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Was bleibt – eine Wohnung in der Zürcher Altstadt

Stil

Was bleibt – eine Wohnung in der Zürcher Altstadt

  • Aufgezeichnet von: Line Numme Fotos: Alina Pfister/Photoprojects, Flavio Leone (1)

Die Wohnung in der Zürcher Altstadt sah aus, als habe die Mutter sie nur kurz verlassen – doch es war für immer. Zwei Jahre nahm sich ihr Sohn Basil Dornbierer (56) nach ihrem Tod Zeit fürs Räumen, fürs Loslassen. Hier sein berührender Bericht.

Als ich nach ihrem Tod in die Wohnung meiner Mutter in der Zürcher Altstadt zog, ging es vor allem um Arbeit, nicht um Gefühle. Ich erinnere mich, dass ich am Anfang kaum über sie sprechen konnte. Sobald das Gespräch auf sie kam, kamen die Gefühle hoch. Als ich mich auf ihre Hinterlassenschaft einliess, wurde ich immer wieder unerwartet emotional, vor allem wenn ich Bilder betrachtete. Fotos zu sortieren, war schlimm. Ich wollte mich nicht zu stark in ein Bild vertiefen, so allein. Es ist hart, wenn man sich bewusst wird, dass viele Erinnerungen nicht mehr geteilt werden können. Die Zeitreise geht unweigerlich in beide Richtungen, also auch in die Zukunft, und so wird einem die Vergänglichkeit noch mehr bewusst. Ich habe viele Fotos darum erst mal auf die Seite gelegt. Beim Ordnen kam mir meine Arbeit als Gärtner zugute. Ich bin wie beim Jäten vorgegangen. Da fange ich einfach mal an einem Ecklein an und bleibe dran, bis es bearbeitet ist. Auch beim Ordnen ging es stets um den Versuch, die Sachen möglichst in die richtige Richtung abzulegen oder sie fallen zu lassen.

Ich war manchmal nicht lieb mit den Dingen, sie aber auch nicht mit mir. Meine Leidenschaft für Sachen ist so gross wie die meiner Mutter, denke ich. Ihr hat einfache, zeitlose Kunst gefallen. Oft aus anderen Kulturen. Den Sinn für schöne Sachen und dafür, deren Schönheit zu zelebrieren, scheine ich von ihr zu haben. Ich bin aber trotzdem kein Sammler, sondern versuche eher, asketisch zu leben. Meine Mutter hat sich gern mit Schönem umgeben und alles gehegt und gepflegt. Auch ich repariere viel und verhelfe Dingen gern zu neuem Leben.

Vieles, von dem ich dachte, es könnte bei ihnen Anklang finden, habe ich an Freunde und Bekannte weitergegeben. Zum Teil musste ich den Gegenstand etwas anpreisen, aber keinesfalls wollte ich jemandem etwas aufdrängen. Es gibt Abnehmer für fast alles: Börsen, Liebhaber, Sammler … Inserate im «Zürcher Tagblatt» sind auch sehr ergiebig.

Erstaunlich, was einem alles in den Sinn kommt, wenn man einen Gegenstand betrachtet. Es ist ein bisschen so, wie wenn man ein Haus baut, aber das Material nicht zur Verfügung hat und improvisieren muss. Man nimmt etwas in die Hand und schaut, wo man es am besten unterbringen könnte. Ich bin kein Architekt und arbeite nicht nach Plan. Einige Ideen kamen mir im Gespräch mit anderen. Plötzlich erfährt man, dass jemand dies und das vorhat, und dann passt es wieder. Zum Beispiel landete die Brillenetuisammlung meiner Mutter bei einem passionierten Brillensammler.

Als Erstes musste ich Brauchbares von Unbrauchbarem trennen, was natürlich sehr subjektiv ist. Aber so konnte ich für mich Ordnung schaffen. So wusste ich dann, wo die Brillenetuis waren, wenn der Moment gekommen war, sie weiterzugeben. Vor allem auch bei den unzähligen Büchern war mir Ordnung sehr wichtig. So konnte ich mich bei der Suche nach einem bestimmten Buch auf einen Bereich von einem Meter beschränken.

Für den Schmuck habe ich mir nicht so viel Zeit genommen. Den habe ich etwas lieblos entsorgt, das muss ich zugeben. Ich habe nur fünf Schmuckstücke herausgepickt, das war alles. Oft sind es die materiell wertlosen Dinge, die einem Freude bereiten, wenn man sie plötzlich wiederentdeckt. Gegenstände, die einem als kleines Kind viel bedeutet haben. Zum Beispiel kam mit einer alten Holzspielfigur ein Stück Kindheit zurück. Das war schön.

Meine Mutter war Kunsthandwerkerin und hat unter anderem unzählige Perlenobjekte geschaffen. Sträussli nannte sie diese. Die viele Zeit, die in ihnen steckt, berührt mich. Es macht mich aber auch neidisch, dass sie so viele wertvolle Stunden in schöpferische Arbeit stecken konnte. Einfach entsorgen kann man so etwas nicht. Die Hälfte habe ich bisher an alle möglichen Leute verschenkt. Immer, wenn sich eine Gelegenheit bot. Die andere Hälfte habe ich noch. Ein Erbe aus Blumen und Licht. Das ganze Material und Werkzeug dazu habe ich meiner Schwester aufgedrängt, vielleicht in der Hoffnung, dass sie das handwerkliche Erbe einmal weiterführen würde.

An meine Grenzen bin ich beim Papierkram gekommen, den meine Eltern hinterlassen haben. Ich drehte Tausende von Zetteln um und spürte manchmal richtig die Aggressionen hochkommen, weil mir meine Eltern diese Sisyphusarbeit aufgebürdet haben. Manchmal dachte ich schon: Was mache ich hier eigentlich? Was für eine Zeitverschwendung! Ich wollte das Hässliche aber genau so handhaben wie das Schöne. Vielleicht bin ich etwas masochistisch veranlagt. Es hat aber auch mit Respekt zu tun. Und wenn ich die Sache ernst nehme, darf ich auch darüber wettern. Ich glaube, wie man Dinge behandelt, hat auch viel damit zu tun, wie man mit Menschen umgeht. Mein Ziel war es, zum Schluss zwei, drei Dinge zu behalten. Bei meinem Auszug zwei Jahre später waren es jetzt aber doch fünf Bananenschachteln voll. Und ein paar Bilder. Darunter eins, von dem ich denke, dass es mich noch ein Weilchen begleiten wird. Ein asiatischer Steindruck, der ungerahmt im Wohnzimmer an der Wand hing. Er zeigt ein musizierendes, geflügeltes Geisterwesen oder einen Engel, und es tut mir einfach gut, ihn anzuschauen.

Diese ganze Erfahrung hat mich gelehrt, Wesentliches von Unwesentlichem zu trennen und zu erkennen, was für mich echte Erinnerungen sind. Es gibt Menschen, die wissen nicht, woher sie kommen, und die die Chance, in die Lebensgeschichte ihrer Eltern einzutauchen, nicht haben. Sie können aus dem familiären Kulturgut nichts mitnehmen. Es ist schön, wenn man zurückblicken und wertschätzen kann. Die Freude am Schönen kostet niemanden etwas. Das schöne Wissen, dass sie gelebt wurde, bleibt.

Nützliche Adressen

Auszweiterhand.ch: Immer aktuelle Infos zu Börsen, Brockenhäusern und Auktionen.

Byboox.ch: Bücher entsorgen fällt allen schwer. Online-Bücher-Ankauf-Service, der hilft.

Muldentelefon.ch: Wer viel zu entsorgen hat und nicht lang sortieren will, bestellt eine Mulde vors Haus.

Umzugs-engel.ch: Menschlichkeit wird hier grossgeschrieben.

Myhappyend.org: Was passiert mit dem Nachlass? Non-Profit-Organisationen bieten Orientierungshilfe und geben Tipps zur Testamentverfassung. Sie ermöglichen auch, gemeinnützige Institutionen zu berücksichtigen.

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1.

Die Stube zeugt von vielen Schaukelstunden: Blick ins Grün des Lindenhofs

2.

Jeder Gegenstand hat eine Geschichte: Auf einem Altärchen gruppiertes Stillleben

3.

Belesen: Meterlange Reihen mit Büchern aus ganz verschiedenen Epochen

4.

Ob Wetter, Ausflüge oder Spannendes aus dem Radio: Die Tageshöhepunkte wurden in der Agenda notiert (oben). Rechts der Blick in den Wintergarten

5.

6.

«Einfach entsorgen kann man so etwas nicht»: Selbst gemachte Perlen-Sträussli

7.

«Vieles habe ich an Freunde und Bekannte weitergegeben»: Basil Dornbierer vor fast leer geräumten Regalen