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Meine unbekannte Schwester

Body & Soul

Meine unbekannte Schwester

  • Text: Antje JoelIllustration: Richard Wilkinson

Das gleiche Haar, ein verblüffend ähnlicher Lebenslauf: Letzten Sommer traf unsere Autorin zum ersten Mal die andere Tochter ihres Vaters – was für eine Begegnung.

Das gleiche Haar, ein verblüffend ähnlicher Lebenslauf: Letzten Sommer traf unsere Autorin zum ersten Mal die andere Tochter ihres Vaters – was für eine Begegnung.

Als ich meiner Schwester zum ersten Mal begegnete, war ich 45. Das war erst kürzlich, Ende August in Kroatien, bei ihr daheim. Meine Schwester – eigentlich Halbschwester – ist 46, knappe zehn Monate älter als ich. Wir sind etwa gleich gross. Unsere Gesichter tragen recht ähnliche Züge. Wir haben das gleiche Haar. Lange, sehr dicke, sehr derbe dunkelbraune Locken. Weil in der Mitte Deutschlands, wo ich aufgewachsen bin, solches Haar auffällig, ja fremdartig ist, fand ich diese Ähnlichkeit sogleich tröstlich. Überraschend ist sie natürlich nicht. Zu Prinz Philip, dem Mann der amtierenden britischen Königin, hat mal ein ehrfürchtiger Empfangsgast gesagt: «Ihr Sohn Charles sieht Ihnen sehr ähnlich.» Und der Prinz gab gnadenlos amüsiert zurück: «Naja, wissen Sie, das nennt man Gene.» Die bleiben, was sie sind. Selbst wenn die eine Schwester in Mitteldeutschland geboren wird und aufwächst. Und die andere in Kroatien. Selbst wenn sich beide nach einem halben Leben zum ersten Mal sehen.

Meine Schwester und ich. Wir sind beide Freiberufler. Sie ist Rechtsanwältin, ich bin Journalistin. Wir sind beide geschieden, beide zweimal. Wir haben beide Kinder von zwei verschiedenen Vätern. Wir leben beide mit unseren Kindern allein. Sie seit neun Jahren. Ich seit acht. Wir glauben beide nicht mehr an eine Zukunft mit Männern, ohne dass uns das traurig stimmt. Meine Schwester sagt: «Ich glaube, das habe ich unserem Vater zu verdanken.» Ich glaube das, mich betreffend, auch. Was auf den ersten Blick überraschend ist. Denn meine Schwester wuchs mit unserem Vater auf. Ich habe ihn nie getroffen, ihn nie gesprochen. Als ich das erste Mal ein Bild von ihm sah, war ich 42. Meine Schwester hatte es mir geschickt. Da wusste sie erst ein oder zwei Tage von mir. Die Nachricht war der Schock ihres Lebens, sagt sie. Ich kann es glauben. Ich wusste von ihr schon eine Weile, etwa seit ich 16 Jahre alt war.

Meine Schwester und ich, wir teilen den Vater. Ihre Mutter ist die Frau, mit der unser gemeinsamer Vater verheiratet war, als er auch meiner Mutter die Ehe versprach. Beide Frauen wussten nicht voneinander. Oder zogen es vor, nicht voneinander zu wissen. Die eine, ihre Mutter, hatte bereits fünf Kinder mit diesem Mann, die andere, meine Mutter, war gerade mal 19 Jahre dumm. Dann wurde meine Mutter schwanger und unser Vater unruhig. Zu meiner Mutter sagte er: «Ich muss in meine Heimat fahren, meine Papiere holen, damit ich dich heiraten kann.» Sie wollte ihm gern glauben. Er sich vielleicht auch. Doch er kam nicht zurück.

Er starb, als ich zwölf Jahre alt war, etwa zur gleichen Zeit, als ich – per Zufall, im Schulbus – erfuhr, dass der Mann meiner Mutter nicht mein Vater ist. Das hatte Mutter vergessen mir zu erzählen. Und der Stiefvater, konfliktscheu im Allgemeinen und ihr gegenüber im Besonderen, hat wohl gewusst, es ist besser, er vergisst das mit.

Meine Jugend verbrachte ich darum still suchend und sehnend. Irgendwann mit 16 fiel ich in meiner Vaterverzweiflung beim damals noch jugoslawischen Konsulat zu Hannover ein und begehrte die Staatsbürgerschaft. Dafür bedurftfte es Vaters Unterschrift, die Konsulatsmenschen machten sich also auf die Suche. Dass er vier Jahre zuvor gestorben war, erfuhr ich von ihnen. Und auch, dass er Frau und Kinder in seiner Heimat hatte. Man fand mir die Adresse und Telefonnummer seiner Ursprungsfamilie, seiner Mutter und seines Bruders. Als ich dort anrief, mit vor dämlicher Vorfreude zitternden Knien, drohte der Bruder: «Meldest du dich noch einmal, komme ich nach Deutschland und bring dich um!» Meine Mutter frohlockte: «Geschieht dir recht!» Ich rief noch einmal an. Da war ich 35. Der Bruder knurrte: «Was soll das, was willst du?» Ich fragte: «Wovor habt ihr Angst?» Er legte ohne ein weiteres Wort auf.

Ich fand einen entfernten Cousin, da war ich 42. Er, neugierig statt ablehnend, forschte in Kroatien nach. Er erzählte mir von einer Schwester, Halbschwester, damals noch Richterin. Er gab mir ihre Nummer, Mobiltelefon. Ich zögerte über Wochen, dann schickte ich ihr ein SMS: War sie Jozo Budimirs Tochter? Sie verlangte zurück: Erst müssen Sie mir sagen, warum Sie das wissen wollen! Ich erklärte zaghaft: Im Frühjahr/Sommer 1965 hatte Jozo in Deutschland gearbeitet und meine Mutter kennen gelernt – im Januar 1966 wurde ich geboren. Sie antwortete binnen Minuten und mit drei Ausrufezeichen: Was wollen Sie damit sagen!!! Der Schock ihres Lebens. Meine Schwester sagt: «Bevor du dich gemeldet hast, hätte ich mir nicht im Traum vorstellen können, dass unser Vater so etwas macht.» Frauen schwängern. Weglaufen. Niemals wiederkommen. So’n Vater will ja keiner. Einmal, als wir in diesen Augusttagen miteinander im Auto sassen und quatschten, auf Englisch, eine andere Basis hatten wir nicht, tränten meiner Schwester plötzlich die Augen. Vor Lachen. Sie bebte. Und schnaufte. Kaum reichte ihr die Luft zum Sprechen. «Was?», fragte ich. Sie schüttelte den Kopf. «Ich habe meinem Kollegen von unserem Vater erzählt.» – «Und?», fragte ich. «Er hat gesagt – your Father was a Fucker!» Wir brüllten los, und dann lagen wir uns in den Armen. Wange an Wange. Locken an Locken. Wir sind Schwestern. Woher dies Gefühl füreinander kommt, so gross, ganz plötzlich, nach 45 entfernten Jahren, wer kann es sagen.

Damals, nach den ersten paar SMS, hatte sie mir geschrieben: «Ich muss erst ein paar Erkundigungen einholen. Bitte haben Sie einige Tage Geduld.» Ich war nicht gekränkt. Warum hätte sie mir einfach so glauben sollen? Es war ihre Mutter, die ihr erzählte: «Ja, im Spätsommer 1965 kam dein Vater heim und verlangte die Scheidung.» Er sagte, er habe sich in eine junge Deutsche verliebt. Er nannte den Namen meiner Mutter. Er zeigte ihr Fotos. Von ihrer Schwangerschaft sagte er nichts. Schliesslich blieb er bei seiner Familie.

Ob es dem Vater gefallen würde, sie beide zusammen zu sehen?

Meine Schwester und ich mailten einige wenige Male hin und her. Sie schickte mir sein Foto. Meine Mutter hatte ja alles verbrannt: «Wie sollte ich wissen, dass du dem so hinterherjaulen würdest!» Ich klickte mit zitternden Händen die Datei auf. Und war erleichtert. Der Mann auf dem Bild, der mein Vater war, ist schön. Mit ebenmässigen Zügen und dunklen, kurzen Locken. Er sieht aus wie ein grosser Junge. Nicht wie ein Ganove. Auf dem Bild ist er 41 und schon schwer krank. Im Jahr darauf war er tot. Wir schickten einander Fotos von uns. Sie schrieb: «Ich hoffe, du siehst, was ich sehe!» Es war nicht zu übersehen. Wir waren Schwestern. Sie bat mich um Zeit, um Geduld. Ich dachte: Wie lange denn noch? Dann schwieg sie. Meine Mails kamen als unzustellbar zurück.

Im Sommer 2008 zog ich mit den Kindern nach Irland, zu Neujahr schickte sie ein SMS. Sie schrieb, sie denke an mich. Ich dachte: Das ist mir nicht genug. Und schickte ihr zurück: «Ich freue mich, von dir zu hören!» Ich dachte: Ich sollte wütend sein. Mich zurückziehen. Nicht gleich springen und antworten, wenn sie mir alle Jubeljahre mal schreibt. Es ging nicht. Ich schaffte kein vielleicht noch so gesundes Kalkül. Zum Neujahrsfest 2010 kam kein SMS, im darauffolgenden Frühjahr schickte ich eines. Nichts Besonderes. Nur, dass ich noch immer in Irland sei. Wo es noch immer regne. Und dass ich hoffte, es gehe ihr gut. Ich dachte: Ich schicke das mehr aus Langeweile, nicht Sehnsucht. Sie liess es unbeantwortet bis Juli.

Dann, plötzlich und nicht mehr erwartet, war alles anders. Sie dankte für meine Nachricht. Sie habe sich sehr gefreut. Sie schrieb, sie sei in Paris, bis zum Ende des Monats noch. Sie wolle, sie müsse mich treffen. Könnte ich bitte nach Paris kommen und es möglich machen? Dann, im Abstand von fünf Minuten, ein zweites SMS: «Ich bin hier und denke an dich. Ich werde sehr traurig sein, wenn ich dich nicht sehen kann.» Ich wusste nicht, was tun, was denken. Wusste nicht, ob ich glücklich sein durfte oder dem trotzen sollte. Wie würde ein normaler Mensch hier reagieren? Ich begehrte zu wissen, was der Auslöser ihrer plötzlichen Sehnsucht war. Ich hielt es nicht für klug, das zu fragen.

Sie schickte ihr Foto. Beinah sah sie aus wie ich. Was ihre Haare betraf vor allem. Sie bat um ein Foto von mir, aufs Handy, das wollte sie ihren Freunden zeigen. Über ihre Antwort auf das Bild musste ich weinen: «Du bist meine Schwester.» Jeder Flug nach Paris war zu teuer. Die Zeit, um das Geld für ein Ticket zu erschreiben, zu kurz. Ich fürchtete, sie könnte ihre Meinung noch einmal ändern, zurück in Schweigen fallen. Wenn es etwas gibt, das mir von Kindesbeinen an unbekannt ist, dann dies: Verlässlichkeit. Sie schrieb: «Wenn du es nach Paris nicht schaffst, komm uns bitte in Kroatien besuchen. Selbstverständlich mit Kindern.»

Ich dachte: Das ist ja noch verrückter. Vier Wochen darauf sassen wir im Flugzeug gen Süden. Meine Schwester, am Flughafen, kam ein bisschen zu spät. Das sind wohl so unsere Gene. Wir standen schon auf dem Trottoir vor dem Haupteingang, als ich sie das erste Mal sah. Sie kam über den Parkplatz auf halbhohen Hacken. Sie ging schnell, fast, dass sie rannte. Ich wusste noch aus der Distanz, ohne ihr Gesicht zu erkennen, dass sie es ist. Zu den Kindern sagte ich mit schmaler Stimme: «Da kommt eine ziemlich lockige Frau auf uns zu.» Dann trennte uns nur noch die Strasse. Die Schritte der Lockigen stockten, sie lächelte, weinte, über die Strasse hinweg konnte ich ihr Atmen hören. Ich sagte ihren Namen. Dann eine zeitlose, raumlose Weile nichts. Ich hing in den Armen der schluchzenden, bebenden Fremden. Meine Schwester.

Dieses Gefühl, woher kommt das, so plötzlich, nach 45 Jahren? Ist das Bedürftigkeit, ist es Sehnsucht, sind das die Gene? Wird das Gefühl bleiben? Wir sassen und tranken Wein auf ihrem Balkon, spätabends im August. Sie sah mich an, das tut sie oft, lange und ohne Scheu. Und immer lächelnd. So wie sie hat mich noch nie jemand angesehen. Ich griff nach ihrer Hand. Ich sagte: «45 Jahre!» Und: «Er ist schon mehr als 30 Jahre tot.» «Ja», sagte sie. «Aber wir zwei, wir leben.» – «Glaubst du, ihm würde gefallen, dass wir hier zusammen sitzen?» Ich wollte das wissen. «Auf keinen Fall!», rief sie. Und dann brüllten wir beide vor Lachen.