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Die Poesie des Betons

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Die Poesie des Betons

Spröd, chic, retro: In Le Havre zeigt sich die Normandie von ihrer modernen Seite.

Ach, wie elegant können doch Fussgängerzonen sein! Da sitze ich, verspeise eine Crêpe Orange Grand Marnier und schaue glücklich auf Hochhäuser aus hellem Beton. Liegts am Likör? Mitnichten: Ich habe mich verguckt in die schmalen, hohen Fenster, die von Säulen gestützten Arkadengänge, die Spielarten des Materials, von rauem Waschbeton bis zu feiner Struktur, mal roséfarben, mal gelblich schimmernd.

Le Havre wirkt auf mich wie eine kolorierte Postkarte aus den Fünfzigerjahren – eine Realität gewordene Zukunftsfantasie aus der Nachkriegszeit. Und genau das ist sie auch: Nahezu die ganze Innenstadt wurde von einem Architekten entworfen, geplant, gebaut: Auguste Perret, der den Beton verehrte, als das «demokratischste und zugleich edelste Baumaterial». Die Möglichkeit, die Stadt aus einem Guss zu erbauen, kam nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Britische Bomber legten die deutsch besetzte Hafenstadt 1944 nahezu komplett in Schutt und Asche. Das Trümmergestein der roten und gelben Backsteinhäuser liess Perret zu Beton vermahlen, dem er feine Glassplitter zusetzte – daher der fast unmerklich glitzernde Effekt. Perrets Bauten waren zu seiner Zeit supermodern, in ihren Proportionen orientierten sie sich aber an den klassischen Pariser Stadthäusern. Wer heute die original erhaltene Musterwohnung Appartement Témoin Perret betritt, taucht ein in eine seltsam antiquierte Moderne: hohe, lichtdurchflutete Räume, praktische Eichenholzmöbel – wie Ikea, nur stilvoller – und eine der ersten Einbauküchen. In der Kirche Saint-Joseph zeigt sich wohl am deutlichsten, was Perret mit der «Poesie des Betons» meinte: 107 Meter hoch erhebt sich der achteckige Turm über die Häuser der Stadt, im Inneren sanft erleuchtet von 12 600 verschiedenfarbigen Glasbausteinen – jeder im Gedenken an ein Opfer der Bombenangriffe.

Das architektonische Sahnehäubchen allerdings kreierte ein anderer Architekt – der Brasilianer Oscar Niemeyer, Erbauer von Brasilia, der ganz anders mit Beton umging. Sein schneeweiss leuchtendes Auditorium verschmäht rechte Winkel und feiert die Kurve. Alles ist rund, geschwungen, sanft. «Vulkan» nennen die Einwohner die kühne Konstruktion aus den 1980er-Jahren. Irgendwann ist es mir zu viel mit den rechten Winkeln und weissen Kurven, ich will in die Natur. Zum Glück hat Le Havre auch da etwas zu bieten: den langgezogenen Strand mit seinen bunt gestreiften Badehäuschen etwa. Und, ganz in der Nähe, die Steilküste mit ihren lieblichen Seebädern wie Étretat oder Honfleur, die schon die Impressionisten zu blumigsten Bildern animierten.

Tipps

SCHLAFEN

Oscar Hôtel Perfekt für Betonromantiker: Perret-Gebäude mit Retro-Interieurs am Fuss des «Vulkans», klein und persönlich, feines Frühstück. 106, rue Voltaire, Tel. 0033 235 42 39 77, DZ ab ca. 60 Fr., oscarhotel.fr

Best Western Art Hotel Nicht retro-, sondern echt modern, ebenfalls mit «Vulkan»-Blick. 147, rue Louis Brindeau, Tel. 0033 235 22 69 44, DZ ab ca. 85 Fr., art-hotel.fr

ESSEN

Les Enfants Sages

Dieses Lokal logiert in einer alten Schulvilla voller charmanter Vintage-Möbel und mit schönem Garten. Auf der Speisekarte französische Klassiker, modern und leicht. 20, rue Gustave Lennier, restaurant- lesenfantssages.com

Le Bouche à Oreille

Gourmet-Bistro, bodenständig und chic zugleich. 19, rue Paul Doumer, Tel. 0033 235 45 44 60

L’Étable

Tapas, Craft Beer – und ein lauschiger Balkon im ersten Stock: Der «Stall» ist der populärste Treffpunkt für Drinks am Abend. 51, rue Bernardin de Saint-Pierre, Tel. 0033 892 31 14 18

Le Bout du Monde

Nettes Strand-Bistro, nicht ganz am Ende der Welt, aber am Ende eines langen Strandspaziergangs ins Nachbarörtchen Sainte-Adresse. 1, boulevard Foch, Sainte-Adresse, Tel. 0033 235 48 66 58

ENTDECKEN

Nicht Stadtführer,

sondern enthusiastische Einheimische führen Besucher herum. 15 City Greeter gibt es in Le Havre, die meisten sprechen Englisch, einige auch Deutsch. greeters-lehavre.com

Musée André Malraux

Draussen das Meer, drinnen der Strand: Aus dem lichtdurchfluteten Gebäude am Hafen hat man grossartige Ausblicke auf vorbeiziehende Schiffe – und auf Meisterwerke des Impressionismus, bei denen Strand, Wolken und maritime Motive die Hauptrolle spielen. 2, boulevard Clemenceau, muma-lehavre.fr

Les Bains des Docks

Schöner Schwimmen – dafür gibt es dieses elegante Bad am Hafen, entworfen von Stararchitekt Jean Nouvel. Quai de la Réunion, vert-marine.info/lesbainsdesdocks

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1.

Le Havre ist die grösste Stadt der Normandie

2.

Französische Klassiker gibts im Restaurant Les Enfants Sages (links) «Vulkan» nennen die Einwohner das Auditorium des brasilianischen Architekten Oscar Niemeyer (rechts)

3.

In Reih und Glied: Badehäuschen an der Strand- promenade

4.

Schwimmen in der Design-Badi: Les Bains des Docks von Jean Nouvel (links) Jeder Glasstein erinnert an ein Opfer der Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg: Kirche Saint-Joseph (rechts)