Alles im Fluss: Warum unser Lymphsystem so wichtig ist
Ein lange ignorierter Player rückt in den Fokus der Beautybranche: Über den Einfluss eines gesunden Lymphsystems auf Haut und Wellbeing – und wie man es unterstützt.
- Von: Katrin Roth, Niklaus Müller
- Bild: Unsplash
Angenommen, es gäbe eine High-School-Serie über die verschiedenen Körperstrukturen, die Rollenverteilung wäre klar: Der Blutkreislauf ist die Cheerleaderin – überall bekannt und beliebt. Begleitet wird sie vom Lymphsystem als unscheinbarem Sidekick, der zwar immer präsent ist, aber kaum beachtet wird.
Dieses Bild hatte die medizinische Forschung während vieler Jahrzehnte, sagt Epameinondas Gousopoulos, Oberarzt an der Klinik für Plastische Chirurgie am Universitätsspital Zürich: «Obwohl das Lymphsystem bereits in der Antike von Hippokrates beschrieben wurde, fokussierte sich die Wissenschaft lange Zeit auf die Erforschung des Blutkreislaufs. Bis vor Kurzem etwa wurden dem Lymphsystem an den medizinischen Fakultäten in den USA während der gesamten Ausbildung gerade einmal zwanzig Minuten gewidmet.»
Das mag erstaunen, hat aber pragmatische Gründe. Denn anders als die Blutgefässe sind Lymphgefässe sehr fein, durchsichtig und farblos. Dadurch lassen sie sich nur eingeschränkt darstellen, was die Forschung massiv erschwerte. «Es gab kaum Studien und entsprechend galten das Lymphsystem und seine Funktionen lange Zeit als ‹vergessenes Kreislaufsystem›», erklärt Gousopoulos.
Eine Art Strassennetz
Erst als vor rund zwanzig Jahren eine Gruppe von Fachleuten die ersten molekularen Marker entwickelte, seien präzise Untersuchungen möglich geworden. «Die auf diesen Kennzeichen basierenden Tiermodelle ermöglichten erstmals detaillierte Einblicke ins Lymphsystem. Seither wissen wir, dass es sich dabei nicht wie angenommen um ein Nebensystem des Blutkreislaufs handelt, sondern um eine eigenständige Körperstruktur mit entscheidendem Einfluss auf unsere Gesundheit», erzählt Gousopoulos.
Zur Veranschaulichung des Lymphsystems vergleicht er die zarten Lymphgefässe gern mit einem fein verästelten Strassennetz, das sich durch den Körper bahnt und wichtige Transporte übernimmt.
Als Vehikel dient die Lymphe, eine klare Flüssigkeit, die Abfälle, Fremdstoffe und manchmal auch Krankheitserreger mitführt. An den «Dorfplätzen» – gemeint sind die Lymphknoten – wird sortiert und gefiltert, damit nur das Nützliche weiterreist.
Epameinondas Gousopoulos, Oberarzt am Universitätsspital Zürich"Der Lymphfluss hat kein zentrales Pumpsystem und ist darum auf externe Faktoren sowie gezielte Stimulation angewiesen"
Für den körpereigenen Entgiftungsprozess, die Immunabwehr und verschiedene Stoffwechselprozesse ist ein intaktes Lymphsystem daher entscheidend, betont Gousopoulos, der sich zusammen mit seinem Doktorvater Michael Detmar auf die Erforschung ebendieses spezialisiert hat.
Ziel der gemeinsamen Arbeit war es, einen Wirkstoff zu finden, der einen reibungslosen Abfluss der Lymphe begünstigt und zur Behandlung von Ödemen, also Flüssigkeitsansammlungen im Gewebe etwa nach Operationen, eingesetzt werden kann.
«Im Gegensatz zum durch das Herz angetriebenen Blutkreislauf hat der Lymphfluss kein zentrales Pumpsystem und ist darum auf externe Faktoren wie Muskelaktivität sowie gezielte Stimulation angewiesen. Neben manueller Massage kommen dafür in gewissen Situationen auch spezielle Wirkstoffe zur Unterstützung des Lymphsystems infrage», erklärt Gousopoulos.
Vom Labor auf die Haut
Aktuell ist der von den beiden Experten erforschte Wirkstoff in der klinischen Entwicklung. Bereits seit 2022 erhältlich hingegen sind die Produkte der Kosmetiklinie Iräye, die quasi als Nebenprodukt dieser Arbeit entstanden ist.
Iräye widmet sich als erster Beauty-Brand der Bedeutung des lymphatischen Systems in der Hautpflege, wie Co-Founder & Head of Product Development Gousopoulos erzählt. «Beim Testen verschiedener pflanzlicher Extrakte stellten wir fest, dass einige davon beim Auftragen auf die Haut zu einer nachweislichen Verbesserung des Lymphabflusses führen.»
Fasziniert von dieser Entdeckung vertieften die Ärzte ihre Forschungen auf diesem Gebiet, bis die Formel für den sogenannten Lymphactive Complex stand, mit dem das Lymphsystem nach Aussagen des Iräye-Teams auf drei Ebenen unterstützt und die Hautbeschaffenheit verbessert werden soll: Durch die Ausleitung von Stoffwechselrückständen aus der Haut, durch die Steigerung der Lymphfunktion sowie durch den Schutz der Haut und ihrer Lymphgefässe, deren Effizienz aufgrund des natürlichen Alterungsprozesses ab dem 28. Lebensjahr nachlässt.
Zwischen Wellness und Wissenschaft
Wie wichtig ein gut funktionierendes Lymphsystem für das äussere Erscheinungsbild ist, weiss auch Farah Sahli. «Die Haut ist unser grösstes Organ und eng mit dem Lymphsystem verbunden. Wenn der Transport der Lymphe stockt, kann es zu Unreinheiten, Unebenheiten, Wassereinlagerungen oder Schwellungen kommen», erklärt die Physiotherapeutin und Gründerin des Studios Zona mit Niederlassungen in Frankfurt und Zürich.
Eben hat sie mit geübtem Handgriff ein kleines Handtuch zu einer hübschen Schleife gefaltet und auf der frisch bezogenen Liege platziert, auf der bis eben eine Kundin lag. «Die meisten kommen für eine brasilianische Lymphdrainage», sagt Sahli, die sich schon vor Jahren auf diese Behandlung spezialisiert hat, mit der sich je länger, je mehr nicht nur Hollywood-Stars, sondern auch ganz normale Bürger:innen in Form bringen lassen wollen.
Sicht- und spürbare Wirkung oder Social Media Hype?
Dass die Methode heute so gut gebucht wird, liege einerseits an der sofort sicht- und spürbaren Wirkung und andererseits am Hype in den Sozialen Medien, ist Sahli überzeugt. «Insbesondere die Vorher-nachher-Bilder haben eine enorme Strahlkraft.»
Im Vergleich zur klassischen medizinischen Lymphdrainage, wie man sie nach Operationen, Verletzungen oder Lymphödemen aus der Physiotherapie kennt, handelt es sich bei der brasilianischen Lymphdrainage um eine modernere, dynamischere Technik, die Elemente der klassischen Methode aufgreift, aber mit intensiveren, rhythmischen Griffen arbeitet.
«Die brasilianische Lymphdrainage zielt stärker auf eine sichtbare Konturierung und ein direktes Gefühl von Leichtigkeit und Vitalität ab. Sie ist also keine rein medizinische Anwendung, sondern verbindet funktionale mit ästhetischer Wirkung und dient auch der Prophylaxe», erklärt die Expertin.
Farah Sahli, Physiotherapeutin und Gründerin des Studios Zona"Die brasilianische Lymphdrainage ist nur einer von vielen Bausteinen für ein gesundes Körpergefühl"
Neben der äusserlich sichtbaren Wirkung biete die brasilianische Lymphdrainage durchaus auch gesundheitliche Vorteile: Sie rege den Stoffwechsel an, unterstütze die Durchblutung und stärke das Immunsystem. Aber: «Sie ist nicht das Wundermittel, als das sie mitunter verkauft wird», betont Sahli.
Kritikpunkte wie «das ist doch nur Wellness» oder «es fehlen wissenschaftliche Grundlagen» höre sie immer wieder, sagt die Massage-Spezialistin. «Es ist wichtig, realistische Erwartungen zu haben. Die brasilianische Lymphdrainage ist nur einer von vielen Bausteinen für ein gesundes Körpergefühl.»
Besonders geeignet ist die Methode nach Aussagen von Sahli für Menschen, die unter Wassereinlagerungen leiden, sich oft aufgebläht fühlen, beruflich bedingt viel sitzen oder stehen müssen oder ihrem Körper schlicht etwas Gutes tun wollen. Auch Sportler:innen profitierten von der regenerierenden Wirkung der brasilianischen Lymphdrainage, natürlich immer unter der Voraussetzung, dass die Technik korrekt angewendet wird.
«Risiken entstehen wie überall vor allem dann, wenn unsachgemäss gearbeitet wird oder Kontraindikationen ignoriert werden. Deshalb sollte man unbedingt zu qualifizierten Fachpersonen gehen, die sich ausführlich Zeit nehmen für eine Anamnese und Erfahrung auf dem Gebiet haben», empfiehlt die Physiotherapeutin.
Richtig angewendet, handle es sich bei der brasilianischen Lymphdrainage um eine im Ursprungsland seit Jahrzehnten etablierte Methode mit spürbar positivem Einfluss auf die Optik und das Wohlbefinden des Körpers, sagt Sahli. Das Fehlen von empirischen oder klinischen Studien zur brasilianischen Lymphdrainage ist ihrer Meinung nach vor allem der Tatsache geschuldet, dass es sich dabei dennoch um eine verhältnismässig junge Disziplin handelt.
Und was meint Epameinondas Gousopoulos? Er ist angetan von der Methode, sagt, dass die besten Physiotherapeut:innen seiner Meinung nach aus Brasilien kommen.
Neue Erkenntnisse, neue Perspektiven
Ebenfalls relativ neu sind Forschungsprojekte rund um das Lymphsystem im Zusammenhang mit neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer. Während einige Fachleute bereits von wichtigen Durchbrüchen sprechen, äussern sich andere Spezialist: innen skeptisch.
Trotz den zum Teil sehr kontroversen Meinungen ist eines aber unbestritten: Das Lymphsystem hat es langsam, aber sicher von der Nebendarstellerin ins Rampenlicht geschafft. In einer zeitgemässen High-School-Serie über die verschiedenen Körperstrukturen müssten die Rollen neu verteilt werden.
Unsere Tipps. So kommt die Lymphe in Schwung:
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Bewegung
Spaziergänge, Treppensteigen oder einfache Gymnastikübungen wie die «Wadenpumpe» (von der Ferse auf den Fussballen wippen) regen den Lymphfluss an. Besonders effizient ist Bewegung im Wasser, da der Druck die Wirkung begünstigt. Selbst kurze Aktivitätseinheiten helfen.
2.
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Ernährung
Antioxidantienreiche Lebensmittel wie Obst, Gemüse oder Nüsse reduzieren Entzündungen und unterstützen den natürlichen Abtransport von überschüssiger Gewebeflüssigkeit. Eine salz- und fettarme Kost mindert ausserdem Wassereinlagerungen.
3.
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Trinken
Um die Lymphflüssigkeit zu verdünnen und den Abtransport von Schadstoffen zu erleichtern, braucht der Körper Flüssigkeit. Ausreichend trinken ist darum essenziell. Wichtig: Alkohol schwächt die Lymphgefässe und sollte vermieden werden.
4.
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Schlaf
Ausreichend Schlaf wirkt wie ein Reset-Knopf für das Lymphsystem, denn er unterstützt Regeneration, Flüssigkeitsbalance und Immunabwehr, wodurch die Lymphzirkulation indirekt gestärkt wird.
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Sonnenschutz
Zu viel UV-Strahlung schwächt das Immunsystem und schädigt die Lymphgefässe, die bereits mit dem Transport von Abbauprodukten und Entzündungsstoffen belastet sind.
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6.
Trockenbürsten
Sanfte Bürstenmassagen in Richtung Herz regen die Durchblutung an, aktivieren die Lymphbahnen in der Haut und können ein Gefühl von Leichtigkeit in den Beinen fördern.
7.
7.
Beine hochlagern
Wer abends die Beine für zehn bis zwanzig Minuten hoch lagert – idealerweise oberhalb des Herzniveaus –, entlastet das Lymphsystem. So kann Gewebeflüssigkeit besser abgebaut werden, was Schwellungen reduziert.