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Das Bordell auf dem Handy

Body & Soul

Das Bordell auf dem Handy

  • Text: Andres Eberhard; Illustration: iStock

Ein Mann und eine Frau wollen unabhängig voneinander mit Apps die Prostitution revolutionieren – und vielleicht sogar das Leben der Sexarbeiterinnen verbessern. Leichter gesagt als getan.

Am Ort, wo die Prostitution neu erfunden werden soll, ist Kiffen erst ab 17 Uhr erlaubt. Eine Villa in Marbella, auf der Terrasse hat es Pool und Palme, vom oberen Stockwerk aus sieht man auf die Costa del Sol und das Mittelmeer. Das Büro ist im Keller, durch die schlitzförmigen Fenster dringt nur wenig Sonnenlicht, grelle Neonlampen spenden Helligkeit. An einem Stützpfeiler hängt ein Zettel mit den «Office Rules»: fünf Stunden am Morgen, drei am Nachmittag, Musik nicht zu laut, am Morgen ab sofort keine Spliffs mehr und später nur noch draussen.

Hier unten, an einem Stehpult vor drei grossen Bildschirmen, bastelt Sergio Rigert am Puff der Zukunft. Gingr soll es heissen, eine App, die per GPS nach Prostituierten in der Nähe sucht, um sie dann per Knopfdruck zu buchen. Das geht so: Der Freier meldet der App seine Wünsche. Sex mit einer Blondine mit grossen Brüsten in einer Stunde bei mir – Klick auf Instafuck. Die App sendet die Anfrage an alle Prostituierten in der Nähe, auf welche die Vorlieben passen. Zurück kommen die entsprechenden Angebote, und der Freier entscheidet sich für eines davon. Instafuck: Sex nach Wunsch für jedermann, überall und jederzeit, bestellt und geliefert wie eine Pizza.

Rigert trägt Bermudashorts und ein Footballshirt, «Thank God It’s Friday». Seine Haare hat er zurückgebunden, der Dreitagebart wirkt ungepflegt. Er kneift die Augen zusammen, blickt an den Bildschirmen vorbei an die mit Postern von «Star Wars» und halbnackten Frauen tapezierten Wände und erklärt: «Dieses Ding muss jetzt einmal richtig fett um die Welt.» In 34 Ländern soll Gingr starten. Losgehen soll es mit den deutschsprachigen Ländern, danach kommen England, Kanada, Neuseeland, Australien und Spanien. «Das kann eine gigantische Firma werden», glaubt Rigert, «wenn wir richtig hart dafür arbeiten.» Heisst: Keller und Neonlicht statt Pool und Sonne. Und keine Joints am Vormittag.

Kaum eine Branche, in der die digitale Revolution noch nicht ausgebrochen ist. Amazon und Zalando pflügen den Einzelhandel um, Whatsapp und Co. die Telekommunikationsfirmen, Facebook und Google die Medienlandschaft, Kryptowährungen das Bankenwesen. Start-ups bedrängen die mächtigen alten Platzhirsche – Uber statt Taxis, Airbnb statt Hotels, Spotify statt CD-Läden. «Warum», fragte sich ein Autor des Wirtschaftsmagazins «Forbes» vor Jahren, «gibt es kein Uber oder Tinder für Prostitution?» Eine gute Frage.

Die ersten Vorschläge waren jedenfalls voller guter Absichten. Ein US-Rechtsprofessor machte 2013 mit einem Artikel in einer Fachzeitschrift den Anfang. Der Titel: «Prostitution 3.0?» Technologische Innovation, so die These von Scott R. Peppet von der University of Colorado, könnte für bessere Marktbedingungen im Sexgewerbe sorgen, was insbesondere den Sexarbeiterinnen zugute käme; und zwar, indem quasi eine Drittpartei einen für beide Seiten sichereren Akt ermögliche. Eine App könnte, hypothetisierte der Professor, auf Datenbanken mit zum Beispiel Gesundheitsdaten zugreifen, um beide Seiten auf Geschlechtskrankheiten zu checken – und die Freier zusätzlich auf Vorstrafen sowie die Sexarbeiterinnen darauf, ob sie ihre Dienste freiwillig anbieten oder dazu gezwungen werden. Das Ergebnis dieser Abklärungen würde beiden Parteien vor dem Akt automatisch aufs Smartphone geschickt – und zwar anonym. Treffen sich schliesslich Freier und Prostituierte, bestätigt ein biometrischer Identitätsnachweis, dass es sich tatsächlich um die Personen handelt, die via App miteinander in Kontakt waren. «Die Digitalisierung hat die Prostitution verändert, aber noch nicht genug», bilanzierte der Professor seine über 70-seitige Arbeit. Oder eben: Was es brauche, sei eine Prostitution 3.0.

Die Kritik kam postwendend. Die Digitalisierung der Prostitution dürfe nicht der männlich dominierten Tech-Branche überlassen werden, schrieb die «Financial Times»-Journalistin Izabella Kaminska. «Wenn eine App von den Nutzern des Markts entwickelt wird, dann nützt das per Definition den Freiern, nicht den Sexarbeiterinnen.» Deutlicher wurde Melissa Gira Grant vom Magazin «Vice». «Da geht es um Kundenservice, nicht um das Leben der Sexarbeiterinnen.»

Schaut man sich die Website von Gingr an, scheinen sich diese Befürchtungen zu bewahrheiten. Was dort zu lesen ist, tönt zunächst eher nach Auswüchsen männlicher Fantasie als nach einer App, die für einen besseren und damit sichereren Sexmarkt sorgen würde. Auf der Schweizer Startseite steht: «Träumst du von einem Sexpartner, der dich in die Geheimnisse des Alphornblasens einweiht? Oder bevorzugst du ein Fondue, in welches gern verschiedene Stäbchen eintauchen dürfen?»

«Unsere Plattform fördert die Transparenz, das würde auch den Sexarbeiterinnen helfen», sagt Rigert. Auch wenn es tönt wie ein flacher PR-Spruch: Expertinnen sehen in Apps wie Gingr durchaus Chancen für die Branche. «Die Sexarbeiterinnen könnten sich über Freier austauschen, die gewalttätig geworden sind, ungeschützten Sex fordern oder nicht bezahlen», sagt Beatrice Bänninger von der Stadtmission Zürich, welche mit Isla Victoria eine Anlauf- und Beratungsstelle für Frauen im Sexgewerbe betreibt. Ein Problem sieht Bänninger darin, dass Sexarbeiterinnen auf der Strasse – und dort seien die Probleme am dringendsten – sehr preissensibel sind und kaum Geld für einen Account ausgeben würden. Und einen solchen braucht es, um Buchungen zu tätigen und Bewertungen von Freiern abzugeben. Wenn Gingr also Sexarbeiterinnen nützt, dann wohl vor allem solchen, die in den Hochpreissegmenten arbeiten: als Escorts oder in Bordellen. Darauf angesprochen, stellt Rigert klar: «Wir machen nicht auf Wohlfahrt, sondern wollen straightforward Cash verdienen.»

Wohl nur wenige Personalabteilungen dieser Welt würden Sergio Rigert einstellen. Der bisherige Lebenslauf des 33-Jährigen liest sich mehr wie ein Trip als wie ein beruflicher Werdegang. Privatschule in Spanien, danach Firmen für Drohnenfotos und Haarentfernung gegründet sowie mit einem Nachtclub in Zürich gescheitert. Dazwischen eine wilde, 192 Seiten starke Fantasy-Autobiografie geschrieben und Geld mit dem Anbau von Marihuana verdient. Neben Gingr zieht Rigert derzeit eine zweite Firma auf, die auf der CBD-Hanf-Welle mitreiten soll. Und er hat weitere hochfliegende Pläne. Ihm schwebt eine Idee vor, wie man den Food-Waste und das Hungerproblem der Welt gleichzeitig lösen könnte. In Zürich möchte er zudem eine Kommune gründen und dort eine Art neue Zivilisation errichten. Er sagt: «Das Problem ist, dass es für alles, was ich machen möchte, Geld braucht.» Dieses Problem soll Gingr lösen. Als wir das erste Mal übers Internet miteinander telefonierten, sass Rigert auf einem abgewetzten Sofa in einem kleinen Büro eines Geschäftshauses mit Glasfront, direkt an einer vielbefahrenen Strasse ein paar Kilometer ausserhalb von Marbella. Er war eben erst aus Zürich dort angekommen und schlief auf der Couch. Er habe selber auch schon online nach bezahltem Sex gesucht, sagte er damals. Die bestehenden Angebote im Internet hätten ihn aber nicht überzeugt, «zu umständlich».

Die Gingr AG hatte Rigert gemeinsam mit einem befreundeten Grafiker vor rund zwei Jahren in Zürich gegründet. Die Programmierer fand er in Marbella, wo er einst in die Schule gegangen war. Als die Website Ende 2016 zum ersten Mal aufgeschaltet wurde, lud Rigert zum grossen Medienlaunch. Tele Züri sowie einige Online-Medien berichteten. «Uber für den Verkehr, Gingr für den Geschlechtsverkehr», titelte der Zürcher Regionalsender. Ein Pressefoto zeigte Rigert im Anzug mit ernstem Blick und verschränkten Armen – flankiert von einer Domina, zwei Blondinen mit Strapsen und einem Callboy. Der Launch war allerdings etwas verfrüht: Auf der Site funktionierte vieles nicht, allem voran die Funktion Instafuck. Um die Web-App endlich fertig zu bekommen, entschieden Rigert und sein Freund, nach Spanien zu ziehen. Erst einmal auf die Couch im Büro und sich dann auf die Suche nach etwas Grösserem machen, so der Plan.

Nach unserem Skype-Gespräch ging alles sehr schnell. Rigert erhielt den Zuschlag für eine möblierte Villa, die auf einer Anhöhe im Vorort Estepona liegt: 1750 Euro pro Monat, zur Zwischenmiete bis diesen Sommer. Als ich wenige Wochen später zu Besuch bin, sind im Keller bereits sechs Arbeitsplätze eingerichtet. In den Schlafzimmern im oberen Stock wohnen Rigert und seine Freundin, in jenem im Parterre der befreundete Grafiker. Der Rest des Teams – drei Spanier und ein Exil-Schweizer – kommt morgens um 9 Uhr in den Keller und verlässt ihn gegen 18 Uhr wieder. Rigerts Freundin bringt Frühstück nach unten und kocht am Mittag, man trifft sich draussen auf der Terrasse zum Essen. Der Grafiker schwimmt danach jeweils noch ein paar Längen im Pool, dann gehts wieder hinunter.

Einmal bitte ich Rigert, mir den Ort zu zeigen, wo er Jahre seines Lebens verbracht hat, als er hier bei seinem Vater lebte und in eine Privatschule ging. In seinem Audi-Kombi («Geschäftsauto») fahren wir durch die Hügel oberhalb Marbellas und sprechen über Beziehungen, Treue, Liebe, Sex. Warum er sich ausgerechnet die Prostitution ausgesucht habe für sein Start-up, frage ich. Er möge einfach Frauen, lautet die lapidare Antwort. Als Jugendlicher hat Rigert einmal ein Buch mit Fotos der «100 schönsten Frauen» gemacht. «Girls von Heaven», hiess es, schwarzer Einband, rote Schrift, ein halbes Jahr Arbeit. «Alle wollten das sehen.» Als ich später in seiner 192 Seiten dicken Autobiografie blättere, die den Titel «ElBib98 – Sergio Dream» trägt und wie eine Bibel für ungläubige pubertierende Männer daherkommt, lese ich folgende Zeilen: «Die Frau ist das beste Wesen, das es gibt, und wir Männer sollten es respektvoll behandeln. Falls das Weib es nicht verdient, dann sollte man es auswechseln.»

Rigert mag ein Macho sein, ein Zuhälter ist er nicht: Denn Gingr nimmt keinen direkten Anteil am Lohn der Prostituierten. Geld will die Firma mit Premium- Abos machen. Freier erhalten Extras wie den Zugang zu mehr Bildern und Videos; Sexarbeiterinnen und Bordelle können die Website als Buchungsplattform nutzen. Geht es nach Rigert, soll Gingr auf diese Art und Weise die Prostitution revolutionieren. Er ist allerdings nicht der Erste, der dies versucht. Und er wäre auch nicht der Erste, der damit scheitert.

Berlin, Co-Working-Space Rent24. Im Living Room sitzen Leute mit Kopfhörern auf Sofas und starren in ihre Laptops. An Decken und Wänden hängen Spinnweben und ein Gespenst; es ist Halloween, am Abend wird gefeiert. Sie möge es hier, weil es sich ein bisschen anfühle wie zuhause, sagt Pia Poppenreiter und führt auf der Suche nach einem freien Sitzungszimmer durch einen schmalen Gang. Weil grad keines frei ist, nehmen wir in einem kleinen dazugehörigen Kinosaal Platz, in der vordersten Reihe auf einem roten Sofa. Poppenreiter, in lockerem Fleece und mit einem breiten, grauen Schal, zischt eine Dose Redbull mit Cranberry auf, steckt ihr Handy in einen mobilen Akku und erzählt, warum sie sich vor drei Jahren zum Ziel gesetzt hat, den Markt für bezahlten Sex zu verändern.

«Ich wollte die Welt verbessern», sagt sie. «Ich sah die frierenden Sexarbeiterinnen am Strassenstrich in Berlin und dachte: Es muss doch möglich sein, dass all diese Frauen nicht in der Kälte auf die Freier warten müssen.» Poppenreiter, 29 Jahre alt, Österreicherin und studierte Wirtschaftsethikerin, heisst wirklich so und bestreitet mittlerweile schon ihren zweiten Versuch, die bezahlte Sexwelt zu revolutionieren.

Ihr erster Versuch begann mit Pauken und Trompeten. 2014 hatte Poppenreiter eine App namens Peppr auf den Markt gebracht, deren Grundfunktionen praktisch identisch waren mit jenen von Gingr von Sergio Rigert: Über die Web-App konnten Freier durch freizügige Bilder wischen und sich per GPS anzeigen lassen, welche Prostituierte in der Nähe zum gewünschten Zeitpunkt ihre spezifischen Bedürfnisse befriedigen würde. Das «Prostitutions-Uber» war schnell in halb Europa bekannt: von «Bild» über das ZDF bis zum «Economist » und «Time», sie alle berichteten. Sex bestellt wie eine Pizza, gegründet von einer Frau, die ausgerechnet Pia Poppenreiter hiess, das war eine gute Story.

Nur: Ein halbes Jahr später war bereits Schluss. Offiziell, weil sich Poppenreiter und ihr Mitgründer uneinig darüber waren, in welche Richtung sich die App entwickeln sollte. Inoffiziell, weil alles zu viel wurde: profitorientierte Investoren finden und gleichzeitig die Probleme der Sexarbeiterinnen lösen; dazu all die juristischen Fragen, der Druck durch die grosse Medienöffentlichkeit und – Gerüchten zufolge – auch vonseiten des Millieus. Und überhaupt: Mit Prostitution 3.0, wie sie Professor Scott R. Peppet vorschwebte, hatte das alles nicht viel zu tun. Statt vollautomatisierten digitalen Prozessen, die für einen besseren und sichereren Sexmarkt sorgen, schien alles ein wenig handgestrickt und nur halb durchdacht. So versprach Poppenreiter etwa, mit jeder einzelnen Sexarbeiterin vorgängig zu telefonieren, um zu verifizieren, ob ihr Profil echt ist und ob sie nicht allenfalls doch in die Prostitution gezwungen wurde.

Als wir uns zwei Jahre später im Kinosaal des Co-Working- Space auf dem roten Sofa gegenübersitzen, möchte Poppenreiter nicht mehr über das Scheitern von Peppr sprechen. Die App gibt es nach wie vor, sie selber ist aber nicht mehr daran beteiligt. Ein halbes Jahr nach dem Start hatte sie ihre Anteile ihrem Mitgründer Florian Hackenberger übertragen. Dieser versuchte in der Folge erfolglos, die Firma zu verkaufen. Auf Anfrage schreibt Hackenberger, dass Peppr als eine «unabhängige und sichere Buchungsplattform» weiterbestehe, und zwar «non-profit, ohne Druck zur Gewinnerzielung».

Poppenreiter selber spricht lieber über ihren zweiten Versuch, die Branche umzukrempeln. Seit mittlerweile gut zwei Jahren tüftelt sie daran. Dieses Mal geht sie weit weniger idealistisch ans Werk – und dennoch ist sie dem Scheitern erneut näher als der Revolution.

Das Grundprinzip von Ohlala ist im Grunde ein schlauer Schachzug: Bei der Web-App geht es, zumindest vordergründig, nicht um Sex, sondern um die Vermittlung von «bezahlten Dates». «Was bei einem Date passiert, ist Privatsache und wird unter den Nutzern abgesprochen», erklärt Poppenreiter. Konkret geben Männer in einem ersten Schritt an, wann ein Date stattfinden soll, wie viel sie dafür bezahlen würden und welche Extrawünsche sie haben. Dann entscheiden die Frauen, ob das etwas für sie ist. Erst in einem dritten Schritt können die Männer die Profile der Frauen ansehen und das Date buchen.

In der App sind also weder freizügige Bilder noch öffentliche Profile zu sehen. Das sei für Sexarbeiterinnen ein Vorteil, sagt Poppenreiter: «Die Jobbezeichnung Prostituierte kann eine Sexarbeiterin mit zwei Kindern zu einem heiklen Doppelleben zwingen, weil sie sonst beispielsweise Probleme beim Finden eines Krippenplatzes bekommen könnte.» Was sie nicht sagt: Indem die App keine sexuellen Dienstleistungen vermittelt, zumindest nicht direkt, hält sich Poppenreiter all die sonst drohenden moralischen und juristischen Fragen vom Hals; eine riesige Blackbox, die wohl schon das Ende von Peppr provozierte und an der sich auch Investoren nicht die Finger verbrennen wollen.

Und siehe da: Dieses Mal fand Poppenreiter Investoren, und die Sex-App, die offiziell keine ist, sollte im grossen Stil die Welt erobern: Ohlala sammelte 1.7 Millionen US-Dollar ein, engagierte bis zu zwanzig Mitarbeiter und expandierte nach New York. Doch wiederum ging es nur ein halbes Jahr gut, dann schien auch dieser Versuch gescheitert. Der Grund: Streitigkeiten unter Investoren. Die Expansion wurde rückgängig gemacht, alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entlassen. Poppenreiter kaufte die Anteile zurück, und die App verschwand in einer Nische – ihre Dienste erweist sie nur noch in einigen deutschen Städten. Poppenreiter nimmt einen Schluck Red Bull und lehnt sich auf dem roten Sofa nach vorn. «Wir sind profitabel.» Der Turnaround sei geglückt, man wolle nun organisch wachsen. Es tönt mehr nach Durchhalteparole als nach einem Sieg der Revolution.

Uber für den Sexualverkehr, Tinder für Freier und Prostituierte: Wird das, was so naheliegend tönt, doch nie Realität? Stellt man diese Frage Karin Frick, Trendforscherin beim Gottlieb-Duttweiler-Institut, bekommt man eine auf Anhieb eher irritierende Antwort. Nichts von wegen juristischen Fallstricken etwa. Oder: Vorsicht, Datenschutz. Sie schickt den Link zu einer USStudie, die zeigt, dass sich Partner immer häufiger online treffen. Schreibt man dann zurück, dass es in diesem Artikel nicht um die übliche Form der Partnervermittlung gehe, sondern um Prostitution, bleibt die Expertin gelassen. «Man muss die Zukunft nicht nur als Verlängerung des Bisherigen denken.» Heute finde auf grossen Online-Plattformen wie Tinder oder Amazon jeder, was er grad sucht – je mehr Nutzer, desto individualisierter und niederschwelliger die Angebote. Wenn also Männer, die auf schnellen oder besonderen Sex aus seien, künftig auf solchen Marktplätzen gleichgesinnte Frauen finden, sei es gut denkbar, dass die traditionelle Prostitution generell an Bedeutung verliere. Anders gesagt: Wenn es Sex à la carte auch gratis und einvernehmlich gibt, warum sollen Männer oder auch Frauen noch dafür bezahlen?

Sergio Rigert sitzt spätabends auf der Terrasse eines Restaurants in Marbella und isst Tintenfisch. Er hatte eigentlich Lachsfilet sowie einen Erdbeershake ohne Zucker («Ich bin auf Diät.») bestellt. Doch mit dem Fisch stimmte etwas nicht. Er erwog kurz, ihn dem Hund vorzuwerfen, entschied sich dann aber dagegen, liess ihn stehen und isst nun vom Teller der Freundin.

«Wir lassen die Website in 22 Sprachen übersetzen», kündigt er an, «und werden dann versuchen, einen Medien-Hype zu kreieren. Wenns klappt, kann das facebookmässig abgehen.»

Rigerts Optimismus ist ungetrübt. Bereits heute macht Gingr einen Umsatz von über 10 000 Franken im Monat – und dies, obwohl die Seite noch nicht einmal richtig funktioniert. 600 Bordelle und Escort-Agenturen sowie 2000 Prostituierte aus der Schweiz haben sich auf der Site registriert. Und das Potenzial ist noch viel grösser: Allein in der Schweiz, schätzt das Bundesamt für Polizei, werden 3.2 Milliarden Franken pro Jahr für Sex ausgegeben – auf dem Strassenstrich, in Bordellen oder über Online-Vermittlungsdienste. Gingr braucht im Grunde also gar keine Revolution, um profitabel zu werden. Der Kuchen ist riesig, ein Stück davon genügt.

Ein halbes Jahr später schickt mir Rigert eine Whatsapp: «Clevere Investition mit grossem Potenzial». Der Instafuck funktioniert zwar noch immer nicht, und auch vom angekündigten weltweiten Release war bisher nichts zu hören. Dafür verkauft Gingr nun eine eigene Kryptowährung namens GG Coin. Über ein sogenanntes Initial Coin Offering (ICO) – eine Art Crowdfunding – können Investoren digitales Geld erwerben, das irgendwann auf der Gingr-Plattform als Zahlungsmittel für Sex dienen soll. Ein 76-seitiges Whitepaper fordert zum Kauf auf und schildert Gingrs Zukunftspläne. Darin enthalten sind viele neue Ideen: Nun soll es auch noch einen Stellenmarkt für Prostitiuerte (Gingr Connect), ein Airbnb für Stundenhotels (Gingr Pop’n’Go) sowie ein Betreuungszentrum für Prostituierte (Gingr Care) geben.

Wie viele von Rigerts Ideen tönt auch das alles ziemlich grössenwahnsinnig. Doch die Hoffnung auf die Revolution verkauft sich gut. Als ich Rigert ein paar Tage später kontaktiere, ist er noch immer in Spanien und hörbar euphorisiert. «Die Leute lieben uns.» Innerhalb von drei Tagen hätten allein private Kontakte eine Million Franken investiert. Bald folgt der öffentliche Verkauf, von dem sich Gingr bis zum Jahresende weitere 60 bis 90 Millionen Franken verspricht. Er werde demnächst in die Ukraine f liegen, um dort eine Firma hochzuziehen, sagt Rigert ohne Atempause, man brauche Programmierer, Blockchain-Spezialisten, einen Helpdesk.

Und was ist mit der Prostitution 3.0, die das Leben der Sexarbeiterinnen verbessern sollte? «Wenn wir erst einmal Monopolmacht haben», stellt Rigert in Aussicht, «können wir noch mehr gute Sachen machen.»

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Macho, ja. Aber kein Zuhälter: Der Zürcher Sergio Rigert (links) posiert für das Pressefoto mit einer Domina, zwei Blondinen und einem Callboy

 

Rechts: Pia Poppenreiter, die über ihre App «bezahlte Dates» anbietet