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Logbuch eines unbarmherzigen Jahres: Das neue Buch von Connie Palmen ist nichts für Feiglinge

Leben

Logbuch eines unbarmherzigen Jahres: Das neue Buch von Connie Palmen ist nichts für Feiglinge

  • Redaktion: Claudia Senn; Fotos: Jussi Puikkonen

Connie Palmens «Logbuch eines unbarmherzigen Jahres» ist ein erschütterndes Dokument der Trauer. Wer den Mut aufbringt, das Buch zu lesen, wird es garantiert nicht mehr vergessen. annabelle besuchte die Bestseller-Autorin in Amsterdam.

«39 Kilo, Kiefersperre, Mund in Fetzen, Rachen in Brand, Magen greint, Darm jammert laut vor Leere, Herz rast, klopft, pumpt wie verrückt.» Connie Palmens Körper ist ein einziges grosses Defizit. Der Geist von ständigem Sehnen erfüllt, dem rasenden Verlangen, ihren verstorbenen Mann zu sehen und zu liebkosen, «seinen prachtvollen Körper, gehüllt in diese seidenweiche, sonnengebräunte Haut». Unbegreiflich erscheint ihr, dass ein Mensch diesen Zustand überlebt, dass er überhaupt zu überleben ist. Als sie glaubt, es nicht länger aushalten zu können, bittet sie ihren Bruder, der über jeden Schritt der vor Trauer halb verrückten Schwester wacht, um die Erlaubnis, sterben zu dürfen. Er verweigert sie ihr. Na gut, sagt sie erschöpft, dann eben nicht. So beginnt Connie Palmens «Logbuch eines unbarmherzigen Jahres», und falls das bisher noch nicht klar geworden sein sollte: Es ist keine Lektüre für Feiglinge. Wer in Büchern die leichte Unterhaltung sucht, sollte jetzt lieber gleich weiterblättern oder sich wieder «Shades of Grey» zuwenden. Jene aber, die den Mut aufbringen, einen Blick in die schreckliche, aber zutiefst menschliche Hölle der Trauer zu riskieren, werden ein Buch entdecken, das sie nie mehr vergessen werden.

Die grosse Liebe, das endgültige Ende

48 Tage nach dem Tod ihres Mannes Hans van Mierlo begann die holländische Schriftstellerin zu schreiben. Erst war es mehr ein Hinkritzeln von Notizen über Liebe und Tod. Sie fing damit an, weil sie wusste, dass sie den Horror der ersten Monate vergessen würde, so wie man Zahnweh vergisst oder die Schmerzen einer Geburt. Das kam für sie nicht infrage, «denn damit macht man einen Toten nur noch toter». Logbuch nannte sie die Aufzeichnungen, weil die Sprache ihr Log sein sollte, das Messinstrument für die Tiefe ihres Kummers. Connie Palmen (57) ist nicht nur in Holland eine grosse Nummer. Hierzulande wurde sie 1999 mit dem Buch «I. M.» bekannt, in dem sie so radikal intim über die Beziehung zu ihrer ersten Liebe Ischa Meijer schrieb, wie man es noch nie zuvor gelesen hatte. Die letzten 36 Seiten handelten davon, wie sie nach seinem plötzlichen Tod durch einen Herzinfarkt beinah zugrunde ging. Es war ein Vorgeschmack auf ihr aktuelles Werk. Nun ist also alles noch einmal passiert: die grosse Liebe, das endgültige Ende.

Der Kennedy der Niederlande und die Bestseller-Autorin

Wir treffen Connie Palmen in ihrem Haus aus dem 17. Jahrhundert an einer Gracht im Zentrum von Amsterdam. Es ist das Haus, in dem sie mit Hans van Mierlo glücklich war, ein wunderschönes, aber unprätentiöses, gemütliches Daheim voller Kunst und Bücher, in dem ständig Freunde vorbeikommen, um bekocht zu werden oder selbst zu kochen. Am liebsten würde man auf der Stelle einziehen. Das Erste, was einem an Connie Palmen auffällt, ist ihre Zierlichkeit. Ihr winziger Körper steckt in bequemen, aber schicken schwarzen Wollklamotten. Dazu trägt sie grobe Boots und ein überdimensionales Gilet aus Kunstfell, wohl gegen die Zugluft im alten Grachtenhaus. Die Haare, die sie sich ständig rauft, stehen nach allen Seiten ab. Manche Leute engagieren einen Stylisten, um so cool auszusehen. Connie Palmen ganz bestimmt nicht. Wer sein trauerndes, allem früheren Glanz beraubtes Ich zum Thema seines Buchs macht, kann kein eitler Mensch sein. Die Spuren, die Leben, Lieben und Leiden in ihrem Gesicht hinterlassen haben, sind schön. Denn sie passen zum ganzen Rest, auch zur warmen, dunklen Stimme, rau durch Alkohol und Zigaretten.

Auf der Kommode neben dem roten Sofa, auf dem wir uns niederlassen, stehen Fotos ihres verstorbenen Mannes. Ein attraktiver älterer Herr mit einem markanten Gesicht, Typ Silberrücken. Hans van Mierlo war nicht irgendwer, sondern einer der beliebtesten Politiker Hollands. In den Sechzigern gründete er eine sozialliberale Partei, er war Aussenminister, stellvertretender Ministerpräsident und Verteidigungsminister. Die Holländer nannten ihn den Kennedy der Niederlande. Ein Freund bezeichnete ihn einmal als einen Tranquilizer von neunzig Kilo («Für mich war das gerade ausreichend», schreibt Connie Palmen). Er selbst sah sich eher als Strassenköter mit Manieren.

Das Wunder der Verliebtheit

Nähergekommen waren sich die beiden bei einem Abendessen in der Küche des Schriftstellers Cees Nooteboom und seiner Frau Simone, die einen Steinwurf entfernt auf der anderen Seite der Gracht wohnen. «In diesem intimen Rahmen sah ich ihn plötzlich anders, nicht mehr als den Staatsmann und Freund berühmter Männer», sagt Connie Palmen. Palmen hatte mal wieder tüchtig dem Wein zugesprochen, sodass Cees Nooteboom seinen Freund Hans van Mierlo schliesslich bat, die Angeheiterte nachhause zu bringen. Doch der schleppte sie lieber in seine Höhle, wo sie gleich für immer blieb.

Noch immer beginnt Connie Palmens Gesicht zu leuchten, wenn sie von diesem Abend erzählt. Es macht ihr sichtlich Spass, das Wunder der ersten Verliebtheit auferstehen zu lassen. Auch jene Interna, die Paare sonst normalerweise für sich behalten, spart sie nicht aus. «Ich möchte provozierend privat sein», sagt sie. «Man ist ein stärkerer Mensch, wenn man keine Geheimnisse hat.» Deshalb sollen die Leute ruhig wissen, dass sie gelegentlich zu viel trinkt oder mit welchen Ritualen sie und ihr Mann sich ihrer Liebe versicherten.

Die Beziehung zu Hans van Mierlo war jene Art von Symbiose, die Aussenstehenden bisweilen auf die Nerven geht, weil die eigene Liebe mit so viel Innigkeit nicht mithalten kann. Selbst wenn einer von beiden kurz aufs Klo ging, begrüssten sie sich bei der Rückkehr im Wohnzimmer, als wären sie stundenlang getrennt gewesen. Fuhr er mit dem Bus an ihrer Arbeitswohnung vorbei, rief er sie an, damit sie ans Fenster trat und sie sich zuwinken konnten. Er nannte sie «mein knurriges Kind» oder «mein Nagetierchen». Als sie 11 Jahre und 11 Tage zusammen waren, heirateten sie. Keiner ahnte, dass ihnen da nur noch vier Monate blieben.

Trauer, wie sie das Leben schreibt

Hans van Mierlo war 24 Jahre älter als Conni Palmen. Hatte sie sich in irgendeiner Form darauf vorbereitet, dass er vor ihr sterben würde? «Das geht nicht», sagt sie. «Da verweigert sich der Geist.» Angst ja, Angst davor habe sie immer gehabt. «Doch das absolute Wegsein, das der Tod bedeutet, ist zu gross, um es sich vorstellen zu können.» Im März 2010, nach einem sechswöchigen Spitalaufenthalt, starb Hans van Mierlo mit 78 Jahren an den Spätfolgen einer Lebertransplantation. Als Nebenwirkung der Medikamente, die er einnehmen musste, um eine Abstossung des Organs zu verhindern, hatte sich ein Krebs gebildet.

Connie Palmen schreibt brillante Romane und Essays. Denken ist ihr Lust und Vergnügen, der Intellekt eine Heimat, in der sie sich auskennt und auch allein glücklich ist. Die Wucht ihres Logbuchs liegt jedoch gerade darin, dass sie ihre Trauer nicht intellektualisiert, sondern so präzise wie möglich zu beschreiben versucht. Darin unterscheidet sich ihr Buch von anderen Trauerbüchern wie etwa «Das Jahr magischen Denkens» von Joan Didion, die der Verzweiflung über den Tod ihres Mannes und ihrer Tochter mit den Werkzeugen des Geists zu entkommen versucht, mit Lesen, mit Ergründen, mit Wissen. Connie Palmen hat erkannt: Aus dem Höllenschlund der Trauer kommt man ohne Fühlen nicht heraus. Warum sollte sie ihren Lesern das ersparen?

Man kann dieses Buch nicht lesen, ohne um seine eigenen Toten zu weinen

Ihren Schmerz beschreibt sie so erbarmungslos direkt, dass man sich unmöglich entziehen kann. Wir sind bei ihr, als sie sich nachts zu ihrem toten Hans schleicht, der in einem gekühlten Zimmer aufgebahrt ist, damit sich Freunde, Familie und Weggefährten von ihm verabschieden können. Wir spüren die Kälte, die von seinem Körper in den ihren kriecht, weil sie sich eng an ihn schmiegt, so lange, bis sie zitternd in ein wärmeres Zimmer flüchtet, nur, um gleich darauf wieder zurückzukehren zu ihm, zu dem, was von ihm noch übrig ist. Wir schnüffeln mit ihr an seinen Pullovern, um ein paar letzte Duftmoleküle zu erhaschen. Wir fühlen mit, wie es ist, dass er überall nicht ist, was ihr dummer Körper einfach nicht begreifen will. Wir erstarren mit ihr im Schock, als – weil ein Unglück selten allein kommt – kurz nach dem Tod des Ehemanns auch noch eine groteske Anzahl von Familienmitgliedern und Freunden dahingerafft wird. Wie im Boxring fühlen wir uns mit ihr: Bamm! Bamm! Bamm! Immer noch ein Schlag. Und noch einer. Unfassbar, wie viel Kraft es gekostet haben muss, so viel Schmerz zu Papier zu bringen.

Man kann dieses Buch nicht lesen, ohne um seine eigenen Toten zu weinen. Die, die man schon verloren hat. Und die, die man noch verlieren wird. Das ist manchmal kaum zu ertragen, doch wer es dennoch auf sich nimmt, ist danach hoffentlich ein bisschen weniger ängstlich, weil er es gewagt hat, dem Ungeheuer ins Auge zu blicken.

Die Trauer ist der Zoll, den man für die Liebe bezahlt

Connie Palmen ist alles andere als ein Trauerkloss. In der Bereitschaft, ihr Schicksal mit allen Sinnen zu durchleiden, liegt etwas zutiefst Lebensbejahendes. «Die Trauer ist der Zoll, den man für die Liebe bezahlt, wenn man aus dem Land, in dem man geliebt wurde, in das Land kommt, in dem es nur noch die Erinnerung an diese Liebe gibt», sagt sie. «Ich zahle diesen Zoll gern. Er kommt mir fair vor.»

In Holland, wo ihr Buch bereits 2011 erschien, ist sie zu einer Art Trauer-Expertin geworden. In Scharen pilgern die Untröstlichen zu ihren Lesungen, wo sie sich endlich nicht mehr so einsam fühlen in ihrem Kokon des Leids. Überraschenderweise gibt es dort sehr viel zu lachen. Kürzlich etwa beklagte sich eine attraktive Dame, dass ihr niemand ansehe, wie fürchterlich sie sich nach dem Tod ihrer Tochter fühle. «Verehrteste», sagte Connie Palmen, «das liegt daran, dass Sie viel zu gut aussehen. Machen Sie es wie ich. Saufen Sie! Magern Sie ab! Qualmen Sie wie ein Fabrikschlot! Dann wird sich die Welt bald voller Mitgefühl um Sie kümmern.» Natürlich habe sie danach auch noch ernsthafte Worte des Trosts gefunden. Doch die Leute sollen weinend vor Lachen aus der Tür gehen. Das ist ihr erklärtes Ziel.

— Connie Palmen: Logbuch eines unbarmherzigen Jahres. Diogenes-Verlag, Zürich 2013, 304 Seiten, ca. 33 Franken

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1.

Weinend vor Lachen – so sollen die Trauernden nach Connie Palmens Lesungen nach Hause gehen.

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