Werbung
So hat sich der Aufklärungsunterricht verändert

LGBTQIA+

So hat sich der Aufklärungsunterricht verändert

Während Aufklärungsunterricht vor zwanzig Jahren nach einer Biologie-Lektion als erledigt galt, hat sich seither erstaunlich viel verändert. Heute wird ganzheitlicher aufgeklärt. Doch was heisst das – und wo gilt es, noch aufzuholen? Wir haben mit vier Aufklärungsexpert*innen gesprochen.  

Aufklärung. Ein Wort, das sofort Bilder auslöst: Biologie-Unterricht in der Oberstufe, der verkrampfte Lehrer zeigt mit dem Stift auf die Anatomie-Bilder auf dem Hellraumprojektor: «Das ist die Gebärmutter, das sind die Eierstöcke.» Einmal in der Schule möglichst kurz etwas darüber hören, höchstens nochmals kurz von den Eltern einen genauso verkrampften Monolog über Verhütung – den Rest übernahm meist Dr. Sommer von der Zeitschrift «Bravo».

So war es vielerorts noch vor zwanzig Jahren. Doch wie kann heute zeitgemäss aufgeklärt werden, in Zeiten von überall verfügbaren Informationen und Themen wie Non-Binarität und LGBTQIA+? Wir haben mit vier Aufklärungsexpert*innen gesprochen und herausgefunden, dass sich zumindest in den Städten seit damals erstaunlich viel verändert hat.

Nicht nur wird heute schon viel früher mit Aufklärung begonnen, sondern das Thema wird ganzheitlicher behandelt und bleibt über Jahre präsent. Und wichtige Punkte, die früher überhaupt nicht oder kaum erwähnt wurden, sind heute wichtige Bestandteile des Aufklärungsdiskurses: Man spricht über weibliche Lust, Binarität und sexuelle Orientierungen.

Früh eine Basis bilden

Während früher Aufklärung oft erst in der Sekundarstufe ein Thema gewesen sei, werde heute dank dem Lehrplan 21 bereits im Kindergarten der Grundstein für eine ganzheitliche Aufklärung gelegt, erklärt Lukas Geiser. Er ist Dozent für Sexualpädagogik und an der Pädagogischen Hochschule Zürich zuständig für Gesundheitsförderung und Prävention.

«Im Kindergartenalter geht es um Sprachwissen. Darum, Körperteile benennen zu können, auch die äusseren Geschlechtsorgane Vulva und Penis. Sprachliches Wissen ist eine wichtige Voraussetzung für einen selbstbewussten Umgang mit dem eigenen Körper. Und auch dafür, sich gegen sexuelle Übergriffe wehren zu können, da Kinder die Grenzen kennen und potenziell gefährliche Situationen besser einordnen können», so Geiser.

Nicht nur Anatomie

Sexualkunde-Unterricht ist heute fächerübergreifend. Es geht nicht mehr nur um eine kurze Erklärung der Anatomie, sondern eben auch um Gefühle, Geschlechterrollen und -identitäten, Gesellschaftsnormen – und nicht zuletzt darum, Kindern dabei zu helfen, herauszufinden, wer sie sind. «Kinder mit einer starken Selbstwahrnehmung haben eine klarere Position in Bezug auf ihr späteres sexuelles Leben, sie können sich besser abgrenzen, selbstbestimmter und respektvoller agieren», erklärt der 53-jährige Dozent.

Schon früh wird heute auch die mediale Darstellung von Sexualität ein Thema. Sex ist in den Medien präsent, in sexualisierter Werbung, aber auch in frei zugänglichem Bildmaterial und Filmen im Internet. «Kinder sind heute schon im Primarschulalter damit konfrontiert, und das gilt es zu besprechen», sagt Geiser. Werde dies getan, helfe es ihnen auch dabei, überfordernde Inhalte einzuordnen. «Die Herausforderung liegt darin, Digitalisierung gerade mit jüngeren Kindern altersadäquat zu behandeln, was noch nicht flächendeckend geschieht. Da sehe ich noch Potenzial.»

Austausch auf Augenhöhe

Die Wichtigkeit des Austauschs spricht auch Lilo Gander, Leiterin der Fachstelle «Lust und Frust» in Zürich, an. Die Fachstelle gibt es seit zwanzig Jahren – und genauso lang klärt die 60-Jährige schon Jugendliche auf. «Lust und Frust» ist eine Anlaufstelle für junge Menschen mit Fragen zum Thema Sexualität, hat aber auch einen pädagogischen Auftrag und führt auf Anfrage von Lehrpersonen Aufklärungseinsätze mit Schulklassen ab der 6. Klasse durch – ergänzend zu oder anstelle von Lehrpersonen.

«Lust und Frust» ist eine von drei sexualpädagogischen Fachstellen, die im Kanton Zürich Aufklärung an Schulen betreibt, sie selbst sind für die Stadt Zürich zuständig. Sprich: Es finden viele externe Einsätze statt, längst aber nicht an allen Schulen. Teils, weil Lehrpersonen selbst Sexualkunde-Unterricht geben und Aufklärungsthemen behandeln, aber auch weil Lehrpersonen dem Thema teilweise nach wie vor nicht die angemessene Bedeutung zuschreiben.

Von Pubertät bis Pornos

Die Einsätze von «Lust und Frust» finden jeweils ohne die Lehrperson statt, dafür mit einer Sexualpädagogin und einem Sexualpädagogen aus Ganders Team, welche basierend auf anonymen Fragen der Schüler*innen und Vorgesprächen mit den Lehrpersonen einen halben Tag lang mit ihnen diverse Themen behandeln – von körperlichen Veränderungen in der Pubertät über Lustempfinden bis zu Pornos.

Wenn Sex Kinder noch nicht persönlich betreffe, würden sie recherchieren, sich Bilder und Filme im Internet anschauen, darüber kichern, sagt Gander. «Sobald das Thema aber realer wird, allenfalls ein erster Kuss passieren könnte, glauben sie dem Internet nicht mehr unbedingt. Dann wollen sie sich bei realen Personen vergewissern, wie das wirklich funktioniert.»

Zu dem Zeitpunkt sei es immens wichtig, offene Fragen beantworten zu können. Und dabei zu helfen, Gesehenes zu verstehen. «Da geht es um ein Zurechtrücken. Wir erklären etwa, dass Pornos weniger mit real gelebter Sexualität zu tun haben als mit Kameraeinstellungen und Lichteffekten.»

Weibliche Anatomie

Die Sexualpädagog*innen stellen fest, dass junge Frauen immer noch schambehafteter mit ihrer Sexualität umgehen. Bei «Lust und Frust» wird deshalb bereits im Anatomie-Teil offen über die Klitoris und über den weiblichen Orgasmus gesprochen. Den klassischen Biologie-Unterricht brauche es immer noch, erklärt Gander. Die weibliche Anatomie sorge oft noch für Unklarheiten: Wo kommt das Blut raus? Wie sieht eine Vulva genau aus?

«Auf einem Blatt theoretisch die Geschlechtsorgane benennen zu können, ist das eine. Den Schritt dazu zu machen, was das mit dem eigenen Körper zu tun hat, ist das andere.» Die Sexualpädagogen zeigen dann anhand eines physischen Modells, was sich wo befindet. Und sie erklären jungen Frauen, dass sie sich ihre Vulva durchaus auch selbst einmal im Spiegel anschauen dürfen.

«Über weibliche Lust sprechen wir ganz selbstverständlich»

«Über weibliche Lust sprechen wir ganz selbstverständlich», erklärt auch Anna Landolt. Die 22-jährige Medizinstudentin ist Präsidentin der Zürcher Lokalsektion von «Achtung Liebe». Die Non-Profit-Organisation besteht aus Studierenden, welche ehrenamtlich Schulklassen für Aufklärungsvormittage besuchen. Studierende werden dafür in viertägigen Workshops von erfahrenen Mitgliedern, aber auch von Sexualpädagog*innen, Gynäkolog*innen und Infektiolog*innen zu sogenannten Liebler*innen weitergebildet.

Für «Achtung Liebe» ist klar, dass Aufklärung noch ganzheitlicher behandelt werden muss. Auf Augenhöhe sprechen junge Menschen mit Jugendlichen über klassische Themen wie körperliche Veränderung, sexuell übertragbare Krankheiten und Verhütung. Aber eben auch über Sexting, rechtliche Fragen und Konsens. Und dass es bei Konsens aber nicht nur darum geht, Nein zu sagen, wenn man etwas nicht möchte, sondern auch um ein Erfragen und Erspüren des Gegenübers.

In der letzten Lektion des Vormittags werden die Klassen aufgeteilt. Die Mädchen stellen in den geschlechtergetrennten Sequenzen Fragen zum Frauenarztbesuch und Schmerzen beim Sex, aber auch zum Thema Masturbation. «Uns ist wichtig, den Jugendlichen zu vermitteln, dass sie ihren Körper selbst erkunden dürfen, dass es empowering sein kann, dies allein zu tun und herauszufinden, was einem gefällt. Dass sie das aber selbst entscheiden können und es genauso in Ordnung ist, wenn sie das noch nicht tun möchten.»

Nicht nur binär

Jugendlichen aufzuzeigen, dass sie selbst entscheiden können, wer sie sind, was ihnen gefällt und wie sie leben möchten, ist auch für die deutsche Autorin Lydia Meyer wichtig. Die 31-Jährige hat das Aufklärungsbuch «Sex und so» geschrieben, welches im August dieses Jahr erschienen ist und sich an Jugendliche ab 13 Jahren richtet. Darin findet eine Vielzahl an Themen Platz. Es geht um Mobbing, Coming-outs, Körpernormen, aber auch um Selbstbefriedigung, Nichthetero-Sex, Sex-Toys. Aufgelockert mit humorvollen, aber trotzdem inklusiven und aussagekräftigen Illustrationen.

«Mir geht es darum, die Binarität aufzubrechen», sagt Meyer. Ihr Aufklärungsbuch richtet sich deshalb an alle – unabhängig von der Geschlechtsidentität. Und auch unabhängig von der sexuellen Orientierung. «Mir war für dieses Buch wichtig, keine Trennung von Heterosexualität und Homosexualität vorzunehmen. Sprich, nicht etwas als normal oder anders zu bezeichnen, sondern frei von Wertungen zu erklären.»

Begriffe begreifen

Auch für Landolt von «Achtung Liebe» ist es wichtig, den Jugendlichen zu erklären, dass es sowohl bei der Geschlechtsidentität als auch bei der sexuellen Orientierung jeweils nicht nur zwei Möglichkeiten gibt, sondern eine Vielzahl davon. «Da gibt es jeweils regelrechte Aha-Momente bei den Jugendlichen – was mich sehr freut», so Landolt.

Diese Erkenntnis helfe auch bei der Zuordnung von Gender-Begriffen und Labels für sexuelle Orientierungen. Diese seien den Jugendlichen zwar meist bekannt, sagt Landolt weiter. «Oft wissen sie aber nicht genau, welche Begriffe korrekt sind und verwenden diese willkürlich.» Die Liebler*innen zeigen Jugendlichen auch die Geschichte von Begriffen und deren Veränderung im Lauf der Zeit auf. Zum Beispiel, dass man heute von Transidentität spricht und nicht mehr von Transsexualität. Dies soll Jugendliche ermutigen, Begriffe zu hinterfragen und nicht einfach gedankenlos zu verwenden.

Bei der Einordnung von Begriffen hilft auch das Buch von Meyer. Sie erklärt darin Begriffe für Geschlechtsidentitäten und Genderrollen, aber auch Labels für sexuelle Orientierungen, also, was hinter den Buchstaben LGBTQIA+ steckt. Und lässt auch immer wieder Menschen zu Wort kommen, die Labels und Begriffen ein Gesicht geben, indem sie ihre persönliche Geschichte erzählen.

Aufklärung ist nicht nach einer Biologie-Lektion abgeschlossen

Gleichzeitig stellt Meyer klar, dass es auch hier keine festgelegten Regeln gibt, sondern dass jede Person selbst entscheiden kann, ob sie sich mit einem Label identifizieren kann oder einen Gender-Begriff als für sich passend empfindet. Sprache soll nicht bewerten, sondern befreien. «Sprache ist enorm wichtig. Ändert sich die Sprache, ändert sich langfristig auch das Denken», findet Meyer.

Wichtig ist auch die Erkenntnis, welche alle vier Expert*innen teilen: Aufklärung ist nicht nach einer Biologie-Lektion abgeschlossen. Auch nicht nach einem Aufklärungsvormittag mit Sexualpädagog*innen. Oder nach der Lektüre eines Aufklärungsbuches. Aufklärung ist vielschichtig, verlässliche Informationsquellen im Internet und vertiefende Lektüretipps sind wichtig – und bleiben es auch über das Teenageralter hinaus. Denn Aufklärung dauert ein Leben lang.

Spürbare Unterschiede bei Lehrpersonen

Gerade bei jüngeren Kindern gibt es durchaus Themen, die noch verstärkt behandelt werden müssen: Pornografie ist heute auch Primarschüler*innen schon zugänglich, auf Pausenplätzen werden Bilder und Filme herumgereicht. Wie sie damit umgehen können und sollen, muss noch mehr Platz finden im Aufklärungsdiskurs – das betonen auch die Expert*innen.

Zudem gibt es bei den Lehrpersonen grosse Unterschiede, was ihre Offenheit zum Thema Aufklärung angeht und wie viel Zeit und Raum sie dafür einsetzen. So bleibt es für Jugendliche ein Stück weit Glückssache, von wem sie aufgeklärt werden. «Aufklärung hat stark mit der Lehrperson zu tun, die Umsetzung geschieht sehr unterschiedlich», sagt auch Geiser von der Pädagogischen Hochschule Zürich.

Es gebe immer noch Lehrpersonen, denen es zu nah gehe, mit ihren Schüler*innen über Sex zu sprechen, die sich vor einem Autoritätsverlust fürchten oder sich schlicht nicht wohl fühlen dabei, erklärt Landolt von «Achtung Liebe». «Da wir nicht Teil der Schule sind, haben wir den Vorteil, dass eine gewisse Anonymität herrscht, wodurch die Jugendlichen weniger Hemmungen haben, offen und angstfrei Fragen zu stellen und intime Themen anzusprechen.»

Noch nicht flächendeckend

«Achtung Liebe» besuchte letztes Jahr 170 Schulklassen, bei den offiziellen Fachstellen wie «Lust und Frust» dürften es noch mehr sein. Aktuelle Zahlen werden nicht veröffentlicht.

Es läuft also an manchen Orten schon sehr gut – da profitieren Schüler*innen von einer ganzheitlichen Aufklärung. Vielen Lehrpersonen liegt das Thema heute am Herzen, sie thematisieren Sexualität und alle dazugehörigen Facetten selbst oder holen sich bei Bedarf externe Unterstützung. Viele Jugendliche profitieren von einem offenen Aufklärungsdialog auf Augenhöhe. Sie werden heute vielschichtiger aufgeklärt als noch vor zwanzig Jahren – wenn auch noch längst nicht flächendeckend. Aber wir sind auf einem gutem Weg.