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Zwischen Porno, Gefälligkeitssex und Paarbeziehung

Liebe & Sex 

Zwischen Porno, Gefälligkeitssex und Paarbeziehung

Noch nie hatte es die Jugend so einfach, sich über Sex zu informieren.  Ist die Generation Z deshalb besser aufgeklärt als ihre Vorgänger? Im Gegenteil, sagt Sexualtherapeutin Ann-Marlene Henning. Ein Interview über trügerische Sicherheit, irreführende Ideale und eine Gleichstellungsdebatte, die es (noch) nicht bis unter die Bettdecke geschafft hat.

annabelle: Die Jugendlichen können heute alles, was sie über Sex wissen wollen, einfach googeln. Ein Luxus, oder?
Ann-Marlene Henning: In der Tat. Tendenziell ist diese Generation auch besser aufgeklärt als die vorherige. Doch gerade weil sich Jugendliche jederzeit über alles im Internet informieren können, leben sie in einer trügerischen Sicherheit. Erst, wenn tatsächlich ein Problem auftritt, merken sie, dass sie über Vieles gar nicht so genau Bescheid wissen.

Zum Beispiel?
Die Theorie, dass Frauen während der Periode nicht schwanger werden können, hält sich hartnäckig. Die meisten Jugendlichen haben zwar vom Eisprung gehört, verstehen aber nicht, was das für ihren Sex bedeutet. Sie sind überrascht, wenn ich ihnen erkläre, dass Spermien bis zu sieben Tage überleben können. Auch wird immer noch die Mär des Jungfernhäutchens erzählt. Medizinisch gesehen ist das Quatsch! Ein Jungfernhäutchen, das vom Penis durchstossen wird, gibt es nicht. Es ist ein Gewebesaum, der die Vaginalöffnung umschliesst, und bei jeder Frau unterschiedlich ausgeprägt ist. Dieser bleibt auch nach mehreren Geburten oder Geschlechtsverkehr bestehen, er kann nicht durchreissen, weder beim Fahrradfahren, noch beim Reiten. Die Schweden haben das «Jungfernhäutchen» übrigens aus ihrem Duden gestrichen.

Jugendlichen wird heute schon ein fast exzessiver Pornokonsum nachgesagt. Wie oft gucken sie wirklich?
Sehr oft. Alle kennen Porno. Laut Untersuchungen sind es bei den Jungs 95 Prozent. Bereits im Alter von etwa zehn Jahren werden pornografische Inhalte über Social Media rumgeschickt, oder die Sex-Filmchen ploppen beim Herunterladen eines Zeichentrickfilms plötzlich auf. Wir zeigten das in meiner Aufklärungssendung «Make Love»: Als ich, wie mit der Regie vereinbart, den Film downlud, erschien wie aus dem Nichts ein heftiger Blowjob auf dem Bildschirm. Beim Wegklicken, ploppten immer mehr solche Videos auf – wie Ratten kamen sie aus ihren Löchern! Ich musste den Stecker ziehen.

Wie haben die Schüler und Schülerinnen reagiert?
Der Kleinste der Klasse, der war zwölf Jahre alt, murrte beim Blowjob-Video: «Och nöö, nicht das schon wieder». Als ein weiterer Porno erschien, lachte er und meinte: «Ach, das schaut mein Vater auch immer.» Also an alle Eltern: Eure Kinder kommen mit Pornos in Kontakt. Mädchen schauen erst, um zu kichern, später um herauszufinden, was Jungs wollen. Jungs schauen, um zu masturbieren.

Hat die Generation Z aufgrund des frühen Pornokonsums anderen Sex?
Ja total! Die Jugendlichen stellen die Technik, die in Pornos gezeigt wird, vielleicht in Frage, machen sie aber trotzdem nach. Das führt dann dazu, dass mir ganz junge Frauen erzählen, dass sie am Wochenende Pornosex hatten.

Was soll das denn bedeuten?
Harter Sex. Er greift ihr in die Haare und reisst. Auch diese «Slaps», also das Schlagen auf Po oder ins Gesicht, gehören dazu. Beide machen es, wissen aber gar nicht so recht warum. Die Jungs gehen laut Studien davon aus, dass es die Mädchen so erwarten. Studien, die übrigens auch belegen, dass der Analverkehr signifikant ansteigt, wenn mehr Pornos geschaut werden.

Der Mensch schaut eben ab, wie man den Körper einsetzt, und was man damit macht.
Genau. Ich möchte Pornos nicht verteufeln, wenn aber junge Männer mit diesen Filmen immer neuen Frauen und Stimulationen ausgesetzt sind, führt das zu einer totalen Reizüberflutung und einer nie eintretenden Befriedigung. Kaum haben sie dann Sex mit einer Frau aus Fleisch und Blut, schwächelt die Erektion oder die Überreizung ist dermassen hoch, dass manche schon beim ersten Eindringen einen Orgasmus haben. Beide Extreme treten heute gehäuft auf. Für die jungen Männer fühlt sich das wie Versagen an, was wiederum oft zur sexuellen Unlust führt.

Wie wirken sich Pornos auf junge Frauen aus?
Nicht gerade wenige von ihnen machen den Pornosex mit, ohne gross erregt zu sein. Generell spüren Frauen bei diesem schnellen ‘Raus – Rein‘-Sex kaum was. Er ist für sie also nicht besonders interessant.

Dann haben junge Frauen heute vor allem Sex, um dem Mann zu gefallen? Oft ist es leider so. Laut einer Studie aus den USA bedeutet «Guter Sex» für junge Männer, dass sie zum Orgasmus kommen. Junge Frauen empfinden Sex als «gut», wenn sie dabei keine Schmerzen haben. Ich selbst habe eine Studie dazu gemacht: Nur die Hälfte der etwa 1300 befragten 16- bis 82-jährigen Frauen gab an, beim Sex keine Schmerzen zu verspüren. Viele von ihnen halten einfach durch, bis der Mann fertig ist. Sie haben verinnerlicht, wie wichtig Sex für den Mann ist, und dass sie ihn so halten können.

Du meine Güte, ich dachte, Sex fände heute, in Zeiten der #metoo-Debatte, auf Augenhöhe statt.
Das wäre wünschenswert, trifft aber leider nicht zu. Junge Frauen geben sich zwar feministisch, sagen, dass sie ihren Körper kennen und lieben. Sex haben sie dann aber trotzdem für ihn, statt auch für sich.

Warum hat es die Gleichstellungsdebatte nicht unter die Bettdecke geschafft?
Weil Männer in unserer Gesellschaft noch immer mehr Macht haben. Sie besetzen die wichtigen Posten und verdienen mehr Geld. Viele Frauen leben in finanzieller Abhängigkeit, können weniger selbstständige Entscheidungen treffen. Zudem wurde Frauen lange eingeredet, sie seien weniger sexuell als Männer und müssten einzig zur Reproduktion zur Verfügung stehen. Sexuell interessierte Frauen hingegen seien ‚Nutten‘.

Können wir das ändern?
Ja, könnten wir! Förderlich wäre ein positives Genitalverständnis: Noch immer empfinden viele Frauen ihre Vulva als schmutzig und eklig. Frauen sollten ihrem Genital schöne Namen geben, so habe ich Begriffe wie «Schamlippen» durch «Venus- oder Liebeslippen» ersetzt. Momentan stelle ich leider fest, dass eine starke neue Scham am Entstehen ist und nicht mehr so offen über Sexualität gesprochen wird. Dabei wäre das, gerade um die Gleichstellung zu fördern, sehr wichtig.

Wie sieht es mit der Verhütung aus? Ist die noch Frauensache?
Jugendliche verhüten heute gut. Und nein, es ist nicht nur die Angelegenheit der Frau. Jugendliche haben einen sehr unkomplizierten Umgang mit Kondomen und schützen sich damit vor Geschlechtskrankheiten. Bei den jungen Frauen ist ein klarer Trend weg von der Pille zu erkennen. Lange Zeit wurden reflexartig hormonelle Verhütungsmittel verschrieben, weil sie als sehr sicher gelten. Heute überlegen junge Frauen aber genauer, ob die Pille tatsächlich das Richtige für sie ist, und was es bedeutet, den eigenen Körper hormonell zu beeinflussen.

Die Generation Z wischt sich durch Tinder und verliebt sich in digitale Profile. Richtig?
Was auf den expliziten Dating-Plattformen passiert, ist reine Projektion. Man verliebt sich in ein Image, trifft sich privat, und dann läuft auf einmal nichts. Der Mensch «entscheidet» nun mal aufgrund des Pheromontests, und der funktioniert beim realen Aufeinandertreffen: Das Gehirn checkt blitzschnell ab, ob die Immunsysteme unterschiedlich genug sind, damit gesunde Kinder entstehen würden. Das ist dann diese Chemie, die plötzlich stimmt – oder eben nicht.

Welche Beziehungen will die Generation Z?
Die Haltung ist klar: Ich bin in einer Liebesbeziehung und habe dort Sex, statt: Ich bin single und poppe rum. In der Paarbeziehung sind Jugendliche heute allerdings experimentierfreudiger als früher.

Haben die Hochzeitsglocken ausgeläutet?
Nein, aber das traditionelle Bild von Paaren, die vor der Familiengründung heiraten, wird verschwinden. An meiner Praxiswand hängt längst eine Postkarte mit der Aufschrift «Keine Ehe vor dem Sex».

Ann-Marlene Henning gilt als bekannteste Paar- und Sexualtherapeutin Deutschlands. Sie ist Autorin von Aufklärungsbüchern für Jugendliche und Erwachsene. Vor Kurzem erschien ihr neues Werk «Sex verändert alles».

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