Nackte Neugier: Wie wir mit kindlicher Körpererkundung umgehen sollten
Kinder wollen Körper erkunden – mit einer Unbefangenheit, die Eltern oft herausfordert. Wie begleiten wir diese Phase am besten?
- Von: Anita Blumer
- Bild: Unsplash
Vor zwei Jahren in meinem Wohnzimmer: Mein Sohn ist vier Jahre alt, seine Schwester zwei. Es ist Sommer und sie sind nackt. Er fragt: «Willst du mit meinem Penis spielen?» Daraufhin zupft sie kichernd an seinem kleinen Geschlecht herum.
Ich finde es süss, wie frei die kleinen Kinder ihre Körper erkunden. Oder ist es problematisch, dass sie Geschwister sind und dass er älter ist als sie und die Initiative ergreift?
Sexualität ist in unserer Gesellschaft mit schwierigen Gefühlen belastet: Scham, Unsicherheit, Vorurteile, Angst und Gefahr. Kinder wissen davon noch nichts. In allem, was sie tun, steckt diese unverstellte Freude und Neugierde. Das ist inspirierend, aber auch herausfordernd.
In meinem erweiterten Bekanntenkreis höre ich mich nach Anekdoten zum Thema um und stelle fest: Wie Eltern mit der körperlichen Neugier ihrer Kinder umgehen, ist völlig verschieden, geprägt von kulturellem Hintergrund und sittlichem Empfinden.
Sexualpädagogin Sabine Ziegelwanger"Wir lernen unsere Grenzen häufig erst kennen, wenn wir sie überschreiten"
Da gibt es einen Vater, der nur in einer Badehose mit seiner kleinen Tochter badet. Ein anderer Vater findet nichts dabei, wenn das Kind in der Badewanne mal an seinem Penis zieht. Eine Mutter lässt ihr kleines Kind im Sommer nackt herumrennen, eine andere findet das unangebracht und gefährlich.
Also: Wie begleiten wir Kinder bei ihrer körperlichen und sexuellen Entwicklung am besten?
Kinder und die Einvernehmlichkeit
Immer wieder höre ich bei meiner Recherche die wichtigste Regel für Doktorspiele und dergleichen: Einvernehmlichkeit. Und damit zurück in mein Wohnzimmer. Ich höre mich sagen: «Aber gell, es müssen immer beide einverstanden sein.»
Der Hinweis entfaltet ungefähr dieselbe Wirkung wie das meiste, was ich meinen Kindern in der Hitze des Gefechtes zu vermitteln versuche: so gut wie gar keine. Kinder sind ja wahre Expert:innen darin, das Prinzip Consent zu brechen: hauen, schubsen, beissen, kratzen, spucken, beleidigen, manipulieren, ausschliessen. Das Repertoire kindlicher Gemeinheiten ist gross und Grenzüberschreitungen scheinen ein fester Bestandteil davon zu sein.
«Ja, wir lernen unsere Grenzen häufig erst kennen, wenn wir sie überschreiten», sagt die Sexualpädagogin und Buchautorin Sabine Ziegelwanger beim Videocall. «Unsere Aufgabe als Erwachsene ist es, Kinder in diesem Prozess nicht allein zu lassen.» Das bedeutet, ihnen zuzuhören, wenn sie Grenzverletzungen erleben, das Erlebte nicht zu relativieren, sondern das Kind in der Selbstwahrnehmung zu unterstützen und zu bestätigen.
«Es kann auch bedeuten, die Grenze für das Kind zu setzen, wenn es noch nicht dazu in der Lage ist», sagt Ziegelwanger. Etwa wenn ein Verwandter das Kind küsst oder umarmt, obwohl sich das Kind sichtlich unwohl fühlt. Dann sollte man diesen Menschen darauf hinweisen, dass das Kind das gerade nicht möchte.
Damit habe ich Schwierigkeiten. Als friedliebender und konfliktscheuer Mensch fällt es mir extrem schwer, andere vor den Kopf zu stossen. Oft merke ich auch erst im Nachhinein, dass etwas grenzverletzend war.
Dazu passt diese Geschichte: Ein Mädchen aus der Nachbarschaft umarmt mich manchmal unvermittelt. Das irritiert mich, weil ich mich ihr dafür nicht nah genug fühle. Als sie mich fragt, ob sie mir einen Kuss geben darf, sage ich ja, weil ich sie nicht verletzen will. Erst danach wird mir bewusst, dass ich das gar nicht wollte und ihr das ganz einfach, respektvoll und zugewandt hätte mitteilen können. Sie hätte von mir gelernt: Man kann für sich einstehen, ohne das Gegenüber zu beleidigen.
Ziegelwanger sagt: «Kinder spüren, wenn Erwachsene etwas tun, was sie eigentlich nicht wollen. Sie können es vielleicht nicht benennen, aber sie haben dafür sehr feine Antennen.» Umso verwirrender ist es wohl für Kinder, wenn Erwachsene diese widersprüchlichen Signale aussenden – Ja sagen, aber Nein meinen.
Eine ganz normale Erziehungsentscheidung
Viele Situationen, die mir Eltern zu dem Thema erzählen, zeigen, dass es für Buben selbstverständlicher zu sein scheint, den eigenen Körper zu zeigen und zu erkunden als für Mädchen.
Die Soziologin Susanne Achterberg forscht seit vielen Jahren zu den Themen Sexualität, Geschlecht und Kindheit. Sie teilt meine Beobachtung und macht ein Gedankenexperiment: «Stellen wir uns vor, ein zweijähriges Mädchen zeigt auf der Strasse stolz seine Vulva. Es zieht die Schamlippen – oder wie man korrekterweise sagt: Labien – auseinander und zeigt seine Vulva und die Klitoris herum. So ein Verhalten würde nicht nur sehr viel Scham bei Erwachsenen auslösen, es würde auch pathologisiert. Mit einem solchen Mädchen stimmt etwas nicht. Wenn ein zweijähriger Junge dasselbe tut, also seinen Penis zeigt, dann ist das vielleicht auch irritierend, aber auch ein bisschen lustig. Es sorgt jedenfalls nicht im gleichen Ausmass für rote Köpfe.»
Von Mädchen und Frauen werde nicht erwartet, dass sie ihre Sexualität in den Vordergrund stellen, sagt Achterberg. Gleichzeitig werden sie von der Gesellschaft stark sexualisiert.
Vor ein paar Jahren – ich hatte noch keine Kinder – besuchte ich eine Freundin. Ihre Tochter spielte nackt in der Wohnung und ich weiss noch, wie irritiert ich davon war. Es kam mir irgendwie unhygienisch vor. Später, als mein Sohn zusammen mit den Nachbarskindern im Sommer nackt im Hof spielte, war es der Vater eines Mädchens, der darauf bestand, dass sie sich etwas anzieht. In den Ferien war es einer befreundeten Mutter unwohl, weil ihre dreijährige Tochter keine Unterhose unter dem Kleid tragen wollte und dann mit weit gespreizten Beinen am Strand sass und spielte.
Sabine Ziegelwanger sagt: Eltern dürfen auf ihr individuelles Empfinden reagieren. Sie können etwa darauf bestehen, dass das Kind eine Bade- oder Unterhose trägt. Genauso, wie sie im Winter wollen, dass das Kind eine Mütze anzieht. Es handelt sich im Grunde um eine ganz normale und alltägliche Erziehungsentscheidung. So wie wir einem Kind sagen, dass Nasebohren in der Öffentlichkeit nicht erwünscht ist, dürfen wir auch sagen, dass am Strand oder auf dem Spielplatz eine Unterhose dazugehört.
Sexualpädagogin Sabine Ziegelwanger"Kinder haben keinen sexualisierten Blick auf Kinder. Sie sind einfach neugierig"
Kinder geniessen ihr Nacktsein, aber an welchen Orten und in welchen Situationen sie das ausleben können, hängt auch von gesellschaftlichen Regeln ab. Eltern begleiten ihre Kinder dabei, ein Gespür für diese Regeln zu entwickeln.
Schützende Regeln
Eine Freundin erzählt, dass ihr fünfjähriger Sohn manchmal beim Kuscheln seinen erigierten Penis an sie drückt. Sie würde ihn dann am liebsten wegstossen. Auch in anderen Situationen reagiert sie allergisch, wenn der Sohn den steifen Penis herumzeigt. Während der Vater seinen Sohn ganz gelassen und ein wenig amüsiert darauf hinweist, dass er mit seinem Penis gern allein in seinem Zimmer spielen darf, hat die Mutter Mühe, entspannt mit der Situation umzugehen.
Sexualpädagogin Ziegelwanger hat ein Kinderkörperbuch über die männlichen Intimorgane geschrieben und sagt: «Der kleine Bub, der seinen erigierten Penis spannend findet und dem es Lust bereitet, damit zu spielen, hat nichts mit erwachsener männlicher Sexualität zu tun, die mit Macht, manchmal auch mit Gewalt gekoppelt sein kann. Wir alle haben unseren Rucksack an Erfahrungen und Glaubenssystemen. Die kommen hoch, wenn wir auf das körperliche Verhalten der Kinder reagieren.»
Ziegelwanger findet es wichtig, dass Eltern ihre Prägungen mitfühlend reflektieren, damit sie nicht etwas an den Kindern auslassen, was gar nichts mit ihnen zu tun hat.
Mein ältester Sohn ist inzwischen bald sieben. Seine Schwester vier und der kleine Bruder bald zwei. Wieder ist es Sommer und weil es so heiss ist, schlafen alle nackt. Frühmorgens spielen sie zu dritt im Bett. Besonders spannend ist der Penis des kleinen Bruders.
Der findet es lustig, wenn die älteren Geschwister sein Geschlecht berühren, und er macht es ihnen nach. Obwohl ich es schön finde, zu sehen, wie die Kinder so unbefangen sind, hat sich etwas verändert. Ich finde, dass der Altersunterschied zwischen dem Kleinsten und dem Grössten zu gross ist.
Wie können wir mit Kindern Grenzen thematisieren, ohne ihre körperliche Freude mit Schuld und Täterschaft aufzuladen? Ich treffe die Kinderpsychologin Sabine Brunner im Marie Meierhofer Institut für das Kind, ein Kompetenzzentrum der Universität Zürich. Sie sagt, man kann dem Kind in einer solchen Situation ganz einfach erklären, dass der Altersunterschied eine Rolle spielt bei diesen Spielen.
Im Schweizer Strafrecht gilt bei sexuellen Handlungen unter Minderjährigen ein Altersunterschied von mehr als drei Jahren als strafrechtlich relevant. Die drei Jahre seien eine alltagstaugliche Richtlinie, findet Brunner. Das ältere Kind kann in dieser Situation gleich zwei Dinge lernen: Dass es nicht in Ordnung ist, ein deutlich jüngeres Kind am Geschlecht zu berühren. Und ebenso wenig, wenn es selbst von einem deutlich älteren Kind berührt wird.
«Warum darf man das nicht?», fragt mein Sohn. Ich antworte: «Weil Ältere Jüngeren überlegen sind. Sie können sie leicht zu etwas drängen. Oft wollen jüngere Kinder den grösseren gefallen und tun deswegen, was diese sagen.» Mein Sohn sagt nichts. Ich füge an: «Die Geschlechtsteile sind etwas sehr Persönliches und Verletzliches, deswegen gibt es dafür besondere Regeln.» Ich weiss nicht, ob das für ihn verständlich ist. Aber vielleicht ist das weniger wichtig, als dass er nun die Regel kennt. Eine Regel, die ihn davor schützt, Täter oder Opfer zu werden.
Unter den Rock schauen
Buben geraten viel schneller unter Verdacht, übergriffig zu sein als Mädchen. Vermutlich, weil Männer überall auf der Welt am meisten Sexual- und Gewaltverbrechen begehen. Es passiert deshalb schnell, dass wir bereits Buben schlechte Absichten unterstellen, während wir Mädchen als Opfer sehen.
Wie in dieser Geschichte, die mir eine Freundin erzählt hat: Die Eltern eines siebenjährigen Mädchens werden von der Lehrerin darauf angesprochen, dass das Mädchen im Turnen sehr weite Shorts trägt, so dass man regelmässig ihre Unterwäsche sieht. Sie sagt, die Buben würden schon schauen und schlägt vor, dass die Eltern dem Mädchen eine andere Hose mitgeben. Der gut gemeinte Ratschlag der Lehrerin löst im Freundeskreis eine Kontroverse aus. Warum ist es die Aufgabe des Mädchens, sich zu bedecken, so dass die Jungs nicht «schauen»?
Sabine Ziegelwanger sagt: «Kinder haben keinen sexualisierten Blick auf Kinder. Sie sind einfach neugierig. Und finden es vielleicht schlicht aufregend, jemandem zwischen die Beine zu schauen.» Ziegelwanger glaubt, dass das nicht nur Jungs betrifft. Sie hält es für wichtig, Kinder- und Erwachsenensexualität voneinander abzugrenzen.
Kinder entdecken lustvoll und ganzheitlich die Welt und ihren Körper, sie hierarchisieren nicht, sondern sind neugierig und offen. Die Situation sei eine ideale Gelegenheit, mit den Kindern zu thematisieren, warum man sich nicht gegenseitig zwischen die Beine schaue. Ziegelwanger bringt noch einen anderen Aspekt ein: «Es gibt in der geschilderten Situation nicht nur die Kinder. Auch die Befindlichkeit der Lehrerin spielt eine Rolle.»
Offenbar fühle sie sich unwohl mit den Blicken der Jungs. Sie habe wohl das Bedürfnis, das Mädchen vor diesen Blicken zu schützen und greift zu dem für sie naheliegendsten Mittel: Das Mädchen soll etwas anderes anziehen. Ziegelwanger hält den Ansatz für verkehrt. «Man sollte Kindern nicht Angst machen, indem man ihnen vermittelt, dass gewisse Kleidungsstücke andere Kinder oder Erwachsene provozieren könnten.»
Dennoch: «Die Schamgrenzen der Lehr- und Betreuungspersonen einer Kita, Spielgruppe oder Schule sollten in ein gemeinsam entwickeltes sexualpädagogisches Konzept einfliessen», sagt Ziegelwanger. Dabei kann das Team verschiedene mögliche Situationen durchgehen und darüber sprechen, wie man darauf reagieren will.
"Meine Freundin glaubt, dass das Bikini-Oberteil potenziell die Aufmerksamkeit von erwachsenen Männern erregt"
Wichtig ist, dass die Regeln keine Abwertung des kindlichen sexuellen Verhaltens enthalten. So wäre es zum Beispiel nicht angemessen, zu sagen: «Es gehört sich nicht, nackt zu sein.» Sondern: «Weil wir die Schamgrenzen von allen Anwesenden respektieren wollen, haben wir die Regel, dass niemand nackt sein darf.»
Die Bikinifrage
Die Schamgrenze ist das eine, aber was ist mit der Sorge, dass der Anblick eines Kindes bei Erwachsenen Begehren auslösen könnte?
Die sechsjährige Tochter einer Freundin will einen Bikini tragen. Aber die Eltern empfinden das Bikini-Oberteil als sexualisiertes Kleidungsstück und sorgen sich, weil das Mädchen damit Signale sendet, die es selbst noch nicht versteht. Meine Freundin glaubt, dass das Bikini-Oberteil potenziell die Aufmerksamkeit von erwachsenen Männern erregt. Ich frage mich: Würden diese Männer nicht auch ein Kind mit Badeanzug anziehend finden?
Sabine Ziegelwanger sagt: «Das Kind sendet meines Erachtens keine ‹Signale›. Es möchte anziehen, was ihm gefällt und was höchstwahrscheinlich auch seine Freundinnen tragen. Eltern haben die Aufgabe, ihre Kinder dahingehend zu stärken, dass sie sich vor möglichen Übergriffen schützen können. Diese passieren unabhängig davon, was das Kind trägt. Ein Kompromiss wäre, dass die Eltern gemeinsam mit dem Mädchen einen Bikini wählen, der für alle passt.»
Für diesen Sommer hat sich das Thema erledigt: gerade sind langärmelige UV-Schutz-Tops im Trend. Glück gehabt. Die Mutter des Mädchens fragt sich trotzdem, warum Mädchenkleidung schon so körperbetont sein muss. Warum haben Badekleider für kleine Mädchen Rüschchen am Höschen, wie um Aufmerksamkeit auf den Kinderpo zu lenken?
Die Antwort hat die Soziologin Susanne Achterberg schon zu Beginn dieses Textes gegeben: Mädchen und Frauen werden in unserer Gesellschaft stark sexualisiert, gleichzeitig werden ihnen eigene sexuelle Interessen oft abgesprochen.
Achterberg sagt: «In einer nicht frauenfeindlichen Gesellschaft wäre es keine Bedrohung, wenn ein Mädchen oder eine Frau einen sexuellen Blick abbekommt. Es wäre auch kein Problem, wenn ein Mädchen sich bewusst sexy kleiden würde, um herauszufinden, welche Reaktionen es auslöst. In einer solchen Gesellschaft würden alle zusammenlaufen, um das Mädchen im Fall einer Bedrohung zu schützen. Aber so ist es ja leider in Wirklichkeit nicht.» Den Eltern geht es aber auch darum, dass es sich für sie falsch anfühlt. Sie finden, ein Bikini passt einfach nicht für ein Kind.
Kinderpsychologin Sabine Brunner"Wenn wir mit unseren Kindern über Körper und Sexualität reden, können wir das Thema Missbrauch nicht einfach ausklammern"
Es ist verflixt. Während Jungs zwischen Speedos und Shorts wählen können, ist Bademode für Mädchen bereits ein Streitthema. Mädchen sind umgeben von inszenierter, verführerischer Weiblichkeit auf Werbeplakaten, Social Media und im realen Leben: herausgestreckte, perfekt gerundete Hintern, falsche Wimpern, aufgespritzte Lippen, haarlose Körper, bauchfreie Tops, knappe Shorts. Aber kopieren sollten sie dieses Frauenbild auf keinen Fall. Es gilt als gefährlich und vielleicht sogar ein bisschen lächerlich.
Ich kenne einige Mütter, denen die «Mädchenfarbe» Rosa nicht gefällt. Warum bloss hat niemand ein Problem mit der «Bubenfarbe» Blau? Rosa steht für das Weibliche, Schwache, Zarte und Naive. Das lehnen viele Frauen ab, verständlicherweise. Aber wir sollten uns bewusst machen, was wir damit unseren Kindern vermitteln. Mädchen lernen: Das stereotyp Weibliche ist gleichzeitig begehrensund verachtenswert. Man nennt das auch verinnerlichte Frauenfeindlichkeit.
In progressiven Kreisen ist man sich heute einig, dass nicht die sexy Kleidung schuld am sexuellen Übergriff ist. Man findet, eine Frau soll tragen, was ihr gefällt. Aber so richtig glauben wir uns das wohl oft selbst nicht – und diese Ambivalenz geben wir weiter.
So auch die Mutter eines 11-jährigen Mädchens, die mit mir für diesen Text spricht. Die Tochter darf seit Kurzem allein mit Freundinnen in die Stadt und ist auch gerne ganz allein in der Stadt unterwegs. Die Eltern machen sich Sorgen und die Mutter erklärt der Tochter, dass es Erwachsene gibt, vorwiegend Männer, die sich in Kinder verlieben und Sex mit ihnen haben wollen. Das Mädchen ist geschockt.
Die Mutter warnt: «Lieber nicht zu freundlich sein, wenn ein Fremder dich anspricht. Das Gefährlichste ist, wenn jemand bestimmte Muster erkennen kann. Wenn du immer zur gleichen Zeit am Tag am gleichen Ort etwas machst, dann könnte jemand auf dich aufmerksam werden, denn du bist auch sehr hübsch.»
Und im Verlauf des langen Gesprächs erwähnt sie auch: «Kinder und Frauen sind die meiste Zeit ihres Lebens in Gefahr. Auch später, wenn du dann in die Disco zum Tanzen gehst, darfst du niemals alleine nach Hause gehen.» Die Mutter fühlt sich schlecht, weil sie ihrer Tochter all diese schrecklichen Dinge sagt. Das Mädchen reagiert verständnisvoll.
Eltern müssen authentisch sein
Muss man Kinder so konkret auf diese potenziellen Gefahren aufmerksam machen? Oder reicht es, einfach zu sagen, dass man in einer Gruppe sicherer ist, weil Freund:innen einander helfen können, wenn etwas passiert?
Die Kinderpsychologin Sabine Brunner sagt: «Wenn wir mit unseren Kindern über Körper und Sexualität reden, können wir das Thema Missbrauch nicht einfach ausklammern.» Aber dem Kind zu sagen, weil es schön ist, muss es besonders aufpassen? Brunner antwortet: «Das finde ich auch schwierig. Aber man kann mit Kindern schon über mögliche Gefahren sprechen.»
Ich habe noch immer Zweifel und Sabine Brunner teilt sie: «Vielleicht muss man das Kind nicht auf jede Gefahr aufmerksam machen, aber wenn die Eltern sich grosse Sorgen machen, schwingt dies sowieso mit und dann ist es besser, wenn sie es auch ausdrücken.»
Wir sprechen darüber, dass Eltern mit ihren Ängsten authentisch sein dürfen. Besonders ängstlichen Eltern rät Brunner, dies auch mit dem Kind zu thematisieren, etwa zu sagen: «Ich weiss, dass ich sehr ängstlich bin, vielleicht übertreibe ich es auch. Aber deshalb sage ich, ich will nicht, dass du XY machst.»
Ich habe im Vergleich mit anderen Eltern wenig Ängste. Ist es fahrlässig, die Kinder nicht zu warnen? «Nein, das denke ich nicht», sagt Brunner. «Die Forschung geht heute davon aus, dass es Kinder stärkt, wenn sie regelmässig und auch über längere Zeit selbstständig unterwegs sein und Verantwortung übernehmen dürfen.» Mir fällt dazu ein Satz ein, den ich in einem Podcast zum Thema gehört habe: «Wenn wir nur an Schutz denken, dann verhindern wir nicht nur potenzielle Gefahren, sondern auch Leben, Entwicklung und Erfahrung.»
Vielleicht hilft es auch, sich bewusst zu machen, dass die meisten Übergriffe auf Kinder im nahen sozialen Umfeld passieren, wo sie oft übersehen werden. Die Expertin Agota Lavoyer sagt in einem Interview, dass viele Eltern ihren Kindern zunächst nicht glauben, wenn diese ihnen von einem Übergriff berichten, weil sie sich einfach nicht vorstellen können, dass ein Familienmitglied oder ein guter Bekannter so etwas getan haben könnte.
Es ist ein blinder Fleck: In der Obhut einer Vertrauensperson wähnen wir die Kinder sicher, aber wenn sie alleine draussen sind, sorgen wir uns, dass sie von einer fremden Person angesprochen werden könnten. Dabei ist diese Gefahr statistisch gesehen sehr klein.
Die kindliche Unbekümmertheit
Ich wünsche mir, dass meine Kinder selbstbewusst, neugierig und mutig durch die Welt gehen und nicht überall Gefahren sehen. Lasse ich sie damit ins offene Messer laufen? Im Strassenverkehr würde ich auch nicht vor einer Warnung absehen, nur um den Kindern keine Angst zu machen. Allerdings ist die Gefahr, die vom Strassenverkehr ausgeht, sehr konkret und tödlich. Unter welchen Umständen Menschen zur Gefahr werden, ist schwieriger zu erklären.
Beim Familienurlaub am Strand zieht sich die 11-jährige Tochter einer Bekannten vor allen um. Sie hat schon Schamhaare und einen Busen. Die erwachsenen Männer schauen diskret weg. Die Tochter hat mit ihrer Nacktheit offenbar kein Problem. Sie fühlt sich noch als Kind – und ist es ja auch. Sollten die Eltern sie nun darauf aufmerksam machen, dass ihre Nacktheit ein Problem ist? Oder sollten sie ihr die kindliche Unbekümmertheit noch einen Moment lassen?
«Wäre es meine Tochter, würde ich es wohl ansprechen», sagt die Kinderpsychologin Sabine Brunner, «das heisst aber nicht unbedingt, dass das richtig ist.» Brunners Ansatz ist: Wenn es Eltern nicht gelingt, ihre Ängste und ihr Unbehagen wegzuschieben, dann dürfen sie es ansprechen, sollten aber klar machen, dass es mit ihnen selbst zu tun hat. Also zum Beispiel: «Mir ist unwohl, wenn du dich vor allen umziehst, aber das hat wahrscheinlich mit meinem eigenen Schamgefühl und meiner Angst zu tun.»
Ist es sinnvoll, Kindern Rollenbilder und Glaubenssätze beizubringen, die wir eigentlich überwinden wollen? Männer als Täter, die sich nicht gegen ihre Natur wehren können und Frauen als Opfer, die sich durch das richtige Verhalten und die richtige Kleidung schützen können?
Brunner findet das ebenfalls problematisch. Sie sagt aber: «Auch wenn wir darauf achten, unsere Kinder vor diesen Rollenbildern zu bewahren, werden sie früher oder später damit konfrontiert, denn die Gesellschaft erzieht mit. Deshalb kann man solche gesellschaftlichen Themen mit Kindern auch diskutieren und kritisch hinterfragen.»
Kinder werden nicht für immer so unbeschwert mit ihren Körpern bleiben. Aber ein bisschen etwas davon zu bewahren, wäre schön.
Sabine Ziegelwanger sagt: «Wir kommen mit einer riesigen Lebensund Körperfreude auf die Welt. Wir kommen nicht auf die Welt und hassen unseren Körper, sondern geniessen ihn problemlos. Ich wünsche mir, dass wir Kinder so körperfreundlich wie möglich begleiten, sodass sie auch als Erwachsene in Kontakt mit sich und ihrer Lust gehen können und in einen respektvollen körperlichen Kontakt mit anderen Menschen. Wir können in diesem Prozess sehr viel über uns selbst und von unseren Kindern lernen.»
Weiterführende Informationen zur Einvernehmlichkeit bei Kindern bietet etwa Kinderschutz Schweiz
Ich habe noch immer Zweifel und Sabine Brunner teilt sie: «Vielleicht muss man das Kind nicht auf jede Gefahr aufmerksam machen, aber wenn die Eltern sich grosse Sorgen machen, schwingt dies sowieso mit und dann ist es besser, wenn sie es auch ausdrücken.»
Wir sprechen darüber, dass Eltern mit ihren Ängsten authentisch sein dürfen. Besonders ängstlichen Eltern rät Brunner, dies auch mit dem Kind zu thematisieren, etwa zu sagen: «Ich weiss, dass ich sehr ängstlich bin, vielleicht übertreibe ich es auch. Aber deshalb sage ich, ich will nicht, dass du XY machst.»
Ich habe im Vergleich mit anderen Eltern wenig Ängste. Ist es fahrlässig, die Kinder nicht zu warnen? «Nein, das denke ich nicht», sagt Brunner. «Die Forschung geht heute davon aus, dass es Kinder stärkt, wenn sie regelmässig und auch über längere Zeit selbstständig unterwegs sein und Verantwortung übernehmen dürfen.» Mir fällt dazu ein Satz ein, den ich in einem Podcast zum Thema gehört habe: «Wenn wir nur an Schutz denken, dann verhindern wir nicht nur potenzielle Gefahren, sondern auch Leben, Entwicklung und Erfahrung.»
Vielleicht hilft es auch, sich bewusst zu machen, dass die meisten Übergriffe auf Kinder im nahen sozialen Umfeld passieren, wo sie oft übersehen werden. Die Expertin Agota Lavoyer sagt in einem Interview, dass viele Eltern ihren Kindern zunächst nicht glauben, wenn diese ihnen von einem Übergriff berichten, weil sie sich einfach nicht vorstellen können, dass ein Familienmitglied oder ein guter Bekannter so etwas getan haben könnte.
Es ist ein blinder Fleck: In der Obhut einer Vertrauensperson wähnen wir die Kinder sicher, aber wenn sie alleine draussen sind, sorgen wir uns, dass sie von einer fremden Person angesprochen werden könnten. Dabei ist diese Gefahr statistisch gesehen sehr klein.
Die kindliche Unbekümmertheit
Ich wünsche mir, dass meine Kinder selbstbewusst, neugierig und mutig durch die Welt gehen und nicht überall Gefahren sehen. Lasse ich sie damit ins offene Messer laufen? Im Strassenverkehr würde ich auch nicht vor einer Warnung absehen, nur um den Kindern keine Angst zu machen. Allerdings ist die Gefahr, die vom Strassenverkehr ausgeht, sehr konkret und tödlich. Unter welchen Umständen Menschen zur Gefahr werden, ist schwieriger zu erklären.
Beim Familienurlaub am Strand zieht sich die 11-jährige Tochter einer Bekannten vor allen um. Sie hat schon Schamhaare und einen Busen. Die erwachsenen Männer schauen diskret weg. Die Tochter hat mit ihrer Nacktheit offenbar kein Problem. Sie fühlt sich noch als Kind – und ist es ja auch. Sollten die Eltern sie nun darauf aufmerksam machen, dass ihre Nacktheit ein Problem ist? Oder sollten sie ihr die kindliche Unbekümmertheit noch einen Moment lassen?
«Wäre es meine Tochter, würde ich es wohl ansprechen», sagt die Kinderpsychologin Sabine Brunner, «das heisst aber nicht unbedingt, dass das richtig ist.» Brunners Ansatz ist: Wenn es Eltern nicht gelingt, ihre Ängste und ihr Unbehagen wegzuschieben, dann dürfen sie es ansprechen, sollten aber klar machen, dass es mit ihnen selbst zu tun hat. Also zum Beispiel: «Mir ist unwohl, wenn du dich vor allen umziehst, aber das hat wahrscheinlich mit meinem eigenen Schamgefühl und meiner Angst zu tun.»
Ist es sinnvoll, Kindern Rollenbilder und Glaubenssätze beizubringen, die wir eigentlich überwinden wollen? Männer als Täter, die sich nicht gegen ihre Natur wehren können und Frauen als Opfer, die sich durch das richtige Verhalten und die richtige Kleidung schützen können?
Brunner findet das ebenfalls problematisch. Sie sagt aber: «Auch wenn wir darauf achten, unsere Kinder vor diesen Rollenbildern zu bewahren, werden sie früher oder später damit konfrontiert, denn die Gesellschaft erzieht mit. Deshalb kann man solche gesellschaftlichen Themen mit Kindern auch diskutieren und kritisch hinterfragen.»
Kinder werden nicht für immer so unbeschwert mit ihren Körpern bleiben. Aber ein bisschen etwas davon zu bewahren, wäre schön.
Sabine Ziegelwanger sagt: «Wir kommen mit einer riesigen Lebensund Körperfreude auf die Welt. Wir kommen nicht auf die Welt und hassen unseren Körper, sondern geniessen ihn problemlos. Ich wünsche mir, dass wir Kinder so körperfreundlich wie möglich begleiten, sodass sie auch als Erwachsene in Kontakt mit sich und ihrer Lust gehen können und in einen respektvollen körperlichen Kontakt mit anderen Menschen. Wir können in diesem Prozess sehr viel über uns selbst und von unseren Kindern lernen.»
Weiterführende Informationen zur Einvernehmlichkeit bei Kindern bietet etwa Kinderschutz Schweiz