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«Am Anfang steht das Garn»: Schweizer Stoffe auf internationalen Laufstegen

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«Am Anfang steht das Garn»: Schweizer Stoffe auf internationalen Laufstegen

  • Interview: Silvia Binggeli; Fotos: Imaxtree.com, Bischoff Fabrics, Christian Fischbacher, Jakob Schlaepfer, Schoeller Textiles, Tisca Tiara

Niels Holger Wien vertritt den Schweizer Textilverband bei Intercolor: In diesem Gremium legen Vertreter aus 14 Ländern fest, welche Stoffe in zwei Jahren Trend werden.

ANNABELLE: Niels Holger Wien, wie entstehen Stofftrends?
NIELS HOLGER WIEN: Lange bevor die Konsumentin sie wahrnimmt. Wir sammeln und untersuchen Impulse über fast zwei Jahre hinweg, bevor die Trends dann in den Geschäften zu sehen sind.

In welchem Rahmen und in welcher Form passiert das?
Wir Farbexperten treffen uns unter anderem zweimal jährlich zu den Intercolor-Workshops.

Was ist die Idee von Intercolor?
Intercolor ist ein internationales Gremium, in dem Experten aus europäischen und asiatischen Ländern vertreten sind. Gegründet wurde diese Plattform vor fünfzig Jahren von Frankreich, Japan und der Schweiz, und zwar mit der Idee, den kulturellen Austausch zu fördern. Heute gehören zu Intercolor 14 nationale Institutionen mit sehr unterschiedlichen Organisationsstrukturen, die ihr jeweiliges Land repräsentieren. Im Fall der Schweiz ist das der Textilverband (TVS).

Was genau bestimmen die Experten dieses Gremiums, und wie wird dabei vorgegangen?
Die Trends und Tendenzen werden Schritt für Schritt analysiert. Über allem steht als verbindendes Element die Farbe. Sie beeinflusst die Entwicklungen auf allen Stufen der textilen Kette: Am Anfang steht das Garn, dann kommen die Stoffe, die von den Designern ausgewählt werden, um daraus Kollektionen zu gestalten. Schliesslich werden die Ideen an internationalen Defilees und Messen gezeigt und dort vom Handel geordert. Jedes Segment, jeder Schritt erfordert etwa ein halbes Jahr Vorbereitung und Entwicklung.

Wie können sich Experten aus 14 unterschiedlichen Ländern auf dieselben Trends einigen?
Wir lassen uns alle vom selben Zeitgeist beeinflussen. Und dann suchen wir nach Übereinstimmungen in den vielfältigen nationalen Trendanalysen und filtern so die übergreifenden Impulse heraus.

Die weltweiten kulturellen Einflüsse unterscheiden sich doch aber sehr stark voneinander.
Das stimmt: Farben können in unterschiedlichen Regionen verschiedene Bedeutungen haben. Andere Kulturen und Erfahrungen, unterschiedliches Licht oder andere Hauttöne verlangen nach anderen Farben. Bei uns steht die Farbe Rot beispielsweise für Leidenschaft. In Japan und China symbolisiert sie Glück und Reichtum, in Japan typischerweise auch Licht, wegen der aufgehenden Sonne.

Oft werden fremde Länder von hiesigen Designern als Inspirationsquelle genutzt. Doch welche Rolle spielen die neuen Märkte als Trendsetter und als Produzenten?
Eine sehr wichtige. Die Kreativen dieser Länder sind längst bestens informiert und international vernetzt – auch dank der digitalen Informationsmöglichkeiten. Und natürlich lassen auch sie sich weltweit inspirieren.

Was halten Sie davon, wenn westliche Kreateure asiatische Designs präsentieren, um diesen lukrativen Markt zuerobern?
Wir beurteilen das eher kritisch. Ich glaube nicht, dass diese Märkte ihr eigenes Kulturgut, – also etwas, über das sie selbst besser Bescheid wissen als wir – von uns neu verkauft bekommen wollen. Sie brauchen kein westliches Label, das ihnen den hundertsten Kimono präsentiert. Mit anderen Kulturen über den eigenen Kulturkreis zu diskutieren, ist aber durchaus inspirierend: Wenn etwa Asiaten über den europäischen Expressionismus reflektieren. Denn sie haben einen völlig anderen kulturellen Zugang.

Asien ist – abgesehen von Japan – als Billigproduktionsregion bekannt. Ist dieses schlechte Image immer noch berechtigt?
Ja und nein. Für das negative Image nach wie vor verantwortlich sind die tiefen Löhne. Was man aber nicht übersehen darf: China und auch Länder wie Südkorea, Indien oder Vietnam produzieren nicht nur billige Massenware. Es gibt dort auch zahlreiche technologische Innovationen, gerade was die Stoffproduktion anbelangt.

Trotzdem denkt man bei Made in China doch immer noch sofort an Ausbeutung.
Weil es nur wenige verlässliche, international gültige Gütesiegel gibt, ist es sowohl für die Designer wie auch für den Endverbraucher schwierig, Herkunft und Herstellungsbedingungen eines Produkts zu beurteilen. Letztlich sollten wir uns als mündige Konsumenten auf den gesunden Menschenverstand verlassen: Man weiss, was ein Kilo Brot in der Region kostet – ein spottbilliges, im Ausland produziertes T-Shirt kann also weder ökologisch noch sozial verträglich hergestellt worden sein.

Wie finden neue Materialien Einzug in die Mode?
Oft wurden sie zunächst für andere Bereiche entwickelt. Beispielsweise wurden viele funktionale Materialien ursprünglich für den Leistungssport oder die Autoindustrie entwickelt, mittlerweile werden sie auch von Modedesignern verwendet. Die Grenze zwischen Ästhetik und Funktionalität verschwindet immer mehr: Unser Leben wird mobiler, wir brauchen komfortable Stoffe und Kleider. Heute tragen wir selbstverständlich hochfunktionale Jerseys – ursprünglich ein Material für Sportbekleidung. Vor vierzig Jahren war das noch undenkbar.

Aber wie genau entstehen Trends?
Das Schwierige, aber auch Spannende an Trends ist: Sie sind äusserst komplex. Zu jedem Trend gibt es auch einen Gegentrend. Im Modesommer 2013 spielt zum Beispiel Ultraleichtigkeit eine wichtige Rolle. Andererseits geht es in der neuen Saison auch um grosse Formen und Volumen. Diese oft geometrischen, weiten Schnitte verlangen nach Stoffen, die eine Festigkeit bieten und trotzdem nicht steif und schwer sind.

Welche neuen Stoffe können wir nächste Saison erwarten?
Mehrere Textilfirmen haben ultrafeine Beschichtungen entwickelt, die gleichzeitig wasserabstossend und atmungsaktiv, sehr leicht und angenehm weich sind. Daraus machen Designer Jacken und Mäntel, die nur noch wenige Hundert Gramm wiegen und sehr praktisch zum Reisen sind.

Auch Leder wird in den neuen Kollektionen auf sehr virtuose Weise verarbeitet.
Leder ist eigentlich nicht dehnbar. Um es neu präsentieren zu können, verarbeiten es Designer nun oft in Netzform, gestanzt oder perforiert. Das Material wird so viel beweglicher, geschmeidiger. Auch Cutouts sind im Moment dank neuer Lasertechniken sehr gefragt. Ausserdem wird Leder derzeit gern mit anderen Materialien wie Spitze oder Seide kombiniert.

In der Mode wird gern zurückgeschaut. Woher kommt der Wunsch nach Altbekanntem?
Wir leben im 21. Jahrhundert und wollen Modernität, also nach vorne schauen. Andererseits vergessen wir nie, woher wir kommen. Es gibt in den kommenden Sommerkollektionen viele Reverenzen an die Sechzigerjahre. Das Interesse an dieser Zeit ist allerdings nicht nur nostalgischer Art. Die Sechziger waren eine Zeit des Auf- und Umbruchs, sie brachten viele markante Neuerungen in Design und Mode. Einen solchen Innovationsschub wünschen wir uns auch heute wieder.

Eine Innovation der Sechzigerjahre waren die Chemiefasern.
Ja, und sie haben bis heute einen grossen ökonomischen Einfluss. 2011 etwa waren die Baumwollpreise extrem hoch. Der asiatische Markt, ein wichtiger Hersteller von Baumwolle, benötigte das Material vermehrt für sich selbst. Andere Produzenten konnten die internationale Nachfrage nicht decken. Das Material wurde so knapp, dass an den Finanzmärkten mit Baumwolle spekuliert wurde. Der Preis stieg um achtzig Prozent. Ein Horror für Verkäufer und Einkäufer an den Stoffmessen. Man suchte nach Alternativen: Es gab einen Innovationsschub für synthetische Fasern, die in ihrer Qualität der Baumwolle mittlerweile in nichts mehr nachstehen.

Sind Kunstfasern das Material der Zukunft?
Sie werden zumindest eine wichtige Rolle spielen, wobei inzwischen auch Fasern aus Maisstärke, Laktose und Algen gewonnen werden. Textilfirmen wissen, dass synthetisch hergestellte Materialien in hoher Qualität einen zweiten Vorteil bieten: Sie sind nämlich mehrfach wiederverwertbar, was natürlich auch aus ökologischer Sicht spannend ist. Daran wird im Moment intensiv geforscht.

Setzen Textil- und Modedesigner auch auf ausgeklügelte Techniken, um Billigkopien zu verhindern?
Sicherlich versuchen sie auch aus diesem Grund, Musterungen und Schnitte exklusiv zu halten. Aber praktisch ist das nahezu unmöglich, denn auch die Massenhersteller arbeiten mit hervorragenden Technologien, und Informationen sind überall zugänglich. Die Exklusivität funktioniert praktisch nur noch über die besondere Ästhetik und herausragende Qualität.

Was genau bedeutet das?
Es gab kürzlich eine Kollektion von Kleidern aus Seidenfoulards, die von einem Modegiganten in riesigen Kampagnen gepusht wurde. Diese zuvor an Messen gezeigten Stoffe wurden den Kunden präsentiert, noch bevor andere Modehäuser ihre Version davon auf den Laufsteg bringen konnten. Man wird diese Kleider von den Modehäusern aber trotzdem noch zu sehen bekommen – aber nun mit sehr speziellen Musterungen und neuen, aussergewöhnlichen Farbkombinationen.

Die Schweiz war immer ein wichtiger Textilproduzent. Wie innovativ sind wir heute?
In der Produktion von hochwertigen Spitzen ist die Schweiz immer noch Weltklasse. Aber auch in anderen Bereichen, zum Beispiel bei feinsten Baumwollstoffen und auch hochfunktionellen Geweben, haben Schweizer Textiler eine führende Rolle. Die Erklärung für diese jahrzehntelange Qualität ist einfach: Die Schweizer Textilindustrie arbeitete immer eng mit der Haute Couture zusammen, die modische Standards prägte. Sie musste Trendsetter sein. Und ist es bis heute geblieben.

 

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