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Wandern im spanischen Maestrazgo

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Wandern im spanischen Maestrazgo

  • Text: Gero Günther, Fotos: Peter Neusser

Die Wanderung im spanischen Maestrazgo führt durch eine imposante Landschaft und Dörfer, die vom Glanz vergangener Tage erzählen. Man begegnet kaum Menschen – vielleicht aber ein paar Schafen.

Nichts. Das ist es, was das Maestrazgo vor allen anderen Landschaften Spaniens auszeichnet. Es gibt hier, versichert mir Ignacio Terés, mehr Nichts als sonst irgendwo. Nichts, nada, wieder nichts. Um Missverständnissen vorzubeugen: Terés meint das selbstverständlich positiv. Der 50-Jährige liebt seine Region, und er liebt ihre gähnende Leere. Deshalb ist er vor Jahren aus Zaragoza weggezogen, hat er seinen Job als Agraringenieur aufgegeben.

Heute besteht Terés’ Berufung darin, Gäste aus dicht bevölkerten und zumeist kälteren Regionen Europas durch die einsame Gebirgsgegend drei Autostunden nördlich von Valencia wandern zu lassen. Ausgestattet mit Karten und Wegbeschreibungen. Laberinto de Silencio wird das Maestrazgo in der spanischen Region Aragón genannt, und das nicht umsonst. Nur 2.5 Einwohner pro Quadratkilometer leben hier, und wer sich beim Wandern verläuft, wird so schnell keinen finden, der ihm den Weg weist. «Die Einsamkeit gehört zu unseren grössten Stärken», sagt Terés, dessen sechstägige Route durch die schönsten und verlassensten Berglandschaften der Region führt. Für das Wohlergehen seiner Wanderer hat der sportliche Mann mit den Wuschelhaaren ein kleines Netz aus Pensionen aufgezogen. Gar nicht so einfach, meist sind es die einzigen Gästebetten im Umkreis von vielen Kilometern. Das Gepäck wird von den Wirten zur nächsten Station gefahren. Manche stellen es auch einfach in den Regionalbus. Diebstahlgefahr? Nicht wirklich, jeder kennt hier jeden, und wie gesagt: Viele sind das nicht.

Wandern durch Montoro Mezquita

Wir beginnen unsere Tour in Montoro de Mezquita, einem hübschen Dorf aus ineinander verschachtelten Häusern. Es liegt in einem Talkessel, umgeben von 1200 Meter hohen Felswänden. Ende der Strasse, Ende der Welt. Ein normalerweise ganz zahmes Flüsschen, der Río Guadalope, quetscht sich gerade noch zwischen den Bergen hindurch. Er ist nach starken Regenfällen angeschwollen und schiesst seine Fluten gewaltsam durch die Schlucht. Wahnsinnslandschaft, jauchzen wir, als wir den Aussichtspunkt hoch über Montoro erklommen haben. Wir kauern auf einer Felsnase, die in schwindelerregender Höhe über den Abgrund ragt. Über uns ziehen Geier ihre Kreise, unter uns schäumt der Guadalope. Schroff ist das Gebirge, nackt und zerklüftet der graue Stein. Felder liegen um ein Dorf herum, aber die meisten der alten Anbauterrassen sind von der Natur zurückerobert. Früher wurden im Maestrazgo Getreide angebaut, Tomaten, Peperoni, Kartoffeln und Wein. Inzwischen reicht die Arbeitskraft nur noch für ein paar Gärten. Die meisten Bauern sind in den Sechziger- und Siebzigerjahren nach Valencia, Zaragoza und Madrid abgewandert.

Zehn Einwohner hat Montoro de Mezquita heute noch, ältere Menschen zumeist. Man sieht sie in den Gassen Reisigbündel schleppen, auf Bänken in der Sonne sitzen oder Blumen giessen. Das Dorf ist ihnen längst viel zu gross geworden. Mario Guía, unser Wirt, ist kein offizieller Bewohner von Montoro. Er kommt nur, wenn sich Gäste angemeldet haben, spontane Besucher gibt es hier keine. «Vor dem Bürgerkrieg lebten 400 Menschen in Montoro», erzählt der Mann, der hauptberuflich als Angestellter in einer 35 Kilometer entfernten Gemeinde arbeitet. Damals führte sein Grossvater einen kleinen Laden im Haus, das Mario in ein wunderbares kleines Hotel verwandelt hat. In den Zwanzigerjahren wurden hier Lebensmittel verkauft, Öl und Schokolade. Und es gab sogar eine Bar samt Tanzboden. Samstags und sonntags kamen die Dörfler zum Tanzen, deshalb hat Mario sein Hotel El Bailador genannt, der Tänzer. Sechzig Jahre lang stand das Haus leer. So ist das im Maestrazgo. Verlassene Gebäude und Ruinen, in denen wahlweise Brennnesseln oder ganze Bäume wachsen, gibt es hier überall.

Nur wenige Kilometer hinter Montoro haben sich über hundert Menschen zum Patronatsfest bei der Ermita de San Pedro versammelt. In einer Seitenkapelle der Einsiedelei ist eine grosse Tafel aufgebaut. Die Gläubigen pilgern zu Fuss, per Jeep oder zu Ross zum alten Gemäuer, das sonst einsam auf einer Klippe steht. Kaum jemand verirrt sich an normalen Tagen hierher. Sobald wir den alten Pilgerweg, der von morschen Holzkreuzen gesäumt ist, verlassen haben, begegnet uns niemand mehr. Terés hatte recht. Kein Mensch, kein Auto, nicht einmal ein Traktor kreuzt unseren Pfad. Nur ein paar Kühe stehen am Wegrand.

Umso auffälliger ist das Gewusel in Pitarque, wo wir am Abend eintreffen. «Wollt ihr mitkommen?», fragt Paquita, unsere Wirtin, «das ganze Dorf ist am Feiern.» Der 100-Seelen-Ort hat sich vervielfacht und ist lebendig wie nur einmal im Jahr. Die Pilger aus San Pedro sind in der örtlichen Festhalle angekommen. Dudelsäcke tröten durch die Gassen, Jugendliche reiten über die Plaza. Es wimmelt nur so von Autos aus Valencia und Zaragoza, Autos von Verwandten, die oft schon vor Jahrzehnten aus dem Maestrazgo weggezogen sind. Man pflegt die familiären Wurzeln bei Grillfleisch und Rotwein. An langen Tischen sitzen wir mit feuchtfröhlichen Pilgern, nach Mitternacht werden die Biertische zusammengeklappt, um Platz für die Tänzer zu schaffen. Mit bunten Lichtern wird die Mehrzweckhalle zur Dorfdisco.

Das Leben in der Leere

Als uns am nächsten Morgen die Hochebene verschluckt, erahnen wir allmählich die grosse Leere, von der alle reden. Ortschaften oder Strassen sind bald keine mehr zu sehen, stattdessen Büsche und Bäume, verlassene Gehöfte, die weit in der Landschaft verstreut sind. Wenn wir stehen bleiben und das Knirschen der Wanderschuhe auf dem Kalkstein nicht mehr zu hören ist, merken wir, dass um uns herum Stille herrscht. Sie erfüllt uns mit Klarheit und Zufriedenheit. Wir wandern durch blühende Wiesen, Kiefernwälder, Wacholderheiden und karge Steinlandschaften. Und wir blicken über weite Schluchten, in denen weit unten kalte Flüsse rauschen. Wir streifen Ginsterbüsche, Feigenbäume und Disteln, beobachten Gämsen und Adler. Nur Menschen begegnen uns keine. Dafür werfen wattige Wolken Schatten, die wie gespenstische Heere über die Plateaus ziehen. In der Ferne warten emsige Windmühlen auf einen Don Quijote.

Am dritten Abend erreichen wir Cañada de Benatanduz – einen Ort, der wie ein ausgeleierter Pulli um seine 25 Restbewohner schlackert. Wir füllen die Wasserflaschen im alten Waschhaus und spazieren durch die Geisterstadt. Eine riesige Kirche, von Schafköteln übersäte Arkaden und bröckelnde Bürgerhäuser zeugen von der glorreichen Vergangenheit des Gebirgskaffs. Im 15. und 16. Jahrhundert bescherte der Wollhandel mit Neapel dem Maestrazgo grossen Reichtum. Süditalien gehörte zum spanischen Kaiserreich, und Merinowolle war ein gefragtes Handelsgut. In vielen Orten, durch die wir wandern, kann man den einstigen Wohlstand noch erahnen, und wer sich vorher anmeldet, kann in La Iglesuela del Cid die Casa Aliaga besuchen, ein prächtiges Stadtpalais samt französischem Geschirr, Geheimtreppe und Tanzsaal

Heute wird niemand mehr reich von seinen Schafen. Schon gar nicht der marokkanische Wanderhirt, den wir unterwegs treffen. «Das sind keine Merinoschafe», sagt Ahmed al-Khalki. «Der Chef hält die Tiere nur für das Fleisch.» Andere liefern auch noch ihre Milch an die Sennen des berühmten Tronchón-Käses, der aus Ziegen- und Schafmilch hergestellt und schon bei Cervantes erwähnt wird. Der kräftige Rohmilchkäse mit dem Oregano-Aroma ist neben dem Jamón de Teruel die wichtigste Spezialität der Region. Der luftgetrocknete, mindestens zwölf Monate gereifte Schinken gehört zu den besten Spaniens. Wir bekommen den Jamón mehrmals auf unserer Reise als Vorspeise serviert oder ins Bocadillo gelegt. Auch Juan Notari packt ihn in die Sandwichs, die er uns mit auf den Weg gibt. Der Mann, in dessen Hotel wir einquartiert sind, wohnt erst seit vier Monaten in Cañada de Benatanduz. Früher führte er eine Beiz im Küstenort Castellón, jetzt geniesst er die Ruhe in den Bergen. «Den Trubel vermisse ich nicht», sagt Notari. Ausser dem einen oder anderen Touristen sind Fernfahrer, Bauern und durchreisende Geschäftsleute seine Gäste. Als wir gegen neun Uhr morgens aufbrechen, serviert er gerade den ersten Espresso mit Brandy. «Auch ein Carajillo?» Nein, danke. Wir sind zwar nicht zimperlich, aber gleich hinter Cañada geht es mächtig bergauf.

14 bis 25 Kilometer marschieren wir pro Tag. Auf Hirtenpfaden und uralten Viehwegen. Was zählt, sind auf einmal elementare Dinge: Trinkwasser und Markierungen. Und plötzlich haben wir die Wegzeichen doch aus den Augen verloren. Wir gehen ein Stück zurück. Kein Gelbweiss weit und breit. Auf der Karte sind viel zu viele Wege eingezeichnet, um sicher sein zu können. Also weiter. Nervosität macht sich breit. Bis zum Horizont sehen wir kein bewohntes Haus. Dann taucht ein Ortsschild auf: Cantavieja. Gerettet. Wir packen den Beutel mit den Oliven aus und spucken die Kerne in die Wiese. Es riecht nach wilden Kräutern, nach Stroh und Pinien. Insekten summen und zirpen. Sonst ist da nichts. Nada.

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