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Lustvoll lustlos: Unsere Kolumnistin ist sexmüde

Liebe & Sex 

Lustvoll lustlos: Unsere Kolumnistin ist sexmüde

  • Illustration: Lisa Rock

Helene Aecherli ist sexmüde. Kommt vor. Pikant ist nur: Sie ist unsere Sexkolumnistin. Noch pikanter: Sie scheint die Flaute auch noch zu geniessen.

Als ich vor kurzem an einer ausgelassenen Tischrunde erklärte, dass ich seit Monaten keine Lust mehr auf Sex habe, ja, dass mich das Thema sogar regelrecht langweilt, war es, als sei ich vor versammelter Belegschaft mit 180 Stundenkilometern gegen eine Wand gerast. Erst war man stumm, dann geradezu euphorisch vor Entsetzen: «Um Gottes willen, was ist bloss mit dir los? Sex ist doch etwas vom Schönsten, das es gibt!» – «Du musst überarbeitet sein!» – «Isst du denn richtig? Versuchs mit Vitaminpräparaten!» – «Geh joggen!» – «Du bist mit 47 noch viel zu jung, um keine Lust mehr zu haben. Oder ist das nun schon die Menopause?» – «Du brauchst doch einfach wieder mal einen richtigen Kerl!»

Dergestalt waren also die Reaktionen, und ich betonte eilig, dass ich keineswegs in Depressionen versinke oder an Entzugserscheinungen leide. Nein, ich empfinde mein Leben gerade als aufregend, erfüllt und erfrischend entspannt. Ich habe einfach keine Lust auf Sex. Doch das besänftigte die Gemüter nicht, im Gegenteil: Lustlosigkeit, befand man, sei zwar besonders bei Frauen ein klassisches Thema, auf jeden Fall bei solchen, die in einer langjährigen Beziehung steckten und sich darüber ärgerten, dass ihr Partner in ausgeleierten Unterhosen auf dem Sofa sitze, aber bitte nicht bei Singlefrauen wie mir. Gerade Singles seien doch aufgrund ihrer Freiheit und all der potenziellen Liebhaber dauerscharf. Zudem, und das schien der springende Punkt zu sein, definiere die Wissenschaft Lustlosigkeit als die totale Abwesenheit von sexuellen Gedanken und Aktivitäten, was – gefälligst – auch mit einem gewissen Leidensdruck einhergehen solle.

Die Empörung war offensichtlich – und zeigte Folgendes: Ein Leben ohne Lust ist traurig, und solange es traurig ist, ist es genehm. Verursacht Lustlosigkeit hingegen kein Leiden, sondern gemütliche Unaufgeregtheit, ist dies ein Affront gegen ein gesellschaftliches Paradigma. Denn Sex haben und Sex haben wollen ist zu einem kollektiven Selbstverständnis geworden, zu einem Ausdruck individueller Entfaltung. Diese ist eine Errungenschaft, auf die wir zu Recht stolz sind, und die ich auch gern verteidige, gerade wenn ich in Ländern des Nahen Ostens bin, dort, wo Freunde von mir um eine neue Interpretation ihrer Sexualmoral ringen. Und nun stellte ich unseren Konsens für die Lust mit lustvoller Lustlosigkeit in Frage. Was also ist geschehen?

Noch bis vor einem halben Jahr tigerte ich herum wie eine hungrige Löwin. Dachte wohl häufiger an Sex als alle meine männlichen Kollegen zusammen, war empfänglich für die feinsten erotischen Reize, hatte fast Angst vor der Leidenschaft, die ich in mir ortete, denn sie schien gewaltig und uferlos. Aber irgendwann realisierte ich, dass mir die Lust auf Sex entglitt, einfach so, ohne dass etwas Spezielles vorgefallen wäre. Es war, als hätte ich einen Hebel umgelegt, selbst die leiseste Assoziation mit Sexuellem begann mich zu irritieren. Was vorher noch aufregend war, fühlte sich nur noch schal an. «What the fuck! Lasst mich in Ruhe mit dem Zeug!», wurde zu meinem Mantra.

Ein Flirt? Gern, aber bitte nur zum Mittagessen, dann kann ich nach vierzig Minuten wieder gehen. Ein Dinnerdate mit Sex-Option? Anstrengend. Lieber steige ich nach dem Essen allein in die Badewanne, da muss nur das Wasser heiss sein. Eine Affäre? Die generiert doch kaum mehr als Gebrauchsorgasmen, die so schnell vergessen sind wie der Morgenkaffee. Lapidar. An Afterworkpartys an Hugos nippen? Da jage ich lieber Spinnen mit meiner zweieinhalbjährigen Nichte. All die Vibratoren, die ich einst gekauft habe? Ach, diese ratternden Dinger mit ihren Touchscreens und Motoren mit acht Rotationsmodi. Da nehme ich lieber ein Buch in die Hand. Das hysterische Balzgehabe auf Datingplattformen? Zum Wegklicken. Sex, polterte ich in Gedanken, ist zu einem Must Have geworden wie Skinnyjeans und Clutchbags. Sex sells. Sex im Titel, das wurde mir schon zu Beginn meiner Sexblog-Tätigkeit nahegelegt, lässt jeden Artikel bei Google nach oben schnellen. Vergiss die Poesie. Nach Poesie sucht niemand.

Nicht, dass ich jetzt in ein kulturpessimistisches Lamento versinken will, denn Sex war schon eine konsumistische Banalität, als ich Sex noch erregend und geheimnisvoll fand. Vielleicht aber hat der öffentliche Heisshunger nach Sexuellem tatsächlich einen Overkill verursacht und meine Lust kollabieren lassen. Vielleicht hängt meine Flaute damit zusammen, dass ich mit steigendem Alter zu sagen wage, dass zu vieles einfach nicht interessant ist. Vielleicht aber liegt mein sexueller Dämmerschlaf schlicht und einfach an der Abwesenheit eines starken erotischen Gegenübers – wobei hier, dessen bin ich mir bewusst, das Ursache-Wirkung-Prinzip spielt: Denn meine Baisse färbt sich auf mein Umfeld ab, genauer gesagt auf mögliche sexuelle Inspirationsquellen. Sexuelle Lust ist wie ein Schwungrad, steht es still, schwingt gar nichts mehr. So muss ich mittlerweile eine Ausstrahlung haben, die höchstens noch mit der Sinnlichkeit selbst gestrickter Socken vergleichbar ist. Nicht ungemütlich, finde ich. Aber um diesen Zustand erfolgreich vertreten zu können, brauchte ich die Absolution einer höheren Warte: Ich bat Caroline Fux, Sexratgeberautorin und Beziehungsexpertin beim «Blick», um ein Treffen.

Also sassen wir uns an einem Nachmittag um zwei gegenüber, ihre burschikose Bodenständigkeit war mir auf Anhieb sympathisch. Sie kam sofort auf den Punkt. «Und? Stört dich denn deine Lustlosigkeit? Fehlt dir etwas», fragte sie. «Nein, überhaupt nicht», antwortete ich, «mir geht es grossartig. Ich fühle mich wie in den Ferien» – «Prima. Dann können wir ja das Gespräch gleich beenden. Du hast kein Problem damit, also ist es kein Problem.» – «Aber mein Umfeld macht sich Sorgen. Keinen Sex haben zu wollen, scheint tabu zu sein.» – «Ist es auch. Sexualität wird in unserer Gesellschaft glorifiziert. Da fällt es schwer zu akzeptieren, dass es auch einen Gegenpol gibt. Es ist fast ketzerisch zu sagen, dass man keinen Bock auf Sex hat.» – «Schon morgen ändert sich das vielleicht wieder.» – «Genau. Lust ist kein Konsumgut, das man in einem Erotikshop kaufen kann, sondern etwas Dynamisches, etwas, das in Zyklen verläuft. Mal hat man Lust, dann vielleicht eine Zeit lang nicht mehr.»

Das ist zwar trivial, aber so ist es. Basta. Jetzt lasst uns bitte endlich wieder über was anderes reden.

— «Sex & Sensibility» von annabelle-Redaktorin Helene Aecherli auf sexsensibility.annabelle.ch