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Das Leben als junge Witwe

Body & Soul

Das Leben als junge Witwe

  • Text: Stephanie Hess; Fotoillustration: Christian Knörr & Helvetia Leal

Wie geht man mit dem Tod der grossen Liebe um? Was bedeutet der Verlust für die Familie? Und kann es irgendwann eine neue Beziehung geben? Vier Frauen, die in jungen Jahren Witwe geworden sind, über den Weg zurück ins Leben.

I. Der Tod

Lehrerin

Beim Joggen hatte er es zum ersten Mal gespürt. Er meinte danach zu mir, dass sich Bilder von früher plötzlich in sein Bewusstsein geschoben hätten. Tage später sah ich ihn, wie er verwirrt auf dem Traktor sass. Ich rief den Notarzt. Im Spital fand man einen Tumor in seinem Hirn. Eineinhalb Zentimeter lang. Sie operierten sofort, sägten ihm jasskartengross den Schädel auf, schnitten die Geschwulst heraus. Da war er 49, ich 48. Unsere beiden Töchter 20 und 18. Ich glaube, das war die Zeit, in der ich am meisten weinte.

Es folgten Chemo und Bestrahlung. Für eine kurze Weile schien alles überstanden. Dann wuchs der Tumor erneut. Den konnte man nochmals operieren. Den folgenden nicht mehr. Im letzten Jahr pflegte ich ihn zuhause. Er konnte nicht mehr sprechen, sich bald nicht mehr bewegen, nicht mehr essen und trinken. Aus seiner Mimik musste ich lesen, was er braucht, was ihm wehtut. Es ist eine Erfahrung, die tief, tief sitzt.

Bevor er zuhause in seinem Bett im Alter von 51 Jahren starb, hat er die eine Tochter, die dabei war, und mich ganz fest angeschaut. Und ich sagte zu ihm: Es ist gut, du kannst gehen. Es ist gut, wenn du nicht mehr leiden musst.

Hausfrau

Am 3. September 2005 ist mein Mann mit dem Rennvelo verunglückt. Ein Selbstunfall. In einer Kurve, wo drei Bäume stehen, platzte ein Pneu. Er stürzte frontal in einen der Stämme und war auf der Stelle tot. Unsere beiden Mädchen waren noch klein, 2 Jahre und knapp 6 Monate alt. Mein Mann war ein leidenschaftlicher Bergsteiger und Kletterer. Dass er dabei tödlich verunfallen könnte, diese Gefahr schwebte immer über uns. Aber doch nicht beim Training mit dem Rennvelo?! Schlimm war für mich zuerst nicht einmal der Verlust an sich. Sondern dass meinem Mann mit diesem frühen Tod so viel genommen wurde. Er war gerade mal 34 Jahre alt. Ich 31.

Sozialpädagogin

Mein Mann ging zum Arzt, weil sich seine Zunge im Mund so schwer anfühlte. Wenige Tage später wusste er, dass in den nächsten Jahren eine unheilbare Krankheit von ihm Besitz ergreifen würde. Stück für Stück würde sie seinen Körper lähmen, von Zunge und Hals nach unten wandern, zu Armen und Beinen. Eine Therapie gegen diese neurologische Erkrankung gibt es nicht. Obwohl der frühe Tod – mein Mann war damals 41 Jahre alt – unausweichlich war, hat er gekämpft, extrem gekämpft. Vor allem für seine drei kleinen Kinder. Sie waren 6, 4 und 1. Dass er sie nicht aufwachsen sehen würde, das konnte er kaum verkraften. Damit haderte er, bis er starb.

Er kämpfte diesen aussichtslosen Kampf gegen die Krankheit intensiv, wurde sehr verbissen. Irgendwann wünschten wir ihm alle nur noch, dass er loslassen kann. Und ich fühlte, dass jetzt jeder für sich schauen musste. Das war wohl mit ein Grund, weshalb ich mich in einen anderen Mann verliebte. Vielleicht wollte ich auch einfach in etwas investieren, das in die Zukunft reicht. In etwas, das weitergeht. In etwas, das noch da ist, wenn das andere fertig ist. Diese Perspektivlosigkeit, das aussichtslose Schicksal meines Mannes waren so traurig, so unfassbar traurig.

Doch dann wurde mir bewusst, dass es keinen Ausweg gibt und dass wir diesen Weg gemeinsam bis zum Ende gehen müssen. Mein Mann und ich. Kurz darauf, mit 44, starb er an einem Infekt der Atemwege.

Projektleiterin

Mein Mann rief mich am Morgen an und meinte, er wolle mir noch einen Kuss schicken – und mich daran erinnern, den Grünkübel vor die Haustür zu stellen. Wir lachten.

Er war Architekt, ich war es gewohnt, dass er abends lang arbeitete. Irgendwann schrieb ich ihm ein Mail, wann er denn nachhause komme, aber er meldete sich nicht. Dann rief ich ins Büro an. Sein Geschäftspartner sagte mir, dass er über Mittag joggen gegangen sei. Er habe gedacht, er sei nachhause gelaufen. Ich rief die Polizei an, meldete ihn als vermisst. Später fuhr ein Auto vors Haus, da wusste ich es innerlich schon. Einer der beiden Polizisten legte seinen Ehering auf den Tisch. Schlicht und golden. Ist das der von Ihrem Mann? Er starb mit 52 Jahren während des Joggens am Fluss an einem plötzlichen Herzstillstand. Ich war damals 48. Es war sackbrutal, es unseren bereits erwachsenen Töchtern mitzuteilen. Die beiden wären am nächsten Tag zusammen in die Ferien geflogen. Von einer Sekunde auf die andere brach das Leben Nummer zwei an.

II. Die Trauer

Lehrerin

Meine Töchter, die ihren Daddy sehr vermissten, waren immer in meiner Nähe, schauten liebevoll zu mir. Dennoch fühlte ich mich so allein. Ich begann, wie wir es zuvor gemeinsam geplant hatten, das Bauernhaus umzubauen, schlug Wände ein, riss Böden raus, schleppte, mauerte, zementierte. Und weinte.

Neben der Arbeit auf dem Bauernhof hatte ich immer als Lehrerin gearbeitet. Als ich nach der kurzen Auszeit wieder ins Schulzimmer kam, drückten die Kinder mir selber gemalte Bilder in die Hand. Sie sagten mir, ich solle mir keine Sorgen machen, sie seien überzeugt, dass es meinem Mann gut gehe im Himmel. Diese Arbeit, diese Aufgabe hat mich getragen.

Hausfrau

Die erste Zeit habe ich einfach funktioniert. Vor allem wegen meiner beiden Töchter. Die waren noch so klein. Die Grössere wollte Büchlein erzählt bekommen, die Kleine giggelte, lernte zu krabbeln. Ihre Arglosigkeit gab mir Boden.

Wir wohnten damals im ehemaligen Elternhaus meines Mannes. Ich merkte jedoch kurz nach seinem Tod, dass hier die Vergangenheit immer wieder aufbrechen, dass ich hier keine Zukunft haben würde. Nach einem halben Jahr zogen wir ins Nachbardorf.

Am schlimmsten war es, am Wochenende allein etwas mit den Kindern zu unternehmen. Ich fühlte mich schlicht amputiert. Überall sah ich intakte Familien. Es gab Momente, da hätte ich sie am liebsten angeschrien: Wisst ihr eigentlich, was für ein Glück ihr habt?

Sozialpädagogin

Das erste Jahr nach dem Tod galt: machen, nicht denken. Eigentlich stand ich immer kurz vor dem Zusammenbruch. Einmal sagte mein Sohn ganz arglos: «Mami, wann verliebst du dich eigentlich wieder?» Ich begann zu weinen und konnte nicht mehr aufhören.

Projektleiterin

Nach dem Tod häufte sich ein Berg Arbeit an. Mein Mann war als Architekt selbstständig, wir besassen mehrere Immobilien, um die er sich allein gekümmert hatte. Ich arbeitete einen Ordner nach dem anderen durch, um zu kapieren, was ich da alles bezahlen, umschreiben, organisieren musste. Daneben führte ich meine eigene Kommunikationsfirma. Ich arbeitete nächtelang durch, schlief kaum. Das war Raubbau an meinem Körper.

Ich glaube, der Mensch kann viel ertragen. Dass ich in dieser Zeit nicht kollabiert bin, hängt zu einem grossen Teil aber auch damit zusammen, dass ich sozial gut eingebettet war. Das war mir schon immer wichtig, ein eigenes Umfeld zu haben.

III. Das Erwachen

Lehrerin

Meine Freundinnen staunten, als ich ihnen eineinhalb Jahre nach dem Tod meines Mannes von dieser Onlinepartnerbörse erzählte. Ich sei ja mutig, meinten sie. Aber ich hatte einfach gespürt, dass ich nicht allein bleiben kann. Ich liebe es so sehr, Menschen um mich zu haben. Schon als junges Paar hatten mein Mann und ich uns gegenseitig versprochen, eine neue Liebe zu suchen, falls einer von uns sterben müsste. Das hat mir ungeheuer geholfen, diesen Schritt zu machen.

Kurz bevor ich in meinem Profil die Kantone eingrenzte und unter anderem Basel streichen wollte, meldete sich ein Mann aus dem Baselbiet. Die Art, wie er schrieb, hat mich berührt. Er war direkt, liebenswürdig. Als wir uns trafen, hat er mein Herz erobert.

Hausfrau

Zwei Monate vor seinem Tod sagte mein Mann: Falls mir etwas passiert, möchte ich, dass du dich wieder verliebst und glücklich wirst. Und ich sagte: Gehts noch, ich will dich und keinen anderen! Heute sage ich: Ich bin froh, dass wir darüber geredet haben.

Ich unternahm mehrere Versuche, einen neuen Partner im Internet kennen zu lernen. Kaum kam aber Nähe auf, zog ich mich zurück. Das ging mehrere Jahre so. Irgendwann war ich überzeugt, dass es die Liebe, die ich für meinen Mann empfunden hatte, kein zweites Mal geben würde. Dass mein Quantum an Liebe in diesem Leben schon aufgebraucht war.

Als ich 40 wurde, also neun Jahre nach dem Tod meines Mannes, machte ich mich allein auf zu einer zweitägigen Bergtour in der Zentralschweiz. Abends in der Hütte sass ich in der Mitte des einzigen grossen Tischs im Raum. Und dann kam er, mit einem Bierglas in der Hand, und sagte: Hallo, ich bin Sandro *. Schon da ist etwas in mir explodiert. Wir haben den ganzen Abend zusammen geredet, ein paar Mal schauten wir uns tief in die Augen. Am Ende fragte er mich, ob wir am anderen Tag die Wanderung gemeinsam machen wollten. Und ich sagte Ja.

Sozialpädagogin

Ich habe es weder gesucht, noch fühlte ich mich bereit dafür: Aber ich fand einen neuen Partner, da war kaum ein Jahr rum und ich 41. Ich stand vor meinem Haus, am Gartenhag. Er spazierte vorbei und sprach mich an, weil unsere Kinder in die gleiche Klasse gingen. Er war ins Quartier gezogen, nachdem er sich von seiner Frau getrennt hatte. Er sagte, wir könnten ja mal ein Glas Wein zusammen trinken. Dass das ein Date sein würde, hatte ich überhaupt nicht gecheckt.

Ich war damals nicht in der Verfassung, mir Gedanken über meine Zukunft zu machen, ich war zu kaputt. Aber für ihn war schnell klar, dass mehr zwischen uns war als nur eine Affäre. Dass er so überzeugt war, gab dieser Beziehung Boden. Und mir auch.

Projektleiterin

Es dauerte etwa sieben Jahre, bis ich den Kopf wieder über Wasser hatte. Eines Abends sass ich an meinem grossen Stubentisch, ass Käse direkt aus der Verpackung. Ich hatte nicht einmal einen Teller genommen. Da entschied ich: Jetzt muss sich etwas ändern. Ich hatte mich zuvor auch schon durch die Onlineportale geklickt. Aber nun nahm ich mir bewusst vor, dass ich ein Jahr lang so viele Dates habe würde wie möglich. Ich war 22, als ich meinen Mann kennen gelernt hatte. Mit Mitte 50 wusste ich gar nicht mehr, wie diese Flirterei geht.

Nach zwei Wochen dann schon ein Treffer. Ein interessanter Mann, der sich mit mir am Fluss verabredete. Was er nicht wissen konnte: Er schlug den Ort auf der gegenüberliegenden Flussseite vor, wo mein Mann ums Leben gekommen war. Ich ging erst dort vorbei, stützte mich aufs Geländer, schaute aufs Wasser und die Schiffe. Plötzlich überkam mich ein unglaublich gutes Gefühl. Ich ging über die Brücke, da stand meine Verabredung, strahlend. Ich wollte maximal eine Stunde investieren. Es wurden vier.

IV. Die neue Liebe

Lehrerin

Man kann sich nochmals Hals über Kopf verlieben, absolut! Mit Herzrasen, heissen Wangen und dass man vor dem Türöffnen noch zweimal in den Spiegel schaut. Ich möchte gern noch mal so hübsch und jung sein wie bei meiner ersten Liebe – aber ich bin nun 55 und habe von meinen Sorgen einige Falten bekommen. Dann schau ich mein Gegenüber an und sehe auch da einen alternden Mann – doch sein Gesicht ist so hübsch für mich, ich kann es stundenlang betrachten. Aber viel wichtiger sind andere Dinge. Vom Herzen her muss es stimmen. Er nimmt mich in den Arm, wenns mir schlecht geht. Wie damals, als ich plötzlich die Lieblingshose meines verstorbenen Mannes in der Hand hielt und nur noch weinen konnte.

Anfangs habe ich mich gefragt: Ist das erlaubt? Aber ich weiss: Die, die fort sind, kommen nie mehr. Nichts, gar nichts bringt sie uns je wieder zurück. Aber sie bleiben im Herzen drin. Also muss das Herz einfach grösser werden.

Hausfrau

Schon nach kurzer Zeit mit ihm merkte ich: Ich habe wieder eine Familie. Obwohl meine ältere Tochter erst grosse Probleme hatte mit dieser Situation. Sie war damals 11, die jüngere 9. Zwar mochte sie meinen neuen Partner, aber sie wollte nicht, dass er an meiner Seite war. Dann entschieden er und ich auch noch, dass wir vom Baselbiet in die Zentralschweiz ziehen, in sein Bauernhaus, von dem aus man über den See sieht. Als wir es den Mädchen sagten, rannten beide weinend davon. Natürlich tat es mir weh. Aber mir war auch bewusst, wie wichtig mir diese Beziehung war. Und dass ich mich nicht nach den Mädchen richten konnte, dass sie jetzt einfach mithüpfen mussten. Denn in ein paar Jahren würden auch sie ihren eigenen Weg gehen.

Ich pflege heute mein Gärtchen, meine Selbstständigkeit, mein eigenes Umfeld mehr. Das ist mir wichtig. Und es steht nirgends geschrieben, dass ich nicht noch mal einen Partner verliere.

Ich dachte, nachdem ich ein so hartes Schicksal erlebt hatte, würde ich jeden Tag geniessen. Doch dieses Gefühl verliert sich. Und dennoch sitzen mein Partner und ich oft hier in der Stube mit der Katze auf dem Schoss, blicken auf den See und sind einfach dankbar.

Sozialpädagogin

Viele dachten, jetzt hat sie einen neuen Partner, jetzt ist die Trauer weg. Aber das stimmt nicht. Ich habe auch nicht das Gefühl, dass mein neuer Partner meinen Mann ersetzt. In meiner Gefühlswelt haben mein verstorbener Mann und mein neuer Partner überhaupt nichts miteinander zu tun. Das sind zwei Gleise, die nebeneinander laufen. Ich muss auch ehrlich sagen: Ich hätte es nicht ertragen, wenn er meinem verstorbenen Mann ähnlich gewesen wäre. Ich bin froh, dass sie unterschiedlich sind. Ich muss nicht vergleichen.

Mein neuer Partner und ich sind Nachbarn, das möchte ich so beibehalten. Ab und zu verbringen wir ein Wochenende zusammen. Unter der Woche besuchen wir uns zuweilen abends, wenn die Kinder im Bett sind. Was zeitlich aber oft schwierig ist. Ich habe ja meine Kinder, und er hat ebenfalls drei, für die er das Sorgerecht mit seiner Frau teilt.

Die körperliche Nähe war am Anfang nicht ganz einfach. Ich bin mit heute 43 Jahren mit meinem Körper zwar mehr denn je ausgesöhnt. Dennoch war der erste Moment im Bett komisch. Ich war dreimal schwanger, hatte drei Geburten. Wie findet er mich? Bin ich zu dick? Zu dünn? Aber dann merkte ich, dass für ihn die Spuren an meinem Körper völlig logisch sind, dass sein Körper auch welche trägt. Und dass er mich schön findet, wie ich bin.

Projektleiterin

Ich finde es wunderschön, am Morgen einen Gruss von ihm auf dem Handy zu haben oder am Abend zu telefonieren. Oder wenn er joggen geht, holt er sich kurz einen Kuss ab und zieht wieder von dannen. Ja, er ist tatsächlich ein Läufer! Nie im Leben hätte ich gedacht, dass ich nochmals mit einem Jogger zusammen sein würde.

Obwohl die Zweisamkeit natürlich sehr schön ist, wäre es für mich auch in Ordnung gewesen, wenn ich keinen Partner mehr gefunden hätte. Ich finde, wir erfahrenen Frauen haben noch andere Aufgaben in der Welt, als in eine häusliche, abgeschirmte Rolle zu verfallen. Ich arbeite, unterstütze junge Leute bei ihren Projekten und engagiere mich sozial.

Wie sich diese neue Liebe anfühlt? Sie ist aufregend. Nicht mehr so aufregend wie mit 20. Aber es fühlt sich sehr warm an, und tief.

Zwei Frauen wurden vom Verein Aurora vermittelt. Der Verein ist eine Informations- und Kontaktstelle für Verwitwete mit minderjährigen Kindern. Er berät Angehörige, vermittelt Fachberatung, Ferienwochen mit Kindern und Kurse zur Alltagsbewältigung.
verein-aurora.ch

 

Pasqualina Perrig-Chiello forscht und lehrt an der Universität Bern. Die Professorin für Entwicklungspsychologie leitet unter anderem eine grosse Studie über Verwitwung.

“Eine lange Beziehung schliesst man nie ganz ab”

Pasqualina Perrig-Chiello, was passiert mit uns, wenn der Lebenspartner stirbt?
Ein Stück unserer Identität geht verloren. Die Wir-Form gibt es nicht mehr, nur die Ich-Form bleibt zurück. Diese Leere wird als sehr schmerzhaft empfunden. Die trauernde Person muss sich neu definieren.

Wie können wir das bewältigen?
Wie wir mit einem Todesfall umgehen, hängt zu einem grossen Teil von unserer Persönlichkeit ab. Emotional stabile und offene Menschen haben klar die besseren Karten. Auch Umweltfaktoren beeinflussen, wie lange wir leiden. Beispielsweise ob ein unterstützendes Umfeld da ist. Ob wir selber gesund sind und über finanzielle Sicherheiten verfügen. Vor diesem Hintergrund haben wir in unserer Forschung drei Bewältigungsverläufe feststellen können: Etwa 40 Prozent der Menschen erholen sich rasch und sehr gut vom Tod des Partners. 50 Prozent erholen sich gut, aber rund 10 Prozent der Befragten erholen sich gar nicht.

Trauern Frauen anders als Männer?
Frauen reagieren eher mit Traurigkeit, mit depressiven Symptomen, wenn der Ehepartner stirbt. Männer leiden insbesondere an Einsamkeit. Und das ist ihr grosses Problem: Männer gelten in den ersten sechs Monaten nach der Verwitwung als Risikogruppe für Suizid.

Frauen nicht?
Nein, das Risiko ist viel kleiner.

Warum ist das so?
Nach wie vor leben Männer sehr partnerzentriert. Die Partnerin ist meist die einzige Anlaufstelle für intime Probleme. Frauen hingegen haben oft mehrere Vertrauenspersonen. Und damit ein Netz, das sie auffängt. Das ist wichtig, um mit dem Tod umzugehen. Die Bereitschaft der Frauen, sich Hilfe zu suchen, ist eine grosse Stärke.

Männer holen sich keine Hilfe?
In unserer Befragung sagen viele, dass man diesen Verlust mit sich selber ausmachen müsse. Da stehen ihnen die tradierten Geschlechterrollen im Weg.

Darum gehen Männer schneller wieder eine Beziehung ein?
Ja, sie überwinden die Einsamkeit mit einer neuen Beziehung. In unserer Stichprobe sind nach drei Jahren 40 Prozent der Männer wieder in einer Partnerschaft, jedoch nur 10 Prozent bei den Frauen. Auch die Hintergründe, weshalb sie wieder eine Beziehung eingehen möchten, sind verschieden. Männer suchen primär eine Partnerin für den gemeinsamen Alltag, eher auch eine sexuelle Beziehung. Frauen jedoch möchten mehrheitlich einen Partner mit getrenntem Haushalt, mit dem sie Dinge unternehmen können.

Kann man denn je mit einem verstorbenen Partner abschliessen?
Eine lange Beziehung schliesst man nie ganz ab. Die Person trägt man immer noch in sich. Aber es gilt, das Gewesene als Teil der eigenen Biografie zu sehen.

Sagt die Länge der Trauer etwas aus über die Grösse der Liebe zum Partner?
Nein. Die allzu lange oder gar überdauernde Trauer hat viel mehr mit der Persönlichkeit des Trauernden und den Umständen des Todes zu tun.

Können Menschen den plötzlichen Tod des Ehepartners schwerer verarbeiten als das Sterben nach einer langen Krankheit?
Ja. Eine lange Krankheit des Partners impliziert schon ein langsames Abschiednehmen. Ein plötzlicher Tod hingegen stellt das ganze Leben unvorbereitet auf den Kopf.

Ab wann soll man denn eine neue Beziehung eingehen?
Dann, wenn man die eigene Identität wieder neu definiert hat. Wenn man mit der neuen Partnerschaft nicht nur die Einsamkeit auffüllen will, sondern bereit ist, sich einem neuen Partner zu öffnen.

Wie lange dauert das?
Das ist sehr individuell. Aber Forschung und Praxis zeigen, dass im Schnitt zwei Jahre nötig sind. Gemäss diesem in der Psychologie Back-to-the-Baseline genannten Phänomen hat jeder von uns ein bestimmtes Grundniveau des Wohlbefindens. Wenn etwas sehr Positives oder sehr Negatives in unserem Leben passiert, schnellt dieses Niveau rauf oder runter, aber nach einer bestimmten Zeit pendelt es sich wieder da ein, wo es war. Und das ist gemäss der Forschung durchschnittlich nach zwei Jahren der Fall.

Können wir uns in unserem Leben denn eigentlich unbegrenzt viele Male verlieben?
Wir können uns immer wieder und bis ins hohe Alter schwer verlieben. Die Intensität nimmt wohl sogar zu mit dem Alter. Denn das Verlieben erhält eine existenzielle Form, die es in jungen Jahren nicht hat. Als junger Mensch hat man so viele Möglichkeiten, es gibt viele Menschen, die frei sind, man ist ungezwungener.

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«Überall sah ich intakte Familien. Manchmal hätte ich sie am liebsten angeschrien: Wisst ihr eigentlich, was für ein Glück ihr habt?»