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Wenn man Menschen mit Behinderungen beim Sex hilft

Liebe & Sex 

Wenn man Menschen mit Behinderungen beim Sex hilft

  • Aufgezeichnet von Verena Edinger; Foto: Unsplash

Ich habe einfach Freude an Sex. Auch daran, ihn mit verschiedenen Personen zu erleben. Die Sexualbegleitung von Menschen mit körperlicher oder psychischer Beeinträchtigung empfinde ich deshalb schlicht als normale Erweiterung dieser sexuellen Freude.

Neun Jahre hatte ich in der klassischen Sexbranche in einem Kleinbordell gearbeitet. Doch obwohl ich dort eigentlich selbstständig als Prostituierte tätig war, war ich doch sehr abhängig vom Betreiber des Salons – ich gab rund vierzig Prozent meiner Einnahmen ab. Zudem waren die Präsenzzeiten sehr lang. Also hängte ich den Job vor zehn Jahren an den Nagel, um Übersetzungswissenschaften zu studieren. Nach mehreren Studienjahren entdeckte ich in einer Zeitung eine Anzeige für die Ausbildung zur Sexualassistenz des Vereins Sexualité et Handicaps Pluriels. Das hat mich angesprochen.

Unsere Gesellschaft vergisst leider oft, dass auch Menschen mit Beeinträchtigungen ein sexuelles Bedürfnis verspüren. Durch ihre mangelnde Mobilität oder die Wohnsituation in einem Heim sind sie aber eingeschränkt, weshalb es speziell ausgebildete Dienstleisterinnen und Dienstleister braucht. Um die eineinhalbjährige Ausbildung zur Sexualassistentin beginnen zu können, musste ich zunächst drei strenge Selektionsrunden bestehen und meine Strafregister- und Betreibungsauszüge vorlegen. Der Kurs bestand aus einem theoretischen Teil – wir eigneten uns fundiertes Wissen über den Körper und über Behinderungen an, befassten uns mit Sexualkunde – und aus einem praktischen Teil, in dem wir etwa diverse Massagetechniken lernten. Sieben Jahre später machte ich zusätzlich an der Universität Genf eine Weiterbildung in Sexologie, da ich mein theoretisches Wissen erweitern wollte.

Vertrauen ist das A und O in meinem Job. Denn es geht hier nicht nur um die Intimsphäre, die Nacktheit eines möglicherweise kranken Körpers. Sondern auch um die Privatsphäre, also um die Gefühle und den sozialen Hintergrund meiner Kunden. Von diesem Teil bekommt man in der klassischen Prostitution kaum etwas mit – da zieht man sich aus, legt sich hin, Sex und fertig. Bei der Sexualbegleitung hingegen trifft man sich immer zu einem Vorgespräch, bei dem manchmal auch Familienangehörige oder Pfleger involviert sind.

Vertrauen ist auch wichtig, weil man immer wieder mit Tabus konfrontiert wird. Zum Beispiel wenn eine Mutter ihrem beeinträchtigten Sohn zur Hand geht, damit dieser sich nicht beim Masturbieren selbst verletzt. Oder wenn sich eine demente Frau im Altersheim so intensiv selbst befriedigt, dass ihr Unterleib danach wehtut. Das ist der Zeitpunkt, an dem ich zum Einsatz komme. Ich zeige etwa den sicheren Umgang mit einem Vibrator oder führe vorher vereinbarte sexuelle Handlungen aus. Eher selten habe ich Paare als Kunden. Einmal kamen zwei verliebte Multiple-Sklerose-Patienten zu mir. Sie brauchten vor allem technische Hilfe, um miteinander intim werden zu können. Es ging also darum, die Betten zusammenzuschieben, die Kleidung auszuziehen, die richtige Liegeposition zu finden und diese zu korrigieren, wenn sie zwischen die Matratzen gerutscht waren.

Ob sich schon mal ein Kunde in mich verliebt hat? Höchstwahrscheinlich schon. Wenn ich aber merke, dass die Gefühle bei meinem Gegenüber überborden, ziehe ich eine klare Grenze und verweise auf Kolleginnen. Heute bin ich selber kaum mehr aktiv und arbeite für das kantonale Informationsprogramm für Prostituierte, Boulevard, als Koordinatorin. Ausserdem möchte ich meine Kraft vermehrt in meinen Verein Corps Solidaries stecken und dessen Ausbildungsprogramme für junge Sexualassistentinnen. Obwohl wir das Mindestalter auf 25 Jahren runtergesetzt haben, finden sich nur wenige passende Anwärterinnen.

Ich sehe die Sexualassistenz als Erweiterung des Pflegesystems, denn Sexualität gehört zu einem gesunden Menschenleben ebenso dazu wie ein gutes Gespräch oder feines Essen. Problematisch finde ich, dass diese Dienstleistung bisher nur einem kleinen Kundenkreis vorbehalten ist: wegen der Kosten – eine Stunde beläuft sich auf mindestens 150 Franken exklusive Spesen –, aber auch aus gesellschaftlichen Gründen. Behinderung und Sex ist für viele ein Tabu. Doch ich finde, wir haben die Pflicht, beeinträchtigte Menschen nicht nur zu versorgen, sondern sie auch wirklich zu integrieren. Und dazu gehört auch die Sexualität.

 

Judith Aregger (53), Genf