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Ehe für alle: So leben Mama und Mami mit ihren Kindern

LGBTQIA+

Ehe für alle: So leben Mama und Mami mit ihren Kindern

Christina und Sarah sind ein Paar. Und zusammen mit Martin haben sie drei Kinder. Wie das funktioniert? Wie bei andern auch. Aber bitte nicht Mama und Mami verwechseln – da kennen die Kinder nämlich kein Pardon.

Im Wohnzimmer hängt ein weisses Blatt, darauf sind in grossen, schwarzen Lettern drei Namen und drei Telefonnummern geschrieben. «Mama» steht da. Und «Mami». Und «Papa». Die Kinder, für die diese Telefonnummern hinterlegt sind, heissen: Lasse, Tilda und Gianna. Sie sind neun, sechs und drei Jahre alt – und die Aufteilung für sie ist klar: Christina ist die Mama. Sarah ist das Mami. Und Martin ist der Papa. Und wenn jemand anruft und fragt, ob die Mama zuhause sei, aber Christina ist nicht da, sondern nur Sarah, dann wird wieder aufgelegt. Mama ist ja nicht da – logisch.

Sarah Schüle und Christina von Ledebur sind Ende zwanzig, als sie sich kennenlernen. Sarah hat zu diesem Zeitpunkt bereits Beziehungen mit Frauen gehabt, für Christina ist es das erste Mal. Als sie ihrer Mutter von der neuen Liebe erzählt, meint diese: «Schade, ich dachte immer, von meinen drei Kindern seist du diejenige, die mal Familie hat.» Was die Mutter von Christina zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiss: Es ist just mit Sarah – einer Frau –, mit der sich ihre Tochter zum ersten Mal überhaupt vorstellen könnte, eine Familie zu gründen. «In keiner Beziehung davor war das ein Thema, mit keinem Mann hatte ich das je in Erwägung gezogen, aber mit ihr schon.» Es stimmte halt einfach, sagt sie. «Wir sind ein gutes Team.»

Die Insemination in die eigene Hand nehmen

Doch zunächst sind es nur wilde Gedankenspielereien, die sie zusammen mit Sarahs Jugendfreund Martin anstellen. Witzig gemeint. Nichts Konkretes. Martin ist schwul, in einer Beziehung. Die drei stehen sich nahe, sehen sich oft, fahren immer wieder gemeinsam in die Ferien. Wenn sie zusammensitzen, scherzen sie, dass Kinder was Tolles wären. Irgendwann verlieren diese Scherze ihren Witz, werden die Überlegungen konkreter. Bei einem gemeinsamen Wochenende auf dem Land – Sarah und Christina sind da schon seit sechs Jahren ein Paar – fällt der Entscheid: Martin, Sarah und Christina werden zusammen ein Kind zeugen.

Da Christina die Familienplanung von Anfang an vorantreibt, schlägt sie vor, das erste Kind auszutragen. Homosexuelle Paare erhalten in der Schweiz keine medizinische Unterstützung bei der Fortpflanzung, also muss Christina die Insemination in die eigene Hand nehmen, gemäss Zykluskalender und nach «Bechermethode», so die wenig romantische, aber durchaus treffende Bezeichnung für das übliche Verfahren bei Heiminseminationen. Nach einem halben Jahr klappt es: Christina ist schwanger.

Neun Monate später liegt Christina im Geburtshaus, Sarah, Martin und sein Lebenspartner sind an ihrer Seite. Ihre aussergewöhnliche Familiensituation haben sie bereits vor der Geburt mit den Hebammen besprochen. «Von den Frauen im Geburtshaus waren mehrere lesbisch», sagt Christina und lacht, «uns wurde also viel Verständnis entgegengebracht.» Ein wenig speziell sei es trotzdem gewesen, zu viert zur Geburt aufzutauchen, zumal alle drei Begleiter die ganze Zeit dabei waren. «Wir wussten sofort, dass wir das beim nächsten Mal nicht mehr so machen würden. Es waren einfach zu viele Leute dabei», erinnert sich Sarah.

Nach der Geburt von Lasse nehmen Christina und Sarah beide Mutterschaftsurlaub, Martin verbringt wenn immer möglich ganze Tage bei der kleinen Familie – allein, da sein Partner sich mittlerweile von ihm getrennt hat. Vor allem für ihn und für Sarah ist die neue Situation gewöhnungsbedürftig. Sarah ist Mutter geworden, ohne geboren zu haben. Und Martin wiederum gratulieren Leute zum Vaterglück und fragen ihn, ob er denn genug Schlaf abbekomme. «Martin hatte zeitweise das Gefühl, sich dafür rechtfertigen zu müssen, dass er sein Kind in der Nacht nicht weinen hört. Und mich hat niemand gefragt, wie ich schlafe», sagt Sarah. Während der ersten Monate trifft sich die Co-Elternschaft regelmässig zur Familienaussprache. Relativ schnell merken die drei jedoch, dass ihnen bei den Treffen die Themen ausgehen. «Klar, man muss sich einig sein über die grundsätzlichen Leitplanken der Erziehung, welche Regeln einem wichtig sind, aber wir kannten Martin ja schon so gut und schon so lang», sagt Christina.

Die Angst vor einer auseinander gerissenen Familie

Für sie und Sarah ist schnell klar, dass sie ein zweites Kind wollen – ein Kind, das diesmal Sarah austragen soll, nicht zuletzt aus folgender Überlegung: Würden Christina und Martin bei einem Unfall ums Leben kommen, hätte Sarah trotz eingetragener Partnerschaft keinen rechtlichen Anspruch darauf, Lasse bei sich aufzuziehen. Hätte Lasse aber eine Schwester oder einen Bruder, dessen biologische Mutter Sarah ist, wäre die Gefahr, dass die Kinder im Ernstfall auseinandergerissen würden, bedeutend kleiner. Eine Garantie jedoch gibt es nicht – und das beschäftigt die beiden: «Die Vorstellung, dass eine von uns die Kinder nicht bei sich behalten könnte, ist schrecklich», sagt Sarah.

Ihren Wunsch nach einem dritten Kind offenbaren Sarah und Christina Martin an Lasses viertem Geburtstag. Nach einem letzten Bier nimmt Christina ihren Mut zusammen und fragt Martin, ob er sich ein weiteres Kind ebenfalls vorstellen könnte. «Seine Antwort war eigentlich Nein», erinnert sich Sarah. «Aber uns zuliebe wollte er es sich nochmals überlegen.» Nach seinen Ferien meint er ein wenig überraschend: Irgendwie habe er das Gefühl, dass noch jemand fehle. Sarah wird schwanger und wie beim letzten Mal bestreiten sie und Christina auch die Geburt des dritten Kindes zu Beginn allein, Martin kommt für den «Schlussspurt» dazu.

Heute ist die Regenbogenfamilie ein eingespieltes Team. Einen Tag und eine Nacht in der Woche und ein bis zwei Wochenenden im Monat verbringen die Kinder bei Martin. Manchmal fragt Tilda ihre Mütter, bei wem sie jetzt schon wieder im Bauch gewesen sei. Oder Lasse fragt, wie es dazu kam, dass er gleich zwei Mütter und einen Vater hat. Solche Fragen beantworten alle drei Elternteile ehrlich – und zwar von Anfang an. Denn sie wollen ihren Kindern vermitteln, dass es unterschiedliche Konzepte von Familie gibt – auch wenn Sarah und Christina im Grunde die Erfahrung gemacht haben, dass für kleine Kinder Familienentwürfe nur halb so interessant sind wie andere Dinge. «Wir haben mal ein befreundetes lesbisches Pärchen besucht, das auch Kinder hat, da war Lasse noch kleiner. Wir wollten ihm zeigen, dass es noch andere Kinder mit zwei Müttern gibt», erzählt Christina. «Nach meiner ganzen einfühlsamen Erklärung schaute mich Lasse an und meinte: ‹Mama, die sind doch nicht gleich wie wir. Die haben einen Hund!›»

Die Kinder wissen, dass sie keine normale Familie sind. Aber eben, was heisst schon normal? So ein Regenbogen hat viele Farben. Manche Freundinnen und Freunde von Lasse, Tilda und Gianna haben Eltern, die geschieden sind, wachsen mit einer alleinerziehenden Mutter oder bei den Grosseltern auf. Andere kennen ihren leiblichen Vater nicht, andere wiederum haben zwei Mütter oder zwei Väter oder einen Vater und eine neue Mutter. Trotzdem ruft Sarah bei jeder neuen Betreuungsperson ihrer Kinder in der Schule, im Kindergarten oder in der Krippe an und erklärt das eigene Familienmodell, weist darauf hin, dass sie das Mami und Christina die Mama ist und dass Tilda vielleicht nicht versteht, wenn man das verwechselt. Sarah, die selber in einer Primarschule arbeitet, besucht manchmal auch andere Klassen und erzählt von ihrer Familie. Denn: «Christina und ich würden uns wünschen, dass schon in der Schule viel mehr über Themen wie Homosexualität oder Familienvielfalt gesprochen wird.» Wenn sie sehe, dass ein Kind bestraft werde, weil es das Wort «schwul» als Schimpfwort benutzt habe, aber nicht mit ihm über die Bedeutung des Worts gesprochen werde, könne sie nur den Kopf schütteln.

Diskriminierung haben die beiden bis anhin kaum erleben müssen – und auch ihre Kinder nicht. Christina und Sarah hoffen, dass die Lehrpersonen ihrer Kinder aufmerksam sind und sich bei ihnen melden würden, wenn es ein Problem gäbe. «Es wird vielleicht schon Phasen geben, in denen es schwieriger wird, aber momentan kümmert die Kinder nicht, warum sie zwei Mütter haben. Sie wollen wissen, wer das schönste rote Velo hat.»

Der Wunsch nach mehr Repräsentation

Christina geniesst es, ab und zu für Irritation zu sorgen, zum Beispiel wenn ein Handwerker ins Haus kommt, das Ehebett sieht, die Familienfotos, die Kinder und beim Abschied trotzdem meint, dass Christina ihrer «Kollegin» erklären könne, dass alles erledigt sei. Dann spricht sie von Sarah besonders gern und deutlich als ihrer Frau. Oder wenn sie in den Italienferien sind und die Réceptionistin ihnen Komplimente macht, weil sie «so schöne Schwestern» seien. Aber mittlerweile sei es ihr nicht mehr so wichtig, die Leute zu korrigieren, meint Christina. «Andere Dinge sind bedeutender geworden. Die Familie. Der Alltag. Die Kinder. Ich frage mich: Geht es ihnen gut, brauchen sie was, haben wir alles dabei, muss jemand aufs Klo? Die üblichen Dinge halt, um die man sich als Mutter und Vater sorgt – dann sollen die Leute doch denken, wir seien Schwestern. Was spielt das letztlich für eine Rolle?» Die beiden wünschen sich aber, dass sich das Bild eines homosexuellen Paars mit Kindern mehr in der Gesellschaft verbreiten wird. Dass es mehr Kinder- und Jugendliteratur gibt, die es Kindern aus Regenbogenfamilien ermöglicht, sich in ihren Heldinnen und Helden zu spiegeln. Dass die Hetero-Norm abnimmt. Dass auch mal ein lesbisches Paar mit Kindern in einem Film vorkommt oder in einer TV-Serie – einfach so, nicht als Spezialfall. Und dass in Schulen darüber geredet wird, was es heisst, homosexuell zu sein und wie unterschiedlich sich Familien zusammensetzen können.

Hin und wieder fragen sich Christina und Sarah, wie sie damals die Kraft fanden, diesen Schritt zusammen mit Martin zu gehen. «Wir kannten keine Frauen, die Kinder hatten. Wir wussten nichts, wir machten einfach», erinnert sich Sarah und meint: «Eigentlich waren wir verdammt mutig.» Vor ein paar Monaten spazierten sie mit ihren drei Kindern am Pride Festival zusammen mit dem Dachverband Regenbogenfamilien durch Zürich. Christina sah, wie eine junge Frau sie beobachtete, wie sie zuerst auf Gianna zeigte und dann auf sie – und dann zu ihrer Begleiterin sagte: «Siehst du das? Das bin ich in fünf Jahren.» Christina lächelt. «Vielleicht können wir ja für manche Frauen so was wie ein Vorbild sein. Wenn jemand diesen Text hier liest und merkt: Hey, das kann klappen, das kann richtig gut sein, dann ist das doch viel wert, oder?»