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Kleider machen Menschen: Lotti Hasse

Stil

Kleider machen Menschen: Lotti Hasse

  • Redaktion: Jacqueline Krause-Blouin, Barbara Loop (Text); Daniella Gurtner (Mode); Mitarbeit: Kerstin Hasse; Fotos: Dan Cermak

Mode – sie scheint oft ganz weit weg zu sein. Andererseits kommt uns nichts näher als unsere Kleidung. Was machen wir mit Kleidern, und was machen Kleider mit uns? annabelle hat Menschen jeden Alters dazu befragt und sie dabei in Berührung mit Trendpieces der neuen Saison gebracht. So auch das aktuelle Covergirl Lotti Hasse (88).

Lotti Hasse (88), Rentnerin:

Hören Sie Lotti Hasse in einem Audio-Mitschnitt aus dem Interview:

«Wenn ich die Augen schliesse, sehe ich meine Mutter in einem dunkelblauen Spitzenkleid. Sie hatte einen schönen Busen, ein tolles Décolleté. An den Schultern war ihr immer kalt, darum hatte die Schneiderin dort seidene Blumen angebracht. Freesienblüten, ich könnte sie heute noch malen. Meine Mutter, ist die schön, habe ich gedacht. Sie war eine sehr elegante Frau. Ich bin inmitten von Stoffen aufgewachsen. Mein Vater hatte mit seinem Schwager in Ostdeutschland eine Woll- und Seidenweberei mit 250 Angestellten geführt. Ich war ein Einzelkind und bin immer in die Fabrik geschlichen, wo ich mich zu den Arbeiterinnen gesetzt habe. Ich kam also schon früh mit Mode in Berührung und lasse mich auch heute, mit 88 Jahren, nicht gehen. Ich trage nie zu enge Pullover, und ich habe ein Auge für Farben. Mir steht Grün nicht und auch nicht Lila. Aber Pink, Rosé oder Zartrosa. Einmal im Jahr reise ich zum Kurbaden ins norditalienische Abano. Das ist für mich Mode! Da gibt es Prada, da gibt es alles. Wenn ich zurückkomme, sagt die Familie immer: ‹Omi, du bist wieder jünger geworden! ›

«Ich habe kaum gewagt, mit den Strümpfen zu gehen, aus Angst, dass sie reissen könnten.»

Früher war ich grösser, sehr schlank und hatte blondes Haar. Als ich jung war, waren Glockenjupes modern. Die habe ich mir selber mit den Stoffen aus Vaters Firma genäht. Mein Traum war es, Modedesignerin zu werden. Nach dem Schulabschluss habe ich meine Bewerbungsunterlagen und Nähproben an eine Modeschule geschickt. Drei Tage später wurde die Schule bei einem Bombenangriff zerstört. Das war 1943. Ich habe dann eine Hauswirtschaftsschule besucht und mit zwanzig geheiratet. Mein Mann kam aus der Gefangenschaft in Stalingrad zurück und wollte weg aus Ostdeutschland. Also sind wir in den Westen geflüchtet. In ein Bauerndorf mit 300 Einwohnern. Das war hart. Und dann hiess es auch noch Küchen! Als Kind wusste ich nicht, was es heisst, kein Geld zu haben. Aber nach dem Krieg und der Flucht, da bin ich erwacht. Mein Mann hatte zwar Arbeit, aber wir hatten wenig Geld. ‹Sie haben immer so schöne Sachen an›, sagten die Bäuerinnen. Also habe ich für sie Kleider genäht, auf deren Nähmaschinen, denn ich selber habe keine besessen. Drei Brautkleider und zwei Brautjungfernkleider allein innerhalb eines halben Jahrs. Die eine Braut wollte einen Stuart-Kragen. Damals gab es noch keine Vlieseline, ich habe den Kragen mit Kartoffelstärke zum Stehen gebracht. Aber lass das mal heiss werden in der Kirche! Ich habe Blut geschwitzt, aber der Kragen blieb stehen bis zum Schluss. Eine schicke Braut war das. Fürs Nähen habe ich 5 Mark pro Tag gekriegt. Ausserdem Frühstück, Mittagessen, abends drei Eier und ein Stück Butter, Wurst und ein grosses Stück Brot. Das Essen reichte für mich und meinen Mann, das war herrlich! Einmal brachte eine Bäuerin einen Sack voller Nylonstrümpfe, die sie aus Amerika geschickt bekommen hatte. Ein Paar Nylons kostete damals 15 Mark. Ich durfte mir sechs Paar auswählen. Ich habe kaum gewagt, mit den Strümpfen zu gehen, aus Angst, dass sie reissen könnten. Ich war ja so stolz. Und so einen Pelz wie auf dem Foto hatte ich damals auch. Auch das war natürlich kein Leopardenpelz, sondern ein eingefärbtes Kaninchenfell, das ich mir aus dem Osten hatte schicken lassen. 100 Mark habe ich dafür bezahlt und ein Paar Schuhe mit Kreppsohle mitgeschickt, denn die gab es nur im Westen.

«Ich trage nie zu enge Pullover, und ich habe ein Auge für Farben. Lila steht mir nicht, aber Pink, Rosé oder Zartrosa»

Mein Mann Günther war unser Gentleman. Er verliess das Haus nie ohne Hut und Handschuhe. Und er trug immer einen Schlips aus reiner Seide. Günther war ein schöner Mann. Meine Freundin hat immer gesagt: ‹Günther schreitet, unsere Männer latschen.› Auch er konnte nähen, denn er war allein unter Frauen aufgewachsen. Er hat mir immer die Jupes gekürzt. Ich habe mich auf einen Stuhl gestellt, und er hat sie mir umgenäht. Das konnte er wunderbar. Wir haben wirklich zusammengepasst. Was ich gern noch einmal tragen würde? Das eine Kleid, das ist in meiner Erinnerung richtig schön. Ich habe es nach unserem Umzug in die Schweiz genäht und an einer Hochzeit im Wallis getragen. Pink-lila war es, elegant, schlicht und in dieser Wiener Art geschnitten. Mein Mann hatte mir drei Silberketten geschenkt, die haben es noch viel schöner gemacht. Das war unglaublich! Und dazu trug ich nur ein kleines silbernes Handtäschchen. Ganz ohne Firlefanz, denn wenn man Figur hat, ist das nicht nötig, Rüschen kann man tragen, wenn man flach ist wie ein Brett. Ich habe das Kleid bis heute aufbewahrt. Ich nähe noch heute meine eigenen Kleider. Im letzten Jahr habe ich in Chur einen Strickstoff gefunden, der aussieht wie von Missoni. Missoni liebe ich sehr. Den habe ich ausgemessen und zu meiner Tochter gesagt: ‹Gabriele, ich sehe das Kleid vor mir! Hier der Ausschnitt, da ein kleines Ärmelchen und ein Lackgürtelchen.› Das Kleid hat mich 25.50 gekostet. Der Gürtel allein war teurer als das Kleid. Als Modedesignerin habe ich zwar nie gearbeitet. Aber ich bin zufrieden, wie mein Leben verlaufen ist.»

Alle Fotos der Modestrecke inklusive der Interviews mit den einzelnen Protagonisten finden Sie in der aktuellen annabelle-Ausgabe 13/16. 

Das Interview mit Lou Spichtig