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Trendforscherin Li Edelkoort über die Zukunft der Mode

Stil

Trendforscherin Li Edelkoort über die Zukunft der Mode

  • Interview: Jacqueline Krause-Blouin; Fotos: Thirza Schaap (1), Marie Taillefer (1), Imaxtree.com (2)

Trendforscherin Li Edelkoort (65) provoziert mit gewagten Thesen. Sie sagt: «Mode, wie wir sie kennen, ist tot.» Wir haben mit der Holländerin einen Blick in die Zukunft geworfen.

annabelle: Li Edelkoort, wenn Mode, wie wir sie kennen, tot ist, wie Sie in Ihrem «Anti Fashion»-Manifest behaupteten – was bedeutet das dann für Ihre eigene berufliche Zukunft?
Li Edelkoort: Nun, ich bin ein grosses Risiko eingegangen, ich hätte alle meine Kunden verlieren können. Aber das habe ich nicht. Das bedeutet, dass ich wieder einmal die richtige Intuition hatte. Die meisten Leute danken mir, dass ich ausgesprochen habe, was alle heimlich denken.

Hand aufs Herz. Wie viel von Ihrem Manifest ist Provokation?
Alles davon ist Provokation. Weil ich will, dass wir uns ändern. Ich glaube, wir haben noch eine Chance auf Genesung. Weil wir Angst vor der Zukunft haben, vor dem ökonomischen Zusammenbruch, stagnieren wir jedoch seit 25 Jahren. Gerade in der Mode, die immer für den Fortschritt stand, ist Angst vor der Zukunft das Todesurteil.

Ihnen schlug allerdings dennoch einige Kritik entgegen. Vor allem von jungen Bloggern, die Sie als Zynikerin bezeichnen.
Diese Menschen haben nur kleine Teile meines Manifests gelesen oder Artikel, die darüber verfasst wurden. Das ist ein Problem, weil man dann nur den Satz «Mode ist tot» liest – das ist nicht das, was ich sage. Ich sage «Mode, wie wir sie kennen, ist tot» – das ist ein beträchtlicher Unterschied. Aber natürlich hört man nicht gern, dass das, womit man sich den ganzen Tag beschäftigt, infrage gestellt wird, da schiesst man zurück. Im Übrigen erfinde ich nichts, ich gebe nur wieder, was ich sehe. Die Designer selbst sagen, dass sie heute nur noch Kleidung machen und nicht mehr Mode.

Wie würden Sie zwischen den Begriffen Mode und Kleidung differenzieren?
Mode ist, wenn ein Designer in einer bestimmten Epoche es schafft, den Zeitgeist in Form und Allüre einzufangen. Er transformiert den Körper und damit unser Wesen: wie wir flirten, gehen, sitzen, unsere Haare machen.Das hat Mode immer ausgemacht: Chanel hat uns von den Korsetten befreit, uns den Cardigan und die Taschen gegeben, von Courrèges haben wir den Mini, und Yves Saint Laurent gab den Frauen Männerkleidung. Neue Silhouetten gaben uns Mugler, Montana, die grossen Japaner – aber nach Azzedine Alaïa und seiner Sanduhrform war Schluss. Die Sanduhr haben alle Designer kopiert, dadurch wurde es eine Bewegung. Seitdem haben wir keine Bewegung mehr gesehen, nichts Neues. Wir sind in Vintage gestrandet! Ertrinken in unserer Sehnsucht nach besseren Zeiten. Doch immerhin verändert sich diese Ansicht nun. Junge Leute wollen teilen, zusammenarbeiten, mieten und nicht kaufen – Uber, Airbnb … Das ist Zeitgeist, und wir müssen in diesem Geist einen Weg finden, um über Fashion nachzudenken.

Gehen Sie überhaupt noch an Fashionshows, wenn Sie alles so langweilt?
Sehr selten, es ist Zeitverschwendung. Man wartet eineinhalb Stunden, und die Show dauert 14 Minuten. Noch so ein System, das obsolet ist. Ich schaue die Shows online. Ich finde, grosse Designer sollten junge Talente als eine Art Vorgruppe haben. Dann hätten auch kleine Labels eine Show. Die Schauen sind derart hedonistisch, eine einzige One Man Show. Dabei sind hinter den Kulissen so viele hart arbeitende Menschen, und wir sehen nicht mal ihre Namen. Nicht wie beim Abspann eines Films, wo sogar der Assistant Caterer noch aufgeführt wird. Nein, die Modeindustrie dreht sich immer nur um eine Person – den Designer, die Diva. Das ist so passé, denn junge Leute wollen zusammenarbeiten. Im Kollektiv. Individualität existiert längst nicht mehr. Die jungen Leute geben ihr individuelles Talent der Gruppe, dann wird es geteilt. Das sieht man nicht nur in Südkorea, sondern auch in Paris – schauen Sie sich mal an den Kunsthochschulen um!

Was ist heute in Ihren Augen modisch?
Nichts. Es gibt keine modischen Leute mehr. Das Problem ist: Es gibt keine Regeln. Wenn es keine Regeln gibt, gibt es kein Spiel. Deswegen sieht man keine modischen Leute mehr, weil es keine Mode mehr gibt. Man sieht schöne Leute, funky Leute, elegante Leute – aber keine modischen Leute.

In den Achtzigerjahren dagegen konnte man noch als modisch bezeichnet werden?
Ja, weil der Begriff «modisch» nicht nur durch das Kleidungsstück definiert wurde, sondern durch die Dynamik, die dich damit umgeben hat. Es hat deine Haltung, deinen Gang, deinen Ausdruck verändert, und das alles war modisch. Ausserdem fehlt heute die Exklusivität. An jeder Strassenecke findet man die gleichen Marken, und das schadet ihrem Ansehen. Denn der Konsument merkt, dass so ein Luxusstück alles andere als exklusiv ist und deswegen auch die Preise nicht mehr gerechtfertigt sind. Viele Marken sind Mörder. Sie bringen Menschen um, um billig zu produzieren. Unsere Art einzukaufen ist aus einem vergangenen Jahrhundert.

Was wäre denn zeitgemäss? Wie sollten wir in Zukunft einkaufen?
Ich beobachte, dass jedes Mal, wenn eine grosse Schlange vor einem Laden steht, es dort ausschliesslich ein einziges Produkt zu kaufen gibt. Wein, Sonnenbrillen, Olivenöl. Monoproduktläden sind die Zukunft.

Das heutige Marketing bezeichnen Sie gern als Perversion. Wie schliessen Sie sich da selbst aus?
Immerhin arbeiten auch Sie mit vielen Marken zusammen. Aber ich arbeite am anderen Ende dieses Spektrums. Ich versuche, die Kreativbüros der Marken zu motivieren und zu stimulieren, damit sie sich mehr trauen und nachhaltiger werden. Ich versuche, sie avantgardistischer denken zu lassen, damit sie überleben.

Anders als bei der Frauenmode sehen Sie bei den Männern durchaus Potenzial. Wie kommt das?
Der Mann ist im Prozess der Emanzipation. Er begrüsst die Idee, ein aktiver Vater zu sein, und das verändert die Psyche der Männer zu hundert Prozent. Plötzlich wird es sehr wichtig, eine Zukunft für die Kinder zu schaffen, und deswegen sind Krieg und Klimamissbrauch nicht länger tragbar. Der Mann wird zärtlicher, weicher, sinnlicher und friedlicher. Der Mann wird, was unsere Gesellschaft als weiblich bezeichnet. Aber es heisst nur, dass der Mann endlich seine weichere Seite akzeptieren und lieben lernt. Das hat Konsequenzen für die Mode: Transparente Anzüge, Spitze – Dinge, die seit dem 17. Jahrhundert für Männer verboten waren. Alles dreht sich heute mehr um Männer als um Frauen.

Alles?
Ja, alles. Es dreht sich darum, wie der Mann sich verändert.

Aber die Frau verändert sich doch auch!
Ja, aber es ist an der Zeit, dass die Frau sich anpasst. Und zwar dem neuen Mann. Es ist neu, dass unsere Männer unsere besten Freundinnen sein können. Sie sagen «Wir sind schwanger», nicht mehr «Sie ist schwanger». Das ist doch süss! Aber es beeinflusst auch unsere Beziehungen. Die alten Regeln der Verführung funktionieren nicht mehr.

Sind Geschlechter out?
Den jüngeren Generationen heute sind Geschlechter egal, die meisten sind bisexuell, müssen sich nicht definieren oder wechseln ihr Geschlecht nach Lust und Laune. Das Geschlecht wird befreit, so wie die Rasse befreit wurde. Obwohl es natürlich nach wie vor eine Rassenproblematik gibt.

Könnten Wissenschafter die neuen Designer sein?
Ja. Jemand vom Victoria & Albert Museum in London sagte neulich, dass Wissenschafter die neuen Rockstars sind. Das stimmt – weil Wissenschafter Innovation bringen. Je virtueller unsere Gesellschaft wird, umso wichtiger werden Materialien. Komisch, nicht? Im Design ist das Wichtigste heute das Material. Und im Moment ist es ein Trend, komplett neues Material herzustellen. Durch kochen, dämpfen, hämmern, vermischen. Die Schweizer Uhrenmarke Rado ist in dieser Hinsicht Vorreiter: Sie erhitzen Keramik auf 900 Grad, das Material schrumpft und wird unglaublich hart. Es entsteht ein neues Material – das unzerstörbar ist, wie ein Diamant. Noch dazu ist es unglaublich vielseitig und wunderschön. Es ist sozusagen Hightech-Keramik. Das ist neu, das ist spannend.

Rado nennt diese Arbeit Modern Alchemy – was können wir denn von den alten Alchemisten lernen?
Im Mittelalter war Alchemie sehr wichtig und sehr modern. Die Idee, dass man Material transformieren konnte, hatte genauso viel mit Psychologie zu tun wie mit Materiallehre – man wollte die Zukunft finden. Moderne Alchemie dagegen ist mehr eine Bewegung im Design. Die Unternehmen wollen unsere Finger und Augen mit Materialien überraschen, die wir noch nicht kennen, die unsere Sinne neu berühren. Wir haben die Erde lange genug geplündert, jetzt ist es Zeit, Neues zu kreieren. Das ist modisch!

Haben Sie durch Ihr Manifest mit einem Teil von sich selbst gebrochen?
Ja, es war sehr schmerzhaft für mich. Aber wir sind alle schuldig, wir Konsumenten. Das Gute ist, ich sehe schon jetzt eine Veränderung.

Also so etwas wie eine schmerzhafte Scheidung zum Besseren.
So ist es, ich bin begeistert von der Idee der Kleidung. Wenn man intensiv studiert, wie Kleidung gemacht wird, gewinnt man die Wertschätzung zurück. Couture wird also wieder viel wichtiger werden, hier ist jedes Teil der Star. Handgemachtes gewinnt an Einfluss – und die Massschneiderei.

Aber wer kann sich schon Massanfertigungen leisten?
Wenn ich es mir nicht leisten kann, zum Schneider zu gehen, mache ich das Stück selbst, oder jemand aus meiner Familie macht es. Wir werden hoffentlich Kleidung wieder mehr zu schätzen wissen. Ein Kleid besteht aus so vielen Arbeitsschritten! Säen, ernten, schleudern, weben, stricken, drucken, schneiden, nähen, einpacken, transportieren, bügeln, aufhängen und dann verkaufen – das muss seinen Preis haben. Ich finde, man muss einen Minimalpreis für ein Kleidungsstück festlegen, ähnlich wie bei Kartoffeln.

Zum Schluss: Gibt es einen Designer, an den Sie glauben?
Das Kollektiv Vetements. Die haben den Zeitgeist verstanden. Vêtements heisst ja Kleidung – interessant, nicht?

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1.

Moderne Alchemie …

2.

… Die Rado Hyperchrome Automatic Chronograph Tachymeter aus diamanthartem Keramik

3.

«Sie haben den Zeitgeist verstanden»

4.

Aus der aktuellen Kollektion des Pariser Designkollektivs Vetements

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