
Selbstbestimmtes Wohnen: Wo wird meine Tochter mit Behinderung einmal leben?
Die elfjährige Tochter unserer Autorin hat eine kognitive Behinderung. Eine Reportage über Wohnformen für Menschen wie sie – und Träume und Herausforderungen.
- Von: Marah Rikli
- Bild: Flavio Leone
Diese Reportage beginnt bei mir zuhause. Es ist ein Samstagmorgen wie fast jeder andere, den ich gemeinsam mit meiner Tochter Ronja* verbringe. Wir stehen früh auf, denn sobald Ronja wach ist, bin ich es auch – muss ich es sein.
Ronja ist elf Jahre alt und lebt mit einer sehr seltenen genetischen Erkrankung. Deswegen hat sie den Entwicklungsstand eines etwa zweijährigen Kindes. Sie kann sich kaum selbst beschäftigen, nach dem Schlafen nicht allein auf die Toilette gehen, sich kein Frühstücksbrot schmieren, sich nicht allein anziehen. Dafür braucht sie mich. Und wenn sie bei ihrem Vater ist, ihn.
In den letzten Jahren fühlte ich mich dadurch zunehmend erschöpft. Ronja ist gross wie ein elfjähriges Kind, dazu schwerer und stärker als die meisten anderen Kinder. Sie hat autistische Züge und daher oft sogenannte «Meltdowns», Wutausbrüche aufgrund von Überforderung oder Reizüberflutung, sei es zuhause oder in der Öffentlichkeit. Dann schlägt und schreit sie, gegen mich, gegen andere oder sich selbst. Ist der Wutausbruch vorbei, tut es ihr leid, dann weint sie und umarmt mich.
Ronja kann nur wenige Worte sprechen, hauptsächlich kommuniziert sie in Gebärden und mit ihrem Kommunikationsgerät. «Sorry», ist das Wort, das sie nach solchen Wutausbrüchen sagen kann, dazu streichelt sie mit ihrer rechten Hand den linken Handrücken, das ist die Gebärde für «Entschuldigung». Sie will nicht schreien oder schlagen, sie will mich nicht traurig machen, sie will mich nicht anstrengen. Aber sie kann nicht anders.
Beim Schreiben dieser Zeilen regt sich Widerstand in mir; ist meine Beschreibung von Ronja nicht zu sehr an Defiziten orientiert? Eigentlich setze ich mich doch dafür ein, statt ihrer Defizite die Ressourcen von Menschen mit Behinderungen ins Blickfeld zu rücken. Dafür, dass sie weder Opfer noch Heldinnen sein müssen, sondern einfach Menschen sein können. So wie ich einer sein darf. Doch wie sollen Fremde sonst verstehen, was es bedeutet, ein Kind mit kognitiven Behinderungen grosszuziehen?
"Welches Leben wird sich meine Tochter wünschen? Ich weiss es nicht"
Die meisten Menschen haben keine Berührungspunkte mit Personen wie Ronja. Die meisten Menschen wissen nicht, dass Inklusion zwar absolut richtig und notwendig, aber anstrengend ist. Dass sie nicht einfach gelingt, nur weil man sie will oder schönredet, sondern dass es viel Geld, Unterstützung und Wissen braucht.
Ein freies Zusammenleben
Immer lauter höre ich an solchen Samstagen die Frage in mir aufkommen, wie Ronja als Teenager und Erwachsene wohl wohnen wird. Und welche Aufgaben sie bis dahin wohl selbständig bewältigen kann. Welches Leben wird sie sich wünschen? Ich weiss es nicht. Aber ich vermute eines in Gemeinschaft. Denn am liebsten hat Ronja Besuch. Immer wenn sie von der Tagesschule nachhause kommt, fragt sie, ob jemand zum Essen vorbeischaut. Sie liebt es, Ferien mit anderen Menschen zu machen, seien es Erwachsene oder Kinder, seien es Menschen mit oder ohne Behinderungen.
Doch so einfach ist ein Leben in Gemeinschaft für meine Tochter nicht zu organisieren. Ronja hat Bedürfnisse und Verhaltensweisen, auf die sich nicht alle Menschen einlassen möchten oder können. Zum Beispiel ihr Spielverhalten, das von ihren sogenannten Fixierungen dominiert wird: Sie will mit Haaren spielen von Menschen, die im Tram sitzen, weil Haare sie faszinieren.
Sie will Türen aufhalten und schliessen, ob bei der Bäckerei oder im Hallenbad, weil ihre autistischen Züge sie dazu veranlassen, dass jede Tür geschlossen sein muss. Ab und an spielt sie auch mit ihrem Schmuck oder mit Knete, immer häufiger malt sie ein paar Minuten mit Filzstiften in ein Malheft oder lässt sich kurz zum Basteln überzeugen – aber dazu braucht sie immer eine Person, die sie anleitet.
Ich sorge mich um meine Tochter, natürlich. Um die Frage, wie sie einmal leben wird. Also beginne ich zu recherchieren. Ich google mich durchs Netz, klicke mich durch die Homepages verschiedener Wohnheime für Menschen mit Behinderung und lerne: Immer mehr dieser Heime schreiben zwar von «WGs», was nach einem Stück Freiheit klingt – aber die Fremdbestimmung ist doch dieselbe wie in einer üblichen Institution: Es gibt frühe, klare Essenszeiten, Handy- und Bettzeitregeln, keinen Ausgang am Abend – das ist nicht das, was ich mir für meine Tochter wünsche.
Sie soll mitbestimmen können. Separiert ist sie ja bereits in der heilpädagogischen Schule und später wohl auch im geschützten Arbeitsmarkt. Was ich für sie möchte, ist Wohnen für Menschen mit und ohne Behinderungen, eine Community, ein unbeschwertes und möglichst freies Zusammenleben auf Augenhöhe, soweit möglich.
Ich stosse auf den Verein Leben wie du und ich. Auf der Website heisst es: «Für Menschen mit Behinderung ist es kaum möglich, barrierefreien, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Deshalb ist der Verein laufend auf der Suche nach geeignetem Wohnraum und vermietet diesen direkt an die Menschen mit Behinderung weiter.»
"Normalerweise befinden sich Wohnmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen am Stadtrand, ganz so, als wolle man sie aus den Augen und aus dem Sinn schaffen"
Die Leiterin Adelheid Arndt ist selbst Mutter einer Tochter mit einer komplexen Körperbehinderung. Sie sagt: «Ich habe mit dem Verein ein Modell gegründet, das durch umfassende Unterstützung ein Leben mit Assistenz in einer eigenen Wohnung ermöglicht. Dennoch sind wir weder Institution noch Wohnheim.» Arndt hilft also bei der Gründung von privaten, inklusiven WGs.
Ich erfahre von ihr: Im Kulturpark Zürich leben seit 2015 mit Hilfe des Vereins acht Menschen mit und ohne Behinderungen unterschiedlichen Alters und Berufs und unterschiedlicher Herkunft in WGs zusammen. Hinzu kommen die Assistenzen, also Personen, die im Stundenlohn von Menschen mit Behinderungen angestellt werden. Die Assistenzen sollen helfen, den Alltag zu bewältigen; sie unterstützen im Haushalt, bei Büroarbeiten, begleiten Freizeitaktivitäten. Ohne die Assistenzen wäre das eigenständige Wohnen unmöglich.
Ich vereinbare ein Treffen mit Arndt und allen Bewohner:innen des Kulturparks. Ich will wissen, wie sie zusammenleben. Wieso funktioniert dort, was der Rest der Gesellschaft nur so schwer hinbekommt: ein fliessendes Miteinander? Und: Wäre diese Wohnform eine mögliche zukünftige Lösung für meine Tochter?
Was mir als erstes auffällt, ist die Lage. Der Kulturpark liegt mitten in Zürich West, einem Arbeits- und Partyquartier. Normalerweise befinden sich Wohnmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen am Stadtrand, ganz so, als wolle man sie aus den Augen und aus dem Sinn schaffen. Oder wie der SP-Nationalrat Islam Alijaj einmal in einem Podium sagte: «Die Schweiz hat genug Geld, Menschen mit Behinderungen in Heime zu versorgen und sie damit unsichtbar zu machen.»
Bürokratische Hürden
Hier im Kulturpark ist es anders. Im Eingangsbereich stehen Rollstühle, Kinderwagen und Veloanhänger. Als erste besuche ich Daniela Vasapolli. Sie ist 47 Jahre alt und lebt mit ihrem Partner in einer der Wohnungen. Ich läute an der Tür, sie öffnet sich automatisch. Vasapolli begrüsst mich mit einem herzlichen Lachen, sie trägt lange schwarze Haare und fährt einen elektrischen Rollstuhl, den sie schnell und routiniert mit einem Joystick bedient.
Sie lebt mit Arthrogryposis multiplex congenita, eine angeborene Gelenksteife. Unter anderem wird sie von ihrer Assistentin Angie Vescio unterstützt und das schon seit sechs Jahren. Die beiden Frauen sind mittlerweile Freundinnen. Vescio ist beim Gespräch dabei, denn heute ist Dienstag. Und Dienstage sind Angie-Tage. Dann hilft sie Daniela Vasapolli beim Einkauf, legt ihr die Medikamente für die Woche zurecht und erledigt mit ihr Post- oder Bankgänge. Manchmal machen sie auch Ausflüge oder gehen in ein Café. Für den Rest der Woche sind andere Assistenzen zuständig.
Daniela Vasapollis Tage beginnen immer zwischen neun und zehn Uhr morgens mit einer Fachkraft der Spitex, die ihr aus dem Bett hilft, danach kommt die Assistenz. Ihr Partner (44), der keine Behinderung hat, ist dann bereits bei der Arbeit. «Ich habe ihn vor neun Jahren an einer Party nach der Street Parade kennengelernt», erzählt Vasapolli, «wir kamen über meinen Kumpel ins Gespräch, der fährt auch einen Rollstuhl.»
Ihre Beziehung sei sehr liebevoll, sagt sie. Ihr Partner übernehme auch Assistenzfunktionen, das schon – aber eine gewisse Unabhängigkeit sei beiden wichtig. Ob es ab und an Probleme gäbe in der Beziehung, frage ich. Angie Vescio antwortet für Daniela Vasapolli: «Es gibt eigentlich nur ein Problem: Er ist ein Mann!» Die beiden lachen.
"Selbstbestimmtes Wohnen ist ein Menschenrecht, das in der internationalen Behindertenrechtskonvention (BRK) der Vereinten Nationen und im Behindertengleichstellungsgesetz verankert ist"
Daniela Vasapolli erzählt mir von ihrer rebellischen Zeit als Jugendliche im Wohnheim, in dem sie mit anderen Menschen mit Behinderungen lebte. Schon damals habe sie Techno geliebt. Dass sie zuhause blieb, wenn die anderen an eine Party gingen? Kam nicht infrage. Und ihr damaliger Partner blieb öfter über Nacht. «Die Heimleitung hatte keine Freude, wenn ich das machte und für mich und meinen Freund einstand», erinnert sie sich.
Vasapolli musste lange mit den Behörden kämpfen, um ein Leben mit Assistenz ausserhalb eines Heimes führen zu können. Sie sagt: «Ich bin unglaublich froh um diese Wohnung, wo ich endlich ein normales Leben habe.» Daniela Vasapolli zeigt mir Schmuck, den sie selbst herstellt und verkauft: Perlenketten. Ich muss an meine Tochter denken, die nicht nur eine Fixierung auf Türen und Haare hat, sondern auch auf solche Perlen.
Als ich Daniela Vasapolli von Ronja erzähle, sagt sie: «Ohne den Verein hätte ich nicht aus dem Heim ausziehen können.» Der Aufwand sei enorm gross, sich mit der von der Invalidenversicherung bezahlten Assistenz weiteren Beiträgen durch den Kanton und Spitex selbst zu organisieren. «Die Assistenzstunden, die wir bezahlt erhalten, sind oft zu knapp berechnet.» Sie wird ernster: «Ich habe nicht den Eindruck, dass die Schweiz ein Interesse daran hat, Menschen mit Behinderungen in ihrer Selbstbestimmung zu unterstützen. Die bürokratischen Hürden sind sehr hoch.»
Was Daniela Vasapolli meint: 2012 wurde das Leben mit persönlicher Assistenz in der Schweiz gesetzlich verankert; das Assistenzbudget erhalten Menschen mit Behinderung seither direkt ausbezahlt. Dadurch werden sie zu Arbeitgeber:innen, müssen die Einsatztage der Assistenzen selbst planen, organisieren und koordinieren. Für viele ist das körperlich oder kognitiv unmöglich, denn der Aufwand ist immens. Also wählen sie ein Heim; nicht urteils- oder handlungsfähigen Personen wird ein Beistand zur Seite gestellt, der eines auswählt oder zusammen mit den Angehörigen bestimmt.
Dabei ist selbstbestimmtes Wohnen ein Menschenrecht, das in der internationalen Behindertenrechtskonvention (BRK) der Vereinten Nationen und im Behindertengleichstellungsgesetz verankert ist. Die BRK wurde von zahlreichen Ländern ratifiziert, darunter auch die Schweiz. Der Vertrag sollte sicherstellen, dass Menschen mit Behinderungen die gleichen Rechte haben wie alle anderen.
Von Träumen und Herausforderungen
Am Abend besuche ich eine weitere WG im Kulturpark, die von Jonathan Dennler, Jan Cookman und Leon Junge. Mit zwanzig Jahren ist Jonathan Dennler der Jüngste. Er sitzt aufgrund einer seltenen Muskelerkrankung im Rollstuhl und lächelt mir entgegen. Wir kommen leicht ins Gespräch. Er erzählt mir, dass er als Mediamatiker arbeitet – und dass er schon lange Japan bereisen möchte. Seine Krankheit verläuft allerdings progressiv, was bedeutet: Sie wird immer schlimmer und irgendwann auch die Organe angreifen. Jonathan Dennlers Lebenserwartung ist daher verkürzt.
Leon Junge (23) kommt zur Tür herein – ein grossgewachsener, sportlich wirkender Mann, Masterstudent Design an der Zürcher Hochschule der Künste, nebenbei arbeitet er an der Universität Zürich. Er hat keine Behinderung, kräftig schüttelt er mir zur Begrüssung die Hand.
Jan Cookman (34) wiederum lebt mit einer Cerebralparese, also einer teilweisen Lähmung seines Körpers. Sie zeigt sich sowohl durch eine Spastik in der Bewegung als auch in der Kommunikation. Er ist auf einen Rollstuhl angewiesen. Cookman kommuniziert mit einem Tablet; das, was er sagen möchte, wird dann durch einen Lautsprecher übertragen. Auch er macht immer wieder Scherze und wirft vor Freude über die Lacher den Oberkörper nach hinten.
Ich bin Jan Cookman bereits am Nachmittag im Atelier im Erdgeschoss begegnet, wo er mit einer Arbeitsassistenz einen Videopodcast produziert, in dem er mit unterschiedlichen Menschen Gesellschaftsthemen wie Inklusion, Geschlechtsidentität oder Kultur bespricht.
"Alle Bewohner: innen schildern, dass das ausgezahlte Assistenzbudget viel zu knapp sei und sie deshalb immer wieder an ihre Grenzen kommen"
Die Stimmung in der WG ist gut, fast ausgelassen an diesem Abend. Jan Cookman fragt mich über meine Arbeit als Journalistin aus. Via Tablet sagt er zu mir: «Ich hätte gern studiert, dann könnte ich heute vielleicht auch journalistisch auf einer Redaktion arbeiten.» Der Zugang zu Hochschulen ist für Menschen mit starken Behinderungen und die, wie er, mit einem Kommunikationsgerät sprechen aber kaum möglich, ebenso die Tätigkeit auf einer Redaktion. Cookman arbeitet daher im Atelier des Vereins: «So kann ich dennoch meinem Berufswunsch mit der Videoproduktion und einer künstlerischen Assistenz nachgehen.»
In ihrer WG teilen sich die drei Männer einen grossen Wohnraum mit offener Küche sowie die Bäder. Jeder hat ein eigenes Schlafzimmer, dazu gibt es eines für die Assistenz von Jonathan Dennler, die über Nacht bleibt, da er 24 Stunden Betreuung braucht. Die Wohnung ist geräumig, auf einem langen Tisch in der Mitte des Wohnzimmers liegen Medikamente, Tagespläne, Rechnungen und Mandarinen. Ich schnappe mir eine und setze mich zu Jonathan Dennler und Jan Cookman. Der fährt immer wieder mit dem Elektrorollstuhl vom Tisch weg durch den Gang vor und zurück. «Ich mache das, weil ich dann gut nachdenken kann», erklärt er mir.
Ich frage sie, wie sie das Zusammenleben mit Leon Junge finden: «Ich kann mit ihm gut reden, das mag ich», sagt Jonathan Dennler. Und Jan Cookman: «Er kümmert sich viel um die Sauberkeit hier, das finde ich gut. Mich interessiert aber auch sehr, was er studiert.»
Unser Gespräch vertieft sich. Ich erzähle von meiner Tochter, Jan Cookman von seinem Hobby: Dualski, Skifahren in einem Sitz mit einer Begleitperson. Jonathan Dennler bespricht mit seiner Assistenz das Abendessen, danach zeigt er mir sein Zimmer und erzählt: «Ich lebte bis 16 Jahre zuhause, dann konnte ich eine Ausbildung machen und zog dafür ins Heim. Dort gefiel es mir aber bald nicht mehr. Es gab so viele Regeln, ich konnte kaum etwas allein entscheiden. Sogar nach meiner Volljährigkeit musste ich jeden Tag meine Bettzeit besprechen, und ich konnte auch nicht mitbestimmen, was ich essen wollte.»
In der WG wohnt er seit eineinhalb Jahren. Sein Zimmer ist klein und einfach eingerichtet: ein Pult, ein Regal und ein Pflegebett. Ich frage ihn, was er in seiner Freizeit gern macht. «Es fällt mir noch schwer, das zu beantworten», sagt er. «Im Heim gab es Angebote für Aktivitäten an freien Tagen wie ein Besuch im Park oder im Zoo, das meiste war vorgegeben.»
Und Leon Junge? Was veranlasst einen jungen Mann ohne Behinderungen dazu, inklusiv zu wohnen? «Ich fand das Projekt interessant und war neugierig. In unserer Gesellschaft gibt es ja wenige bis gar keine Begegnungen zwischen Menschen ohne und mit Behinderung, das finde ich krass. Ich wollte das anders.»
Ihm imponiere besonders, wie organisiert und routiniert der Alltag der beiden ablaufe. Herausfordernd fände er nur die vielen Assistenzpersonen: «Ich musste mich erst darauf einstellen, dass man sich die WG nicht nur mit den beiden Jungs teilt, sondern auch mit all den Assistenzkräften, die tagtäglich von morgens bis abends da sind. Aber Gewusel gibts ja auch in anderen WGs.»
Selbstbestimmung ist nicht vorgesehen
Ich frage mich zwischen den Gesprächen immer wieder: Wäre eine solche Wohngemeinschaft für Ronja eine Lösung, auch wenn sie nicht über die kognitiven Fähigkeiten von Daniela Vasapolli, Jan Cookman oder Jonathan Dennler verfügt? Ich wünsche es mir für sie.
Doch es gibt Hürden – alle Bewohner: innen schildern, dass das ausgezahlte Assistenzbudget viel zu knapp sei und sie deshalb immer wieder an ihre Grenzen kommen. Ausserdem sei die Berechnungsgrundlage oft unverständlich, denn in diese spielen auch die Pflegestunden für die Spitex hinein sowie andere Leistungen der IV, zum Beispiel die sogenannte Hilflosenentschädigung. Und dann sind da noch die Kantone: Jeder rechnet anders.
Das spürt auch Jonathan Dennler. Obwohl er in der WG bleiben will, muss er vielleicht zurück in ein Heim. Es fehlen ihm einerseits bewilligte Assistenzstunden pro Monat für die Betreuung in der WG, anderseits war er im Kanton Bern wohnhaft – die WG im Kulturpark aber ist im Kanton Zürich. Das führt zu einem kantonalen Zahlungschaos; würde der Verein nicht finanziell einspringen, hätte Jonathan Dennler längst ausziehen müssen.
"Es wirkt tatsächlich so, als wäre für Menschen wie meine Tochter in der Schweiz ein selbstbestimmtes Leben gar nicht vorgesehen"
Je länger ich mit Daniela Vasapolli, Jan Cookman, Jonathan Dennler und Adelheid Arndt spreche, desto mehr bestätigt sich das Bild, das Vasapolli schon zu Beginn gezeichnet hat: Es wirkt tatsächlich so, als wäre für Menschen wie meine Tochter in der Schweiz ein selbstbestimmtes Leben gar nicht vorgesehen. Stattdessen scheinen die Systeme so gestrickt zu sein, dass sie diese Menschen unweigerlich ins Heim drängen.
Ich spüre in mir eine tiefe Ambivalenz. Auf der einen Seite macht es mich wütend, dass Menschen, die durchaus in der Lage wären, über ihr Leben mitzubestimmen, diese Freiheit systematisch abgesprochen wird – nur weil sie anders lernen, anders denken, anders funktionieren. Auf der anderen Seite weiss ich selbst nicht, wie sich Ronja in den kommenden Jahren entwickeln wird. Welche kognitiven Fähigkeiten wird sie entfalten? Welche Form von Struktur – vielleicht auch von Kontrolle von aussen – wird sie brauchen?
Heute kann ich sie kaum zwei Minuten unbeaufsichtigt lassen, ohne dass sie sich in Gefahr bringt. Was, wenn das so bleibt? Wäre ein Heim dann nicht doch die sicherere Lösung?
Inzwischen steht das Essen auf dem Tisch. Leon Junge und die beiden Assistenzpersonen von Jan Cookman und Jonathan Dennler haben gekocht, dieser fährt nochmals kurz im Gang hin und her; welche Gedanken er wohl gerade in seinem Kopf ordnet?
Zuhause ist Ronjas Bett leer, sie schläft bei ihrem Vater. Ich lege mich hinein, halte das Stillkissen, das sie braucht, damit sie nicht aus dem Bett fällt, zähle die Nuggis, die ihr die Logopädin abgewöhnen will, ordne ihre Ketten. «Wir schaffen das», sage ich zu mir. In Gedanken zu Jan Cookman, Jonathan Dennler, Daniela Vasapolli. Und zu Ronja.
* Name geändert
Die Exklusion von Menschen mit Behinderungen (psychischen wie physischen) erfolgt nicht nur in der Schweiz, auch in Deutschland. Das fängt schon bei den KIndern und Jugendlichen an. Ich weiß manchmal nicht, ob es die Angst vor der Behinderung ist, der Unwille, sich damit zu beschäftigen oder schlichte Entwürdigung durch Ignoranz und Wertung. Erlebt habe ich jedenfalls, dass Gesetze und die Festlegung von Rechten nichts nützen, wenn sie nicht gelebt werden und an den eigentlich richtigen Stellen nicht umgesetzt werden. Das passiert häufiger als man denkt.
Wundervolle Reportage. Auch in Deutschland gibt es Projekte wie dieses, aber am Ende ist auch hier das Geld dafür immer knapp. Ich Der Schlüssel zur Veränderung können nur wir selbst sein – Menschen wie Jonathan, Jan und Leon, die einfach durch ihr authentisches Sein beweisen, dass Inklusion funktioniert, wenn wir es wollen. Vielen Dank für diesen Einblick. Allen Teilnehmenden und Ihrer Tochter wünsche ich nur das Beste auf ihrem weiteren Weg!