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Pussy-Riot-Aktivistin Nadja Tolokonnikowa im Interview

Leben

Pussy-Riot-Aktivistin Nadja Tolokonnikowa im Interview

  • Interview: Miriam Suter; Foto: Denis Sinyakov

Die politische Aktivistin Nadja Tolokonnikowa erlangte internationale Bekanntheit als Mitglied der regierungskritischen Punkband Pussy Riot. Im Interview erklärt sie, wovor sie Angst hat und warum sie nun die Schweiz ins Visier nimmt.

Im Jahr 2012 machten drei Mitglieder der feministischen Punkband Pussy Riot durch ihren Auftritt in der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau auf die Beziehungen zwischen Kirche und Staatsmacht in Russland aufmerksam. Die drei Frauen wurden verhaftet, Nadja Tolokonnikowa war eine von ihnen. Die damals 22-jährige Mutter einer kleinen Tochter wurde zu zwei Jahren Haft im Straflager in Mordwinien verurteilt. Nun hat die Aktivistin ein neues, regierungskritisches Video produziert und ein Buch geschrieben: «Anleitung für eine Revolution». Es ist das Manifest einer Kämpferin. 

annabelle.ch: Nadja Tolokonnikowa, für wen haben Sie Ihr Buch «Anleitung für eine Revolution» geschrieben?
NADJA TOLOKONNIKOWA: Ich habe das Buch geschrieben, weil in meinem Bekanntenkreis immer wieder Fragen aufgetaucht sind zu meiner Arbeit als politische Aktivistin. Ich wollte diese Fragen sorgfältig beantworten, alle auf einmal. Eigentlich ist das Buch eine Art Katalog häufig gestellter Fragen und kann von allen gelesen werden, die sich für die Thematik interessieren. Mir liegt dabei vor allem am Herzen, dass die Zustände, die in russischen Gefängnissen herrschen, bekannt gemacht werden.

In der Einführung zu Ihrem Buch schreiben Sie: «Wenn ich meine Seele verkaufen muss, damit Putin verschwindet und in Russland politischer Wettbewerb entsteht, dann tue ich es.» Das war 2014, kurz nach Ihrer Freilassung aus dem Gefängnis. Hat sich der Verkauf Ihrer Seele gelohnt?
Für mich definitiv. Natürlich ist die politische und gesellschaftliche Lage heute noch schlimmer als noch vor wenigen Jahren. Aber genau deshalb lohnt es sich, weiterzukämpfen, gerade weil immer noch schreckliche Dinge passieren. Ich bin gerade etwas aufgelöst, weil sich vor unserem Interviewtermin wieder ein solcher Vorfall zugetragen hat.

Was ist passiert?
Freunde von mir, Journalisten und Menschenrechtsaktivisten, sind in einem öffentlichen Bus in Tschetschenien von einer Horde maskierter Männer überfallen und verprügelt worden. Die wollten den Bus anzünden und haben einem Bekannten von mir die Hand gebrochen.

Haben Sie eine Ahnung, wer hinter dem Überfall steckt?
Ich vermute stark, dass da die Feiglinge um den tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow am Werk waren. Die gleichen Leute, die Boris Jefimowitsch Nemzow letztes Jahr umgebracht haben (Anm. d. Red.: Boris Jefimowitsch Nemzow war ein russischer Politiker, Kandidat für das Amt des Präsidenten und offener Regierungskritiker. Er wurde im Februar 2015 im Zentrum Moskaus erschossen). Ich glaube, die sind auch hinter mir her und wollen mich umbringen. Also, um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ja, der Verkauf meiner Seele hat sich definitiv gelohnt. Der Kampf geht weiter.

Haben Sie keine Angst?
Doch, das gehört zum Instinkt eines Menschen, natürlich habe ich manchmal Angst.

Sie leben mit Ihrem Mann und Ihrer Tochter noch immer in Moskau. Wird Ihr Zuhause geschützt?
Nein, das würde auch keinen Sinn machen. Erstens haben wir kein Geld für ein Überwachungssystem und zweitens würde das sowieso nichts helfen. Wenn sie mich umbringen wollen, dann schaffen sie das auch.

In Ihrem Buch beschreiben Sie auch die Zeit im Straflager in Mordwinien, 500 Kilometer von ihrer Familie entfernt. Inwiefern haben Sie diese zwei Jahre verändert?
Grundsätzlich hat alles im Leben eine gute und eine schlechte Seite, denke ich. Und es kommt auf die eigene Einstellung an, wie man mit traumatischen Erlebnissen umgeht. Aber ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich stark genug bin und mir diese Zeit nichts anhaben konnte. Das stimmt nicht. Ich habe heute noch Albträume wegen meiner Zeit im Straflager. Manche Gerüche erinnern mich an diese Zeit. Ich habe mir selber lange nicht eingestehen können, dass mich die Zeit als Gefangene traumatisiert hat. Und ich habe etwa ein Jahr gebraucht, um mich davon zu erholen.

Nach Ihrer Freilassung haben Sie 2014 eine Organisation und eine Online-News-Plattform für russische Strafgefangene gegründet.
Genau, «Media Zone». Auf dieser Online-Plattform geht es vor allem um Themen wie Rechte für Gefangene und generell um das Gefängnissystem in Russland – es besteht nämlich noch ein riesiger Aufholbedarf. Die Journalistinnen und Journalisten, die für «Media Zone» schreiben, betreiben Aufklärung. Sie berichten über Folter, über Korruption und über Missbrauch des russischen Rechtssystems. Im Übrigen waren es Journalisten von «Media Zone», die im Bus überfallen wurden, wie ich vorher erzählt habe. Und die Organisation dahinter arbeitet Hand in Hand mit Anwälten, anderen Menschenrechtsorganisationen und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zusammen. In russischen Gefängnissen wird nicht nur täglich gefoltert, es werden auch Menschen festgehalten, die schwer krank sind und deshalb per Gesetz Anrecht auf Freilassung haben. Jeder Person, die zu Unrecht festgehalten wird, muss die russische Regierung nach der Freilassung 20‘000 Euro Schmerzensgeld bezahlen. Bisher haben wir 16 Gefangene befreit und in einem Fall wurde das Schmerzensgeld bereits bezahlt.

Regierungskritik und Pressefreiheit: Zwei Themen, die man in Russland nicht mag.
Ja, und dafür werden wir, die Aktivistinnen von Pussy Riot, auch immer wieder attackiert, auch nach unserer Freilassung. 2014, kurz nachdem ich aus dem Gefängnis kam, haben wir in Sotschi gegen die olympischen Winterspiele protestiert und wurden dafür vom russischen Sicherheitsdienst öffentlich ausgepeitscht. Und wir wurden mehrmals attackiert und verprügelt, als wir in Strafkolonien Essen und Medizin an die Gefangenen verteilt haben.

In Ihrem aktuellen Video zur Single «Chaika» nehmen Sie auch Bezug auf Korruption in der Schweiz. Was meinen Sie genau?
In dem Song geht es um den russischen Generalstaatsanwalt Juri Jakowlewitsch Tschaika. Sein Sohn, Artem Chaika, besitzt Häuser in der Schweiz. (Anm. d. Red.: Beiden wird vorgeworfen, dass sie ein weitverzweigtes Firmenimperium mittels Korruption und Unterstützung der russischen Generalstaatsanwaltschaft erworben hätten, und in Verbindung zu organisierter Kriminalität zu stehen.) Das zeigt sehr gut, wie heuchlerisch die russische Regierung ist: Sie sind so stolz auf ihr Land, auf ihre Werte, sie sind richtige Patrioten und lehnen westliche Werte total ab. Und gleichzeitig profitieren sie von europäischen Ländern, und lagern hier ihr Vermögen.

Was erwarten Sie von der Schweiz?
Diese Vermögen sollten eingefroren werden. An diesem Geld klebt so viel Blut, Menschen wurden umgebracht, damit russische Regierungsmitglieder noch reicher werden. Die Schweiz sollte dazu beitragen, dass hier investigiert wird, damit diese Verbrechen gelöst werden. Das kann nur passieren, wenn die Schweiz diese Spielchen nicht mehr mitspielt.

«Anleitung für eine Revolution», Hanser Berlin, 224 Seiten, ca. 27 Franken. Nadja Tolokonnikowa liest am Dienstag, 15. März im Zürcher Kaufleuten. Die Lesung ist ausverkauft, mit etwas Glück finden Sie aber in der Facebook-Veranstaltung des Events noch Tickets.

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