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«Ich konnte einfach nicht wegschauen»

Leben

«Ich konnte einfach nicht wegschauen»

  • Text: Ines Häfliger; Foto: Christopher Kuhn

Vor Annina Largo lag eine vielversprechende Zukunft als Anwältin. Doch sie schmiss ihren Job hin und arbeitet nun als Fitboxtrainerin für den Verein Sportegration. Er bietet ein kostenloses Sportangebot für Asylsuchende, Flüchtlinge und Sans-Papiers.

Regentropfen prasseln ans Stahlsilo der ehemaligen Bierbrauerei Löwenbräu in Zürich. Im Inneren ist es trocken. Aber nicht hell: Die Fenster sind winzig, die Deckenlampen leuchten nur spärlich. Auch der kühle Betonboden und die an der Decke befestigten Getreidetrichter machen den Raum nicht gemütlicher. Doch das stört niemanden, denn hier wird nicht gewohnt, sondern geschwitzt. Zweimal pro Woche führt der Verein Sportegration im einstigen Getreidesilo ein Fitboxtraining durch. Ein Angebot, das für Asylsuchende, Flüchtlinge und Sans-Papiers gratis ist.

Es ist kurz nach 19 Uhr, Hip-Hop dröhnt aus den Lautsprechern, einige der Teilnehmenden wärmen sich am Springseil auf, während andere erst langsam eintrudeln. Annina Largo empfängt die Neuankömmlinge. Ein junger Afghane übergibt ihr zur Begrüssung selbstgemachtes Fladenbrot. Ständig wirbelt Annina Largo herum, alle wollen etwas von ihr. Für sie ist der Trubel um ihre Person mittlerweile Routine. Im vergangenen Sommer hat die 36-Jährige ihre gut dotierte Stelle als Anwältin mit Schwerpunkt Prozessrecht in einer Kanzlei aufgegeben, um sich als Präsidentin vollamtlich um die Belange ihres Vereins zu kümmern. Sie wolle die Zeit davor nicht schlechtreden, sagt sie. «Ich traf viele tolle Anwälte, hatte spannende Klienten und herausfordernde Fälle.» Doch nach langem Hin und Her entschied sie sich zu kündigen. Denn so hundertprozentig sei es eben doch nicht ihre Welt gewesen. «Letztlich fühle ich mich halt wohler in Jeans und Turnschuhen als in Businesskostüm und Pumps», sagt Annina Largo und lacht.

Ihren Schweizer Pass vergleicht sie mit einem Sechser im Lotto: «Ein unverdientes Glück.» Und so konnte sie nicht einfach wegschauen, als 2015 auch hierzulande die sogenannte Flüchtlingskrise die Schlagzeilen dominierte und innerhalb von zwei Jahren rund 67 000 Personen in der Schweiz ein Asylgesuch einreichten. Als Fitbox-Instruktorin hatte sie damals bereits in Fitnesscentern unterrichtet. Und weil sie sich seit Längerem nach einer «sinnvollen Aufgabe» umgesehen hatte, dachte sie sich: Wieso nicht auch jenen Lektionen erteilen, denen das Geld für ein Sport-Abo fehlt? Als ihr eines Tages dann Freunde diese Räumlichkeiten im ehemaligen Silo anboten, wurde die Idee plötzlich konkret. Im August 2016 gründete sie zusammen mit ihrem Mann Karim Maizar, ihrer damaligen Berufskollegin Piera Cerny und deren marokkanischem Ehemann Mohammed Tachi den Verein Sportegration.

ES GEHT NICHT NUR UM
SPORT. DIE TEILNEHMENDEN
SCHLIESSEN NEUE
FREUNDSCHAFTEN UND
ERHALTEN UNTERSTÜTZUNG
IM BÜROKRATISCHEN
ASYLVERFAHREN
 

Anfangs war das wöchentliche Fitbox-Training der einzige Kurs. Heute, knapp drei Jahre später, bietet Sportegration in Zürich sieben Tage die Woche Veranstaltungen an. Nebst dem Fitboxen gibt es unter anderem eine Laufgruppe, ein Basketballtraining, Yoga- klassen, Schwimmkurse und eine Tanzlektion. Und dank dem Engagement des 14-fachen Thaiboxweltmeisters Azem Maksutaj finden in Winterthur und Wil Kickboxtrainings statt. Allein könnte Largo das breite Angebot längst nicht mehr stemmen. Rund siebzig Freiwillige ermöglichen die insgesamt zwanzig Kurse. Die Mehrheit der Trainer sind Frauen. Bei den Teilnehmenden jedoch sind Frauen in der Minderheit. Annina Largo schätzt den Frauenanteil bei den gemischten Kursen auf rund zehn Prozent. Frauen aus muslimisch geprägten Ländern hätten in ihrer Heimat häufig keinen Sport betrieben, so Annina Largo. Und falls doch, oft unter Ausschluss der Männer. Daher gibt es bei Sportegration unterdessen auch Yoga-, Tanz- und Fitboxkurse nur für Frauen und deren Kinder. Die Women-Only-Trainings seien sehr beliebt, so Largo. Auch bei den gemischten Trainings steige der Frauenanteil. Beim Fitboxtraining ist heute jedoch nur eine Frau dabei: Yalda. Die 25-jährige Afghanin besucht die Trainings nicht nur wegen des Sports. Sie verbessert auch ihr Deutsch, schliesst neue Freundschaften – und erhält nebenbei Unterstützung im bürokratischen Asylverfahren. Für etwa zwei Dutzend ihrer Schützlinge hat Annina Largo bereits Briefe nach Bundesbern geschrieben oder direkt mit dem Staatssekretariat für Migration telefoniert. So auch für Yaldas Schwester Maryam. Deren Asylentscheid war lange Zeit ausstehend. Largo, die erfahrene Juristin, drohte mit einer Rechtsverzögerungsbeschwerde. Mit Erfolg. Just an diesem Trainingsabend überbringt Largo Yalda den Asylentscheid des Staatssekretariats für ihre Schwester. Maryam hat wie Yalda den F-Ausweis erhalten, ist also vorläufig aufgenommen. Strahlend umarmt Yalda Annina Largo.

Kurze Zeit später beginnt das Training. Vor Annina Largo warten vier junge Männer, trippeln ungeduldig auf den Zehenspitzen. Geboxt wird nur in die Handschuhe der Trainer und gegen Boxsäcke, andere Schläge sind tabu. Annina Largo trägt ein schwarzes Tanktop, die durchtrainierten Oberarme unterstreichen ihre Fitness. «Sie ist gut», meint ein junger Afghane, der seit drei Jahren regelmässig ins Fitboxen kommt. Wobei Boxen eigentlich der falsche Ausdruck ist. Das Training ähnelt mehr einem Tanz als einem Schlagabtausch. Trotzdem werden Annina Largo und ihre Vereinskolleginnen und -kollegen immer wieder mit Vorurteilen konfrontiert. Es ist vor allem der «Fall Carlos», der dabei den Ton vorgibt; die Geschichte jenes renitenten Jugendlichen, der vom Jugendamt unter anderem monatlich Thaiboxlektionen in der Höhe von mehreren Tausend Franken bezahlt bekam – und der bis heute weder aus dem Gefängnis noch aus den Negativschlagzeilen gekommen ist, weil er rückfällig geworden ist. Annina Largo kann über solche Kommentare nur noch müde lächeln. «Was hat dieser Fall mit unserem Projekt zu tun? Carlos ist kein Asylbewerber, sondern der Sohn eines Schweizers und einer Brasilianerin. Und er war bereits vor dem Thaiboxen straffällig geworden.»

Ihre Energie wolle sie für das wirklich Wichtige aufsparen, sagt Annina Largo; für die Finanzierung von Sportegration beispielsweise. Das Jahresbudget des Vereins beträgt 175 000 Franken. Damit werden die Raummieten, Unterstützungsbeiträge an die ÖV-Tickets gewisser Teilnehmenden sowie das Sportmaterial bezahlt. Auf öffentliche Gelder könne man nicht zählen: «Das Budget im Bereich soziale Integration ist für Initiativen wie Sportegration verhältnismässig klein. Und alle wollen etwas vom Kuchen.»

Mit der Kündigung ihrer Anwaltsstelle verabschiedete sich Annina Largo von einem fünfstelligen Monatslohn. Derzeit lebt sie von ihrem Ersparten und vom Lohn ihres Mannes, der als Rechtsanwalt arbeitet. Ewig möchte sie nicht so weitermachen. Ziel sei eine bezahlte Geschäftsstelle. Ansonsten werde sie wohl einen Teilzeitjob annehmen oder nebenbei freiberuflich als Anwältin arbeiten. Annina Largo möchte bald wieder auf eigenen Beinen stehen.

Trotzdem: Kündigen würde sie jederzeit wieder. «Ich hatte noch nie das Gefühl, hier etwas Falsches zu machen – im Gegenteil!» Denn Annina Largo erleichtert mit Sportegration nicht nur Asylsuchenden und Flüchtlingen die Ankunft und die Integration in der Schweiz. Auch sie selbst scheint dank dem Projekt irgendwie angekommen zu sein – und zwar nicht nur vorläufig.