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Welcher Kanton hat die tiefste Scheidungsrate?

Body & Soul

Welcher Kanton hat die tiefste Scheidungsrate?

  • Text: Franziska K. Müller; Fotos: Stephan Rappo 

Der Kanton Uri hat die traditionell niedrigste, der Kanton Neuenburg die höchste Scheidungsrate im Land. Welche Gründe gibt es für die beiden Extreme? Eine Spurensuche.

Frauen jeden Alters eilen über den Marktplatz von Altdorf. Man sieht sich, man trifft sich. Gestricktes und Gehäkeltes, Gefilztes und Getöpfertes liegt in den Auslagen – aber auch viel Zubehör für spirituelle Aktivitäten. Energien wollen gebündelt, schlechte Gefühle mit Duftölen, Edelsteinen und Räucherritualen bekämpft werden. Esoterische Heiler und flamboyante Traumfänger stossen im Urkanton vor allem bei der weiblichen Bevölkerung auf offene Ohren, heisst es. Zigfach informiert entlang der Hauptstrasse ein Plakat über das schamanische Geschehen und über das laufende Kursangebot des grössten weiblichen Netzwerkes, der Frauengemeinschaft Altdorf: Nein sagen, ohne andere vor den Kopf zu stossen. Wortgottesdienst in der St.-Anna-Kapelle. Vorher-nachher-Styling.

Als grösster Spass des Jahres galt bisher die Fasnacht; doch seit die Frauen beim einst traditionell männlichen Eintrommeln mitwirken dürfen, haben manche Urner die Instrumente für immer niedergelegt.

In der Beiz kennen sie sich beim Vornamen. Ueli, Hans, Köbi, ein Giacomo ist auch dabei – und am Abend sieht man sich wieder; in der Feuerwehr, im Jagd- und im Turnverein, im Jodelchor. «Die Frauen sind froh, wenn sie uns los sind. Und umgekehrt ist es genauso», erklärt Ueli nicht nur das Geheimnis der hier herrschenden populären Vereinskultur, sondern auch einen möglichen Grund für einen Landesrekord: Im langjährigen Schnitt wird im Kanton Uri (und in Appenzell Innerrhoden) am wenigsten oft geschieden. Die Rate lag 2014 bei 22.6 Prozent, das heisst, nur etwas mehr als jede fünfte Ehe ging in die Brüche.

Ganz anders verhält es sich im Kanton Neuenburg. Dort trennte sich im gleichen Jahr rund die Hälfte aller Verheirateten (48.6 Prozent). Und während der welsche Kanton auch über die höchste Arbeitslosenquote (6.1 Prozent) des Landes verfügt, ist diese nirgendwo niedriger als im Kanton Uri (1.2 Prozent).

Keine zweieinhalb Autostunden liegen zwischen den beiden Kantonen – und doch trennen sie Welten. Woran liegt das? Warum ist im einen Kanton die Scheidungsrate mehr als doppelt so tief wie im anderen? Und was ist eigentlich beunruhigender, wenn man genauer hinschaut? Wir haben uns diesseits und jenseits des Schweizer Scheidungsgrabens auf Spurensuche gemacht.

Auf einem Ausläufer der steil abfallenden Eggberge liegt das barocke Kulturerbe von Altdorf, die römischkatholische Kirche St. Martin. Daniel Krieg (43) rührt in der Kaffeetasse, eine Kerze brennt auf dem Tisch. Die ältere Generation der Urnerinnen und Urner bezeichnet sich als gläubig, doch der Gang ins Gotteshaus sei in den vergangenen Jahren in jedem Alter seltener geworden, beobachtet der Pfarrer und Seelsorger. Von den Jungen lasse sich noch jedes dritte Paar kirchlich trauen. Manche tun es mit dem Baby im Arm. Viele andere wählen freie Zeremonien. Und auf den Ehevorbereitungskurs, der über die Verpf lichtungen eines heiligen Versprechens, den unbedingten Wert eines gemeinsamen Lebensweges in Partnerschaft, Respekt, Verantwortung und Liebe informiert, aber auch über allfällige Stolpersteine in der Beziehung, die mit einer allfälligen Scheidung verbunden sein können, verzichten die meisten.

Die Neuzeit ging nicht spurlos an Uri vorüber, und trotzdem halten die Beziehungen hier für die Ewigkeit. Nicht unbedingt weil sie glücklicher sind als anderswo. «Wenn die Auflösung der Ehe keine eigentliche Option ist, relativieren sich vermutlich auch manche Probleme », sagt Pfarrer Daniel Krieg.

Katholisch, bäuerlich, konservativ? Die Einheimischen sehen es anders: Das Fremde gehöre zum Kanton seit dem Bau der Gotthardlinie im 19. Jahrhundert. Die lange Zeit wichtigste Nord-Süd-Verbindung des Landes habe manche Spuren hinterlassen. Italienische Namen zum Beispiel. Oder Kümmelwürste aus dem Tessin. «Die Urner sind toleranter, als viele denken», findet Urs Althaus. Der uneheliche Sohn einer Altdorferin und eines Nigerianers erlangte als eines der ersten männlichen Models internationale Berühmtheit und ist im Kanton so bekannt wie ein bunter Hund; aufgrund seiner abenteuerlichen Biografie, die hier alle kennen, aber auch wegen seiner Hautfarbe. «Diskriminierung erlebten wir nie», sagt er. «Im Gegenteil: Meine unverheiratete Mutter und ihr Negerkind waren bestens integriert.» Als Urs Althaus «nach wilden Jahren » nach Uri zurückkehrte, habe man ihn mit offenen Armen empfangen. Wenn jeder jeden kenne, sei die soziale Kontrolle zwar gross, man verzeihe einander aber auch Fehler und Misstritte, sagt der 60-Jährige.

Urs Althaus trifft sich regelmässig mit ein paar Urnerinnen im Café Central am Rathausplatz. Die Runde schwadroniert, und beim nachmittäglichen Prosecco wird viel gelacht. Zur niedrigen Scheidungsrate kursieren verschiedene Erklärungen. «Viele Männer und Frauen leben jahrelang getrennt, zudem wollen viele junge Urnerinnen gar nicht mehr heiraten», behauptet Ursula Huber-Brüesch (62). Die ehemalige Banker-Gattin kehrte nach vielen Jahren in Hongkong in eine Heimat zurück, mit der sie zwiespältige Gefühle verbindet; Gefängnis und geschützte Oase zugleich. Im viel gelesenen Urner «Narrenblatt» wurde sie wegen ihrer beiden Scheidungen namentlich an den Pranger gestellt. Die zwischen den Zeilen gestellte Frage, ob einer Lust habe, Ehemann Nummer drei zu werden, habe sie als unangenehm empfunden.

Die meisten anderen Altdorferinnen besitzen, was Familienforscher auch in der übrigen Schweiz als ehebindende Faktoren bezeichnen: Haus, Kinder, eine gemeinsame Vergangenheit. Doch in Uri trägt ein weiterer Faktor zur Langlebigkeit der Ehen bei, ist die Altdorfer Paartherapeutin Anja Gamma-Imsand (34) überzeugt: Persönliche Zufriedenheit, aber auch Ablenkung von Beziehungsproblemen finden die Frauen – ähnlich wie die Männer in ihren Vereinen – in der familiären Gemeinschaft und bei der Verrichtung gemeinnütziger Arbeit. Die Ansprüche an die Liebe seien zudem pragmatisch. Dass der andere jedem Bedürfnis gerecht werden müsse, diese Erwartung hege man nicht, meint Anja Gamma-Imsand. Zudem: Begriffe wie weibliche Unabhängigkeit, Individualismus und Selbstverwirklichung geniessen hier keinen hohen Stellenwert. Und: «Die Urnerinnen sind sich sehr bewusst, welche negativen Konsequenzen mit einer Scheidung verbunden sind, und auch, dass eine solche vom Umfeld nicht gutgeheissen wird. Dementsprechend gross ist die Bereitschaft, die Ehe zu erhalten.»

Nicht nur die Geschiedenen können im Urkanton unter Druck geraten, sondern auch Frauen, die in der einen oder anderen Weise ausscheren. So wie Sylvia Rohrer. Die ehemalige Discobetreiberin, Harley-Davidson-Fahrerin und anno 1980 Andermatts erste Fasnachtsprinzessin stand als erfolgreiche Geschäftsfrau und alleinerziehende Mutter jahrelang unter erhöhter Beobachtung. Unzählige Male wurde sie durch andere Urnerinnen angewiesen, sich endlich wie eine «normale» Frau zu verhalten. Aber Sylvia Rohrer wollte nicht und stellte dies auch irgendwann unmissverständlich klar. In Uri müsse man über Stärke verfügen, wolle man anders leben als die Mehrheit. Seit sie Klartext geredet habe, die Karten offen auf den Tisch legte, herrsche Ruhe, sagt die 48-Jährige mit den langen blonden Haaren. Allerdings: «Ich bin ja auch keine Geschiedene, sondern bloss eine Ledige.»

Dass vermeintlich so urweibliche Talente wie Kochen, Stricken, Gärtnern hier einen ebenso hohen Stellenwert geniessen, wie wenn eine Frau etwa Karriere macht oder nach Selbstverwirklichung strebt, habe einen Einfluss darauf, wie man als Urnerin sein eigenes Leben gestalten wolle, glaubt Jasmin von Atzigen. Die 30-jährige Single-Frau arbeitet seit vielen Jahren an der Quelle weiblicher Befindlichkeit: im Altdorfer Coiffeursalon Himbeerblond. Hier erfährt man auch, dass insbesondere nach der Fasnacht mancher Ehesegen schief hängt. Der Wunsch, sich vom Partner zu trennen, hat nicht unbedingt mit allfälligen Verfehlungen in der alkoholisierten und maskierten Zeit zu tun. Sondern weil die eigene Freiheit in der Narrenzeit vor Augen führen kann, was im weiblichen Alltag zu kurz komme. Der Wille zur Veränderung münde manchmal im Wunsch nach einer neuen Frisur, weiss Stefanie Walker (33), die den Coiffeursalon leitet. Worauf das Himbeerblond-Team jeweils zu einer Bedenkfrist von einer Woche rät. Danach sei die optische Veränderung meist kein Thema mehr.

Doch die meisten Kundinnen seien zufrieden mit ihrem Leben und schätzen, was sie haben: Familie, Mann, Haus. Auch Coiffeuse Jasmin von Atzigen möchte eines Tages Hausfrau und Mutter sein. Die Suche nach dem geeigneten Partner hänge auch vom eigenen Ruf ab. Dieser kann schnell ins Wanken geraten, wenn man allzu oft im Ausgang gesehen werde oder durch Liebschaften auf sich aufmerksam mache.

Die Mehrheit der jungen Altdorferinnen, so ergab eine aktuelle Umfrage der Gemeinde, befürwortet traditionelle Geschlechterverhältnisse. Monja Deplaces, die an zwei Tagen pro Woche im Salon arbeitet, bezeichnet ihre Berufstätigkeit als «freiwillig». Sie möchte ihr Pensum bald reduzieren, viele ihrer verheirateten Kolleginnen haben dies bereits getan oder arbeiten gar nicht mehr. «Mein Mann verkörpert männliche Ideale: Er bringt das Geld nachhause und bietet mir jederzeit eine starke Schulter zum Anlehnen», sagt die 28-Jährige. Im Gegenzug seien die Kinder versorgt, das Haus geputzt, und am Abend stehe eine warme Mahlzeit auf dem Tisch. «Wir haben eindeutig weniger Stress als ein doppelt belastetes Paar», erklärt Monja Deplaces ihr Eheglück.

Solche Aussagen kommentiert die ehemalige höchste politische Würdenträgerin des Kantons, Frau Alt-Landammann Heidi Z’graggen, indem sie die Augenbraue hochzieht. Die 51-jährige Justizdirektorin residiert neben dem Café Central im modern eingerichteten Statthalteramt, trägt schwindelerregende Highheels und extravaganten Schmuck. Weil das knappe Angebot an Kinderbetreuungsplätzen im Kanton ein Dauerthema war, liess sie eine Untersuchung durchführen. Resultat: Die jungen Mütter äusserten ein geringes Bedürfnis nach zusätzlichen Krippenplätzen. «Wenn die Frauen nach der Geburt der Kinder die traditionelle Rollenteilung leben, sind sie später schwieriger oder gar nicht mehr in den Arbeitsmarkt integrierbar und wirtschaftlich von ihren Männern abhängig», gibt die CVP-Politikerin zu bedenken. Als unemanzipiert möchte sie die Urnerinnen aber nicht qualifiziert sehen. «Was Städterinnen fremd anmuten mag, hat hier Tradition: Die Frauen kommen auf Umwegen ans Ziel.»

Im Alltag werde sie besonders von der älteren Frauengeneration positiv auf ihre politischen Erfolge angesprochen. Über ihre Rolle als weibliche Machthaberin innerhalb männlich dominierter Gremien sagt Heidi Z’graggen: «Es geht um die Kompetenzen und den Arbeitswillen.» Allerdings: Gewisse Regeln halte man als Frau besser ein, sonst erreiche man nicht, was man will. Übersetzt dürfte das heissen: Als kratzbürstige Feministin darf man kaum auf den guten Willen der Männer zählen. «Die Berge bilden den Rahmen für das Überblickbare in Uri, aber auch für die Zähigkeit der Bewohnerinnen», zitiert Heidi Z’graggen am Schluss des Gesprächs Emilie Lieberherr, die legendäre, 2011 verstorbene Zürcher SP-Politikerin mit Urner Wurzeln, die sich früh für die Gleichstellung der Frauen und das nationale Frauenstimmrecht eingesetzt hatte.

Im Gegensatz zum ländlichen Uri, das die Eidgenossenschaft mitgegründet hat, trat Neuenburg erst vor rund zweihundert Jahren dem helvetischen Bündnis bei. Seither eilt dem Kanton der Ruf voraus, ein progressiver und bisweilen auch aufsässiger Partner zu sein. Bereits im vorletzten Jahrhundert wurde den hier lebenden zahlreichen Ausländern das Stimmrecht erteilt, und Jahrzehnte bevor die Zentralschweizerinnen an die Urne gehen durften, erhielten die Neuenburgerinnen auf kantonaler Ebene die Möglichkeit, politisch mitzureden. Einst war der protestantische Kanton die stolze Wiege der schweizerischen Uhrmacherkunst und die gleichnamige Hauptstadt ein Ort der grossstädtischen Eleganz. Doch diese Zeit gehört der Vergangenheit an. Von den Wänden mancher Patrizierhäuser bröckelt der Putz. Eine Schlagzeile im Kiosk-Aushang an der Place Pury verrät, was die Paare in der französischen Schweiz heute umtreibt. «Mehrfachliebe – eine Gebrauchsanleitung.» Der belebte Platz im Zentrum der Stadt ist Verkehrsknoten- und gleichzeitig Treffpunkt: Junge Frauen vertreiben sich die Zeit auch bei schlechtem Wetter im Freien, in der einen Hand das Handy, in der anderen die Red-Bull-Dose. «Die Gleichstellung ist hier in vollem Gang», behauptet Jimmy, und es klingt nicht freudig. Der 27-Jährige trägt eine Jogginghose, auf dem Kopf eine umgekehrte Baseballmütze, um den Hals eine schwer aussehende Kette. Seine Hände liegen auf dem Lenker eines Buggys, den er Richtung Shisha-Bar schiebt. Wo ist die Mutter des Kindes? «Keine Ahnung», sagt Jimmy.

Der grösste Boulevard geht unvermittelt ins Rotlichtmilieu über. Zuvor lassen beschriftete Schaufenster erahnen, was zum optischen Gelingen der multikulturell durchmischten Bevölkerung beiträgt: Solariumbräune, Extensions, Muskeln, verzierte Gelnägel. Im Pfandhaus Speedy-Cash liegen jene Dinge, auf die die Neuenburger im Notfall verzichten können: Eine Geige. Ein Staubsauger. Ein Werkzeugkasten.

Scheidungen, Arbeitslosigkeit, Sozialhilfe: Nirgendwo im Land ist all das häufiger vertreten als in Neuenburg, und auch der höchste weibliche Alkoholkonsum geht auf das Konto jenes Kantons, in dem einst der Absinth erfunden worden ist. Die Soziologin Fabienne Robert-Nicoud hat eine These zur Trennungsfreudigkeit der Neuenburgerinnen verfasst und befragte im Rahmen der wissenschaftlichen Untersuchung unzählige Frauen und Männer. Die hohe Arbeitslosigkeit sorge einerseits für Unfrieden in den Beziehungen und provoziere viele Trennungen, sagt die 32-Jährige. Andererseits sei die Gefahr gross, dass eine Scheidung finanzielle Probleme bewirke.

Doch nicht nur unterprivilegierte Frauen und Männer, darunter überproportional viele Zugezogene mit einem Migrationshintergrund, treiben die Scheidungsstatistik in die Höhe, sagt Fabienne Robert-Nicoud. Sondern auch Frauen wie sie selbst: gut ausgebildet, finanziell unabhängig, emanzipiert. «Es gibt für uns einfach weniger Gründe, um eine unbefriedigende Beziehung fortzuführen.» Die Ansprüche an die Liebe seien hoch, und die Hoffnung, schnell ein besseres Glück zu finden, werde durch die rege Nutzung der Social Media geschürt. Zudem: Das Lebensgefühl der Neuenburgerinnen unterscheidet sich von demjenigen der Urnerinnen. In Altdorf haben die Frauen das Gefühl, sie stehlen dem Herrgott den Tag, wenn sie die Mittagspause um zehn Minuten überziehen. Pflichtgefühl, der Dienst an den Mitmenschen, die Selbstlosigkeit gelten viel, führen jedoch auch dazu, dass die Urnerinnen in der nationalen Gesundheitsbefragung überdurchschnittlich oft angaben, «in Situationen gefangen zu sein, an denen sie nichts ändern können».

In Neuenburg hält man von solchem Defätismus wenig, und die Joie de vivre nährt sich aus anderen Begriffen: Individualismus, Hedonismus und Materialismus tragen dazu bei, dass die berufstätigen Einheimischen zu den zufriedensten Menschen im ganzen Land gehören, wie die grosse Umfrage einer Versicherungsgesellschaft vor drei Jahren ergab. Allerdings: Es ist ein Zustand, der umso mehr ins Wanken geraten kann, wenn veränderte Umstände die Freiheiten plötzlich beschränken oder das Beziehungsglück trüben. Und dies geschieht paradoxerweise genau dann, wenn eintrifft, was man gemeinhin als Krönung der Liebe bezeichnet. Fabienne Robert-Nicoud kommt zu einem Schluss, der in Altdorf vermutlich sogar bei den aufmüpfigen Frauen aus dem Café Central für Kopfschütteln sorgen würde. «Kinder gehören in der Westschweiz zu den grössten Risikofaktoren einer Ehe.»

Wenn der Rückzug in die eigenen vier Wände die übermässige Konzentration auf den Partner bewirke, der in der neuen Situation die alleinige Verantwortung für das Glück des anderen trage, gehe es selten gut, weiss auch die Ärztin Marion Ombelli-Meisser. Sie betreibt das Frauenzentrum Nerys in Neuenburg. Das medizinische Mobiliar ist pink, auf dem Tisch der 47-jährigen Gynäkologin steht eine rosarote Handtasche. Man kann erahnen, wer das Zielpublikum ist: ehemalige Girlies. Nebst medizinischen Abklärungen gehören auch psychologische und ergotherapeutische Interventionen zu den Dienstleistungen. Rund ein halbes Dutzend Spezialisten kümmert sich um das Wohl jener Frauen, die Marion Ombelli-Meisser als gut informiert und besser situiert bezeichnet. «Viele sind zwischen Beruf, Kindern und Partnerschaft stark eingespannt und erkennen irgendwann, dass sie zu kurz kommen.» In dieser Einsicht werden sie durch spezialisierte Kurse und Seminare unterstützt. An anderen Tagen laufen die Patientinnen in Leggins und gemusterten Yogasocken durch die florierende Praxis. Das Hormon-Yoga ist ausgebucht, noch populärer ist der Kurs «Mütterliches Burnout», der Erschöpfungszustände und Krisen von Frauen mit älteren Kindern thematisiert.

Jeanne Cervez musste soeben zur Blutentnahme. Die 29-Jährige erwartet ihr zweites Kind, der Sohn ist 16 Monate alt. Die junge Mutter sagt: «Frauen, die nach der Geburt einfach zuhause bleiben, gelten in der französischen Schweiz als seltsam.» Die Erwachsenenbildnerin arbeitet neunzig Prozent und wird dieses Pensum auch nach der Geburt des zweiten Kindes beibehalten. Dafür gibt es zwei Gründe. «Die beiden Einkommen bedeuten, dass wir uns materiell nicht einschränken müssen.» Und: «Ich liebe meinen Sohn über alles. Mich nur noch um ihn zu kümmern, wäre allerdings unvorstellbar für mich.» In ihrem gleichaltrigen Umfeld werde gerade oft und nach wenigen Jahren geschieden. Ein häufig gehörtes Argument laute, man habe sich die Ehe anders vorgestellt. Ihre eigene Beziehung funktioniert tipptopp. Sie tat, was in Altdorf niemand mehr macht, und besuchte viele Monate lang einen Ehe-Coachingkurs. Auf die Frage, warum ihre Peergroup derart trennungsfreudig sei, antwortet Jeanne Cervez: «Sie wissen nicht, wie die Partnerschaft funktioniert.»

«Wie viele europäische Frauen bezeichnen sich auch die meisten Neuenburgerinnen als Weltenbürgerinnen und kümmern sie hauptsächlich um ihr eigenes Ich», stellt der Neuenburger Eheberater Antoine Borel fest. Den Hauptgrund für die hohe Scheidungsquote sieht der 60-Jährige allerdings im Umstand, dass der liberale Kanton verschiedenste Beziehungsmodelle unterstützt und gutheisst. Die Angst vor sozialem Ausschluss sei gering, zudem können Alleinerziehende auf ein System zählen, das die Vereinbarkeit von Kindern und Berufstätigkeit stark unterstütze. «Je besser neue Familienformen akzeptiert werden, desto einfacher wird geschieden», glaubt der ehemalige reformierte Pfarrer.

So entschlossen, wie sich Frauen und Männer in Neuenburg trennen, so eilig werde bisweilen auch geheiratet. Schmetterlinge im Bauch, toller Sex, der gemeinsame Plan, im nächsten Jahr nach Indien zu reisen, können als Gründe durchaus reichen, damit der ewige Bund geschlossen wird. Die Eventagentur Anima Fêtes organisiert Hochzeiten, zu denen meist mehrere Hundert Gäste eingeladen werden. Im Showroom entdeckt man, was gerade im Romantiktrend liegt. Laternen, die erleuchtet durch den nächtlichen Himmel segeln, mit Seidenblumen bestückte Liebespavillons, Candybuffets, riesige Leinwände, auf denen das Glück der Paare zelebriert wird. Manchmal dauern die Hochzeitsvorbereitungen länger, als die Beziehung bestehen bleibe, wissen nicht nur diese Spezialisten. Um vorschnelle und unüberlegte Entscheidungen zu verhindern, hat der Kanton vor zwei Jahren mit einer telefonischen Hotline reagiert. Resultat: 2015 kontaktierten gerade mal elf Personen den kostenlosen Dienst. Murielle Hofer Burgat (56), die beim Kanton als Eheberaterin figuriert und die Hotline mitbetreut, beobachtet Traurigkeit und Verzweiflung, wenn die Beziehung auf dem Prüfstand steht, jedoch vor allem etwas: «Wenn die romantischen Gefühle weg sind, wollen die Leute – allen vernünftigen Argumenten zum Trotz – einen Schlussstrich ziehen.»

In der Mehrheit der Fälle gehen die Trennungsabsichten von den Frauen aus, das ist in der übrigen Schweiz nicht anders als im Kanton Neuenburg. Gesamtschweizerisch gelten jung geschlossene Ehen heute als erhöhtes Risiko für eine Scheidung, und Experten gehen davon aus, dass diese Quote in der Westschweiz erhöht sei. Murielle Hofer Burgat beobachtet, dass vielen jungen Frauen und Männern der Übergang von der Verliebtheit zur verbindlichen Liebe schwerfalle. «Das eine erhält man gratis, das andere geht nicht ohne Beziehungsarbeit und die Einsicht, dass man die mit Problemen verbundenen Frustrationen akzeptieren muss.» Während die unabhängigen Neuenburgerinnen die Flinte vielleicht zu schnell ins Korn werfen, halten die leidensfähigen Urnerinnen beinahe um jeden Preis am Ehestatus fest und agieren nach dem Grundsatz: Lieber einen Spatz in der Hand als eine Taube auf dem Dach. Kommt es dennoch zur Scheidung, sind die Ansprüche danach bescheiden – vielleicht auch einfach realistisch, sagen die Frauen aus dem Café Central. Grundsätzlich gelte: Man wünsche sich einen verlässlichen Kollegen, der im gleichen Kanton lebe, zum Reden oder Wandern – und wenn irgendwann mehr daraus wird, warum nicht? Doch das Ansinnen sei selten von Erfolg gekrönt. Ganz einfach, weil geschiedene und ledige Männer in Uri Mangelware sind.

Ganz anders in Neuenburg, wo die Suche nach einem neuen Glück – das nicht unbedingt für die Ewigkeit halten muss – im Notfall auch bis nach Lausanne oder Genf ausgeweitet werden kann. In diesem Sinn erfreut sich auch ein feministisches Angebot aus Paris in der Westschweiz grosser Beliebtheit: Die Internetplattform Adopteunmec.com (einen Mann adoptieren) bietet bindungswillige Männer in den Kategorien «Teddybär», «Hipster» oder «Handwerker» an. Die Handhabung der potenziellen Partner, die ohne Mitbestimmung mit einem virtuellen Einkaufswagen eingesammelt werden, ist ähnlich einer technischen Gebrauchsanweisung formuliert. Funktioniert der Auserwählte in der Realität schlecht oder mangelhaft, sieht er weniger hübsch aus oder ist der Sex weniger fantastisch als erwartet, wird den Frauen geraten, das «Produkt» umgehend zu entsorgen. •

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1.

Fabienne Robert-Nicoud (32), Soziologin, Neuenburg: «Es gibt für uns Neuenburger- innen einfach weniger Gründe, um eine unbefriedigende Beziehung fortzuführen»

 

(Neuenburg) 

2.

Stefanie Walker (33), Coiffeursalon Himbeerblond, Altdorf: «Die meisten Kundinnen sind zufrieden mit ihrem Leben und schätzen, was sie haben: Familie, Mann, Haus»

3.

Jeanne Cervez (29), Erwachsenenbildnerin, Neuenburg: «Frauen, die nach der Geburt zuhause bleiben, gelten in der französischen Schweiz als seltsam»

4.

Heidi Z’graggen (51), Justizdirektorin Uri, Erstfeld: «Was Städterinnen fremd anmuten mag, hat hier Tradition: Frauen kommen auf Umwegen ans Ziel»

5.

Marion Ombelli-Meisser (47), Ärztin, Leiterin Frauenzentrum Nerys, Neuenburg: «Viele sind zwischen Beruf, Kindern und Partnerschaft stark eingespannt und erkennen irgendwann, dass sie zu kurz kommen»

6.

Antoine Borel (60), Eheberater, Neuenburg: «Je besser neue Familienformen akzeptiert werden, desto einfacher wird geschieden»