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Oper: Zum Weinen schön

Leben

Oper: Zum Weinen schön

  • Text: Frank Heer; Foto: Monika Rittershaus für das Opernhaus Zürich / Wozzeck von Alban Berg

Von allen seltsamen Teenager-Obsessionen wählte unser Kulturredaktor Frank Heer die schrägste: Mit zwölf Jahren verfiel er der Oper.

Genau betrachtet ist die Oper etwas Seltsames. Vergleichbar mit Reckturnen oder Stabhochsprung. Eine Opernstimme ist niemandem angeboren. Der Sänger trainiert sie sich an, um im Theater das Orchester zu überflügeln und auch noch in der hintersten Reihe gehört zu werden.

Meine Faszination für eine Disziplin, in der laut gesungen und viel gestorben wird, begann an einem Winterabend im Stadttheater St. Gallen. Ich war zwölf Jahre alt, und meine Eltern besuchten mit mir eine Vorstellung der «Zauberflöte». Ich trug eine dunkelgrüne Manchesterhose und einen Rollkragenpullover, die Haare waren frisch gewaschen, geföhnt und gekämmt. Kaum hob sich der Vorhang, wehte mir der süssliche Geruch von eingemottetem Stoff, Sperrholz und frischer Farbe in die Nase; der Duft versetzte mich, in Verbindung mit einem naturalistischen Bühnenbild, üppigen Kostümen und magischer Musik, in einen Zustand rauschhafter Entrückung. Es war das Jahr 1978 und Mozart meine Einstiegsdroge.

Im Plattenschrank meiner Eltern gab es viel Klassik, aber keine Opern – bis auf eine Kompilation italienischer Arien, die uns eine Tante aus der DDR zu Weihnachten geschenkt hatte und die niemand hörte – bis ich sie entdeckte. Das Cover zeigte den Tenor Mario del Monaco mit grimmiger Miene im Othello-Kostüm. Die Aufmachung entsprach ganz meinem Geschmack, der Spielfilme mit Charlton Heston und Bücher von Karl May miteinschloss. Del Monaco hatte ein gewaltiges Organ: Er schaffte das ganze Register, vom wütenden Niederschmettern, hemmungslosen Schluchzen bis hin zum gespenstischen Pianissimo. Zum Schrecken meines Vaters wünschte ich mir alle Opern, aus denen die Arien stammten, in der Gesamtfassung. Und weil eine dreiteilige Vinylbox ein Vermögen kostete, gab es pro Jahr nicht mehr als zwei neue Titel geschenkt: eine Box zu Weihnachten, eine zum Geburtstag. Um das Vinyl zu schonen, nahm ich die Platten auf teure Maxell-Gold-Kassetten auf, die ich dann auf meinem billigen Philips-Taperecorder hörte. Mono und in dumpfer Qualität.

Manchmal zeigte der ORF Live-Übertragungen aus der Wiener Staatsoper. Dann stöpselte ich meinen Recorder ins Fernsehgerät, um die Opern auf Kassette zu kopieren. Ich durfte während einer solch mehrstündigen Übertragung auf keinen Fall gestört werden. Ein Glück, dass mein älterer Bruder, der mit Led Zeppelin, The Doors und Jimi Hendrix sozialisiert worden war, bereits nicht mehr zuhause wohnte. Meine Eltern dürften meine Affinität zur Oper mit einer gewissen Verwunderung beobachtet haben, befand ich mich doch in einem Alter, in dem normale Jungs Status Quo hörten und Fussball spielten. Entsprechend leistete ich Überzeugungsarbeit. In einem Sommerlager hatte jemand einen kleinen Transistorradio dabei. Ich wusste, dass der ORF von den Bregenzer Festspielen «Lucia di Lammermoor» übertragen würde. Und schaffte es, für den Verlauf eines Abends ein paar Zeltfreunde für Donizetti zu begeistern. Wir lagen am Waldrand, pafften Nielen und hörten Katia Ricciarelli beim Sterben zu. Zum Weinen schön.

1980 erschien das Album «Boys Don’t Cry» der britischen New-Wave-Band The Cure. Natürlich ging das vollkommen an mir vorbei. Ich war ein 14-jähriger Opernsnob mit Oberlippenflaum, der sein Sackgeld in Stehplätze im Stadttheater investierte und sich über hustende Alte und andere Banausen enervierte, die im falschen Moment klatschten. Auch vor Buhrufen schreckte ich nicht zurück, wenn ein Pianissimo misslang oder ein Spitzenton zerbrach. Was ich nicht ausstehen konnte: lustige Opern oder gar Operetten. Ich brauchte härteren Stoff. Spezialisten des Abgründigen waren Komponisten wie Verdi und Puccini. Da gab es Tote und Verletzte. Mindestens so entscheidend wie Musik und Handlung waren die Sänger. Unter den zeitgenössischen Tenören lagen Plácido Domingo an erster und Luciano Pavarotti an zweiter Stelle. Wobei ich Domingo nicht in allen Rollen bevorzugte. Für «La Bohème» kam nur der Dicke mit der hellen Stimme infrage. Zwar verfügte er über die schauspielerischen Fähigkeiten einer Zimmerpflanze, aber wie er in «Che gelida manina» mit schwindelerregender Leichtigkeit ins hohe C wegglitt, bleibt unerreicht. Trotzdem besass Domingo die aufregendste Tenorstimme des 20. Jahrhunderts. Und er konnte schauspielern: Domingo war der Robert De Niro der Oper und der überzeugendste Don José, Hoffmann, Otello, Chénier, Cavaradossi seiner Zeit. Bei den früheren Tenören mochte ich den

Kette rauchenden Playboy Giuseppe di Stefano (der seine Stimme innert weniger Jahre ruinierte), den lispelnden Franco Corelli (ein Wirbelsturm mit endlos langem Atem) oder eben: Mario del Monaco, den Kirk Douglas seines Fachs. Bei den Baritonen warens der grosse Piero Cappuccilli und der diabolische Ruggero Raimondi, bei den Sopranistinnen die schrille Renata Scotto und die sanfte Mirella Freni – Namen, die über Jahrzehnte zu den schillerndsten gehörten.

Zu meinem 15. Geburtstag wünschte ich mir einen Abend in der Mailänder Scala. Die Scala ist so etwas wie das Wembley-Stadion für Oper. So fuhr ich – wie immer allein – mit dem Zug nach Mailand, um Domingo in einer «Carmen»-Inszenierung von Franco Zeffirelli zu sehen. Ich wartete den ganzen Nachmittag vor dem Künstlereingang. Irgendwann kam er tatsächlich, mit hochgeschlagenem Mantelkragen und Seidenschal: Plácido Domingo. Ich streckte ihm die Hand entgegen, er schüttelte sie, sagte etwas auf Italienisch (was ich nicht verstand), worauf ich antwortete: Grazie mille. Domingo erhielt an jenem Abend etwa zehn Vorhänge und gleich viele Rosenbouquets. Nach der Vorstellung scharten sich drei Dutzend mittelalterliche Damen vor dem Künstlerausgang. Möglich, dass es mir zum ersten Mal seltsam erschien, mich in einer Gesellschaft zu bewegen, die nichts mit meiner Generation und meiner Zeit zu tun hatte.

In der zweiten Sekundarklasse verliebte ich mich in ein Mädchen namens Chantal. Sie besuchte eine der Klassen über mir, und es war sonnenklar, dass ich sie gar nicht erst anzusprechen brauchte. Chantal fuhr einen orangen Puch Maxi, ich ein klappriges Velo mit drei Gängen. Sie hatte Dauerwellen, trug hellblaue Röhrlijeans und weisse Adidas-Turnschuhe, ich Manchesterhose und Gesundheitslatschen mit Kautschuksohle. Die Oper lehrte mich, dass grosse Gefühle im Desaster enden: Suizid aus Liebeskummer («Madama Butterfly»), Mord aus Eifersucht («Pagliacci»), Sterben in Einsamkeit («La Traviata»). Deshalb beschränkte ich mich darauf, mir vorzustellen, wie ich Chantal in mein Zimmer lockte, um ihr das Septett «Helas, mon coeur s’égare encore» aus «Les contes d’Hoffmann» von Jacques Offenbach vorzuspielen (alles Weitere überstieg meine Vorstellungskraft). Eines Tages sah ich sie in den Armen eines Kerls mit halblangen Haaren und Lederjacke. Das war schwer zu ertragen. Trotzdem beschloss ich, Chantal einen Brief zu schreiben. Es folgte ein zweiter und ein dritter. Ich fühlte mich wie Jules Massenets «Werther», überwältigt von unerwiderten Gefühlen. Endlich lag ein Umschlag mit verschnörkelter Anschrift im Briefkasten. Ich entfaltete einen Zettel mit dem Satz «Bitte schreibe mir keine Briefe mehr». Ich begriff, dass das Leben kein Musiktheater ist. Es ist viel schlimmer. Meine Liebe zur Oper begann zu bröckeln.

Ab 1983 besuchte ich das Lehrerseminar in Rorschach und lebte unter der Woche in einer WG, da meine Eltern aufs Land gezogen waren. Einer meiner Mitbewohner hörte jeden Tag Joy Division, ein anderer «A Love Supreme» von John Coltrane und ein dritter das Bananen-Album von The Velvet Undergound & Nico. Meine erste Freundin mochte Patti Smith, meine zweite war Fan von The Smiths. An meinem ersten Konzert ausserhalb eines Opernhauses sah ich den Saxofonisten Archie Shepp in einem Pariser Jazzclub. Es folgten Frank Zappa im Hallenstadion und Punkkonzerte in der Grabenhalle St. Gallen. Jemand machte mich mit Sonic Youth und Hüsker Dü bekannt. Kate Bush verehrte ich abgöttisch, Lou Reed war mein neuer Domingo. Ich kaufte mir eine Motorradlederjacke und gründete die Rockgruppe Frank’s Wild Rock’n’Roll Band. Wie es mit den Mädchen weiterging? Dafür fehlt hier leider der Platz. Meine Frau nahm ich nur einmal in die Oper mit: zu «Cavalleria rusticana». Sie bekam erst Schweissausbrüche, dann wurde ihr schlecht (Platzangst). Die alten Schallplatten besitze ich noch immer. Ab und zu spiele ich meinen Kindern «E lucevan le stelle» aus «Tosca» vor, das mit dem Aufschrei «e muoio disperato» (und ich sterbe in Verzweiflung) endet. Dann beginnt mein Sohn (18 Monate) wild mit den Armen zu rudern, und meine Tochter (4) sucht Schutz bei ihrer Mutter. Vielleicht sind sie für Puccini noch zu jung.

Vorhang auf!

THEATER BASEL «Die Zauberflöte» von Wolfgang Amadeus Mozart. Aktuell im Programm
THEATER ST. GALLEN «Tosca» von Giacomo Puccini. Premiere am 31. Januar
OPERNHAUS ZÜRICH «Rigoletto» von Giuseppe Verdi. Wiederaufnahme ab 31. Januar
THEATER BERN «Un ballo in maschera» von Giuseppe Verdi. Premiere am 6. Februar
LUZERNER THEATER «Norma» von Vincenzo Bellini. Premiere am 16. März

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