Künstlerin hat in all in diesen Kreisen Gewicht: Sie gilt als Botschafterin einer Popmusik ohne Hierarchien und Scheuklappen. Mariah Carey ist für ihre Songs ebenso bedeutend wie Marilyn Manson, Katy Perry nicht weniger wertvoll als Abba. Zudem bekämpft Boucher das noch immer branchenübliche Vorurteil, dass selbst die besten Sängerinnen letztlich Marionetten ihrer männlichen Produzenten seien. Grimes schreibt, spielt, singt, designt und produziert nahezu alles selbst. Ihre Alben sind Bilderbuchprojekte der selbstbestimmten Popmusik.

Das neuste dieser Alben heisst «Miss Anthropocene». Zum ersten Mal wurde eine Grimes-Platte nicht nur von Popnerds sehnlichst erwartet. Auch Haute Couture und Hochfinanz haben Bouchers Sound und Stil inzwischen für sich entdeckt. Die Künstlerin modelte für Stella McCartney und Chanel, eine äusserst öffentlich geführte Beziehung mit dem Silicon-Valley-Milliardär Elon Musk machte sie zum Gegenstand von Klatschpresse und aufgeheizten Twitterdebatten. Während Boucher und Musk ihr erstes gemeinsames Kind erwarten, fragen sich Fans der ersten Stunde, ob Grimes an der Seite des umstrittenen Auto- und Raumfahrtunternehmers (sowie ehemaligen Trump-Beraters) noch zur Ikone der popmusikalischen Gegenkultur taugt.

«Miss Anthropocene» gibt darauf eine beruhigend beunruhigende Antwort. Es ist ein typisches Grimes-Album, auf dem Computer-Beats und akustische Instrumente gleichberechtigt nebeneinander stehen. Merkwürdige Sounddetails und abrupte Richtungswechsel bestimmen die Songs. Wann immer eine Melodie allzu geradlinig gerät, sich vielleicht sogar ein Hit anbahnt, dreht Boucher ihm vergnügt den Hals um. Ihre Stimme klingt süsslich, ihre Themen sind es nicht. «Miss Anthropocene» führt fort, was Grimes im eingangs erwähnten Interview beschrieben hatte. Es ist ein Album über das Ende der menschlichen Kunst.

Boucher unterläuft damit Erwartungen, die sie selbst geweckt hatte. Musikbranche und -presse warten seit Jahren auf den Durchbruch der Künstlerin, die zwischenzeitlich bei der Managementfirma des Rappers Jay-Z unter Vertrag steht und bereits Songs für Rihanna geschrieben hat. Mit «Miss Anthropocene» schwingt sich Grimes jedoch nicht auf zum kommenden Popstar. Sie gibt vielmehr einen Popstar, der sich selbst abschafft. Immer wieder verkneifen sich ihre Songs den ganz grossen Refrain, immer wieder versagt in ihren Texten die menschliche Sprache. «Miss Anthropocene» ist ein Album voller Lücken und Andeutungen, als wollte Boucher sagen: Perfekte Popsongs braucht von mir niemand zu erwarten. Daran arbeiten schliesslich schon die Computer.

Bis diese die Weltherrschaft übernehmen, bleibt noch ein bisschen Zeit totzuschlagen. Grimes hat die richtige Musik dafür. Es ist gerade die Verweigerung der Perfektion, die «Miss Anthropocene» vom stromlinienförmigen Streaming-Pop der Gegenwart abhebt: die Ungereimtheiten und Systemfehler in den Liedern, ihre mehrdeutigen Botschaften aus dem Nacht- und Liebesleben der Künstlerin sowie das spannungsgeladene Beziehungsdreieck, das sie zwischen Mensch, Natur und Technologie aufmacht. Alben wie dieses sollte man hören. Solang es sie noch gibt.