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Nahrungsergänzungsmittel: Warum Vorsicht geboten ist

Gesundheit

Nahrungsergänzungsmittel: Warum Vorsicht geboten ist

Wir werfen uns Vitamine ein, in der Hoffnung, wir täten uns etwas Gutes. Der Neurowissenschafter Gregor Hasler sagt: Mehr Vitamin ist nicht besser – oft ist sogar das Gegenteil der Fall.

Als sich Gregor Hasler beim Interview an einem Morgen im Hotel Bellevue Palace in Bern erst mal genüsslich die zum Tee gereichte Schoggi einverleibt, ist die Sache klar: ein Dogmatiker ist der Mann nicht. Als Neurowissenschafter und Professor für Psychiatrie beschäftigt sich Hasler (54) mit der Wechselwirkung von Ernährung und Psyche und weiss bewussten Genuss nicht nur zu schätzen, er empfiehlt ihn sogar.

Was Hasler dagegen nicht versteht, ist, wie immer mehr gesundheitsbewusste Menschen immer öfter zu Nahrungsergänzungsmitteln greifen. Gerade erst veröffentlichte das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen eine Studie, nach der rund ein Drittel der Schweizer:innen mindestens ein Nahrungsergänzungsmittel konsumiert, allen voran Vitamine.

Und dies ungeachtet neuer nationaler Untersuchungen, die die oft mangelhafte Qualität solcher Produkte nachweisen. Dass nun erstmals zwei internationale Studien nicht nur weitgehende Wirkungslosigkeit, sondern auch Gefahren einer steten Einnahme von Supplements offenlegen, ist für Hasler «eine Bombe». Zeit, deren Sprengkraft einzuordnen.

annabelle: Gregor Hasler, für Nahrungsergänzungsmittel gelten vor der Zulassung nicht dieselben Prüf- und Testkriterien wie für Medikamente, etwa bei Swissmedic oder der Europäischen Arzneimittelagentur. Ist das gefährlich?
Gregor Hasler: Die Freiheiten der Industrie sind schier unendlich, bei Nahrungsergänzungsmitteln darf beliebig gemixt und auf der Verpackung jeder Quatsch versprochen werden. Grundsätzlich stehe ich staatlichen Regulierungen ja sehr kritisch gegenüber, in puncto Supplements würde ich mir aber doch wünschen, dass zumindest die Dosierungsrichtlinien strikter geregelt würden. Man darf ja nicht vergessen, dass wir Vitamine, Mineralstoffe et cetera auch schon über die ganz normale Nahrung zu uns nehmen und uns durch die steigende Popularität von Ergänzungsmitteln immer mehr überdosieren.

Schon eine halbe Peperoni soll den Tagesbedarf an Vitamin C decken. Was genau in welchen Mengen in den Brausetabletten, Tropfen und Kapseln steckt, ist dagegen oft nicht leicht bis unmöglich zu durchschauen – vor allem, wenn es sich um Multipräparate handelt.
Genau hier liegt das Problem, wir verlieren den Überblick und hinterfragen auch viel zu wenig. Nur weil unser Körper gewisse Substanzen selber nicht herstellen kann, heisst das noch lang nicht, dass er mit diesen überschwemmt werden will. Im Gegenteil. Man muss wissen, dass Vitamine häufig Co-Faktoren sind, die sehr unterschiedliche Funktionen haben und für die Aufrechterhaltung eines normalen Stoffwechsels notwendig, aber keine Heilmittel und spezifische Wirkstoffe sind. Mehr Vitamin ist nicht besser, oft ist das Gegenteil der Fall. Mein Vater arbeitete übrigens bei einem grossen Schweizer Pharmaunternehmen, das uns das Märchen vom Vitamin C eingebrockt hat.

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«Menschen geben weltweit jährlich mehr als 30 Milliarden Franken für Vitamine aus»

Was erzählt uns denn dieses Märchen genau?
Nun, ursprünglich sollte Vitamin C als Medikament gegen Skorbut auf den Markt gebracht werden, früher auch bekannt als «Mundfäule». Das Problem ist: Skorbut ist eine extrem seltene Krankheit geworden. Es war also ein Medikament, das teuer produziert wurde, dem es an Indikationen fehlte. Da Vitaminpräparate jedoch keinen Wirksamkeitsnachweis benötigten, um verkauft werden zu können, überlegte man sich eine Erweiterung der Indikation, auch ohne wissenschaftlichen Nachweis. Die Marketing-Story lautete ungefähr so: Skorbut geht oft mit Entzündungen und Müdigkeit einher. Deshalb könnte jede Entzündung und jeder Anflug von Müdigkeit auf einen Vitamin-C-Mangel hinweisen. Der zweifache Nobelpreisträger Linus Pauling wurde dann mit vielen Millionen Dollar davon überzeugt, die Wunderkraft des Mittels zu bestätigen und zu proklamieren, dass erst die extrem hochdosierte Einnahme von Vitamin C die Menschen vor viralen Infekten schütze. Zumindest gehört Vitamin C – wie auch Magnesium oder Zink – zu den wasserlöslichen Stoffen, die der Körper bei einem Überschuss einfach über die Niere ausscheiden kann, es sammelt sich nicht im Körper an. Mein Vater hat einmal gesagt: Paulin verdient einen dritten Nobelpreis, nämlich den für Marketing. Menschen geben weltweit jährlich mehr als 30 Milliarden Franken für Vitamine aus, obwohl bereits die ersten Wirksamkeitsstudien negativ ausfielen und das Geld viel wirksamer eingesetzt werden könnte.

In der breiten Bevölkerung hält sich bis heute der Glaube, für ein intaktes Immunsystem sei die Zugabe von Vitamin C notwendig. Ähnliches hört man auch über Vitamin D. Gerade im Winter, wenn das Sonnenlicht fehlt, steigt die Nachfrage nach entsprechenden Bluttests in der Schweiz dermassen an, dass die Krankenkassen präventive Vitamin-D-Analysen nur noch bei Verdacht auf einen tatsächlichen Mangel oder bei entsprechenden Krankheiten bezahlen.
Dabei ist es unmöglich, diese Vitaminspeicher im Blut überhaupt zu messen. Man müsste Gewebeproben entnehmen.

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«Die Gefahr von unzuverlässigen Tests wird unterschätzt»

Wie bitte? Aber das wird doch Tag für Tag in den Praxen und Laboren gemacht – angeblich anhand von Blutbildern …
A, D und E sind fettlösliche Vitamine. Vitamin-D-Aktivität im Körper kann man im Blut nicht zuverlässig messen. Vitamin D im Blut ist tief bei Sonnenmangel, dunklem Hauttyp und verschiedenen metabolischen und entzündlichen Krankheiten. Bloss sagt das nichts oder nicht viel über den Mangel in den Ziel-Organen aus. Das wurde jüngst von einer unabhängigen Expert:innenkommission belegt. Sie rät deshalb klar von Vitamin-D-Screenings ab. Die Gefahr von unzuverlässigen Tests wird unterschätzt. Sie führen zu Fehldiagnosen, Verunsicherung der Patient:innen, unnötigen Therapien und potenziell hohen Kosten. Trotz dieser Empfehlung wird in der Schweiz Vitamin D im Blut besonders häufig gemessen, was unnötige Kosten von bis zu 90 Millionen Franken pro Jahr verursacht. Dazu kommen noch die Ausgaben für die unnötige Supplementierung mit Vitamin D.

Sie beziehen sich auf die im Oktober 2022 veröffentlichten sogenannten USPSTF-Guidelines, den neuen Richtlinien der US Preventive Services Task Force zu Vitaminen. Dies ist ein renommiertes und von der Industrie unabhängiges freiwilliges Gremium von Expert:innen für Prävention und evidenzbasierte Medizin.
Es gibt viele Tests, die keine verlässlichen Resultate liefern. Der Staat fordert keine wissenschaftliche Validierung von Tests und bezahlt sie auch noch. Dies alles führt dazu, dass die Firmen negative Anreize haben, die Aussagekraft der Tests in teuren Studien zu untersuchen. Immerhin werden seit 2021 die Vitamin-Bestimmungen im Blut nicht mehr obligatorisch bezahlt. Eines muss man der Industrie für Nahrungsergänzungsmittel lassen: Sie hat super Marketingabteilungen, die uns Menschen erfolgreich als Mangelwesen deklarieren. Selbst das Bundesamt für Gesundheit verkündet, dass es besonders im Winter zu einer Unterversorgung kommen kann, basierend auf einem Test, der die Vitamin-D-Aktivität im Körper gar nicht misst. Dass es in der Schweiz keine Osteomalazie mehr gibt, ist ein deutliches Zeichen, dass Erwachsene hierzulande keinen Vitamin-D-Mangel haben. Nährstoffmängel sind in Überflussgesellschaften allgemein unwahrscheinlich.

«Hochdosiertes Vitamin D führt zu einer Schwächung der Knochen und erhöht die Gefahr von Brüchen»

Herrscht denn international Einigkeit über den grundsätzlichen Bedarf an einer zusätzlichen Vitamin-D-Zufuhr?
Nein. Es gibt keine verbindlichen Richtwerte, weil es keinen zuverlässigen Test gibt. Es gab früher die Hoffnung, mit Vitamin D Osteoporose vorzubeugen oder zu behandeln. Nun haben aber Dutzende von Studien gezeigt, dass dies keine gute Idee ist. Hochdosiertes Vitamin D führt sogar zu einer Schwächung der Knochen und erhöht die Gefahr von Brüchen.

In der australischen D-Health-Studie, der bislang grössten Studie, die die Auswirkungen einer Vitamin-D-Supplementierung auf die Sterblichkeit untersuchte, kamen Forscher:innen 2022 zum Schluss: Zusätzliches Vitamin D verringert weder die Gesamtmortalität signifikant noch das Risiko, durch eine Krebs- oder Herz-Kreislauf- Erkrankung zu sterben. Richtig?
Ja, auch diese Studie schlug ein wie eine Bombe. Also zumindest in wissenschaftlichen Kreisen!

Der Bedarf an Vitamin D schwankt, zum Beispiel aufgrund von Alter, Gewicht und Hautfarbe. In der Schweiz wird Senior:innen eine Einnahme empfohlen, Babys werden Vitamin-DTropfen sogar bis mindestens zum Ende des ersten Lebensjahres als Rachitisprophylaxe verordnet. Ist das auch Humbug?
Nein. Rachitis bei Kindern ist eine reale Krankheit und eine präventive Zugabe von Vitamin D ist da tatsächlich sinnvoll. Ähnlich wie auch Folsäure für Schwangere gut ist. Es gilt, nicht blind zu verteufeln, sondern nüchtern zu differenzieren.

«Eine Batterie kann nicht mehr als vollgeladen sein. Ähnliches gilt für unseren Körper»

Wie gross ist die Gefahr, sich mit Nahrungsergänzungsmitteln überzudosieren?
Jeder und jede weiss: Eine Batterie kann nicht mehr als vollgeladen sein. Ähnliches gilt für unseren Körper. Egal was die Werbung uns verspricht, ist der Vitaminspeicher einmal voll, kann er nicht auf Vorrat befüllt werden. Während Vitaminmangel weltweit abnimmt, nehmen Hypervitaminosen zu. So bezeichnet man Krankheiten, die durch ein Zuviel an Vitaminen entstehen.

Gemäss einer aktuellen Studie nimmt über die Hälfte der Schweizer:innen Nahrungsergänzungsmittel, nicht weil sie krank sind, sondern um gesund zu bleiben. Nun kann des Guten ja nie genug sein, oder?
Leider doch. Wer ungeachtet des tatsächlichen Bedarfs ständig Ergänzungsmittel einwirft, kann tatsächlich auch krank werden. Am Körperfett sehen wir, was bei Überernährung mit uns passiert. Doch auch fettlösliche Vitamine setzen sich im Fettgewebe ab – das sehen wir nur nicht von aussen. Erstmals hat nun die USPSTF auch die klare Empfehlung herausgegeben, weder Beta-Carotin (Anm. der Red. eine Vorstufe des Vitamins A), noch Vitamin E einzunehmen. Doch das sind just auch die beiden Vitamine, die in all diesen Multivitamindrinks und Supplements enthalten sind. Und die bei konstanter Überdosierung bei Männern ab 55 Jahren das Risiko erhöhen, an Prostatakrebs zu erkranken. Und bei Rauchern das Risiko, an Lungenkrebs zu erkranken. Und schon ab 80 Milligramm am Tag – was im Übrigen unter der Dosierung vieler frei käuflicher hochdosierter Vitamin-E-Präparate liegt – die Häufigkeit von Hirnblutungen steigert.

«Was vom Tisch gehört, ist die Aussage, Vitamin-D-Supplements wirkten präventiv gegen Krebs»

Was passiert bei einem Zuviel an Vitamin D?
Es ist kompliziert. Was wir sehen, ist ein Anstieg an Knochenbrüchen und Nierensteinen in Folge steter Einnahme von hochdosiertem Vitamin D. Wichtig ist die Tatsache, dass Vitamin D vor Osteomalazie, der Knochenerweichung, schützt, aber nicht vor der Volkskrankheit Osteoporose, dem Knochenschwund. Trotzdem wurde Vitamin D für Knochenkrankheiten aller Art empfohlen – ungeachtet der Tatsache, dass es Osteomalazie bei uns gar nicht mehr gibt und dass ein Zuviel an Vitamin D zu einem Anstieg des Kalziumgehalts im Blut und zu einer ungünstigen Umverteilung von Kalzium im Körper führen kann: weg von den Knochen in andere Gewebe, die dann verkalkt werden. Anzeichen dieser Umverteilung können Muskelschwäche, Knochenschmerzen und Nierensteine sein.

Und was ist mit dem gern proklamierten Schutz vor Krebs durch Vitamin D?
Ich bin kein Krebs-Experte. Vielleicht gibt es eine spezifische Chemotherapie, die einen Vitaminmangel nach sich zieht – was eine entsprechende Zugabe sinnvoll erscheinen liesse. Ich leugne auch nicht, dass ein bestimmter Vitaminmangel in Zusammenhang mit gewissen Erkrankungen stehen kann. Was aber wirklich vom Tisch gehört, ist die Aussage, Vitamin-D-Supplements wirkten präventiv gegen Krebs. Das zeigen die aktuellen, gut gemachten Studien recht eindeutig, selbst wenn kleine, nichtrepräsentative Studien in katastrophal unseriösen Ernährungsmagazinen etwas anderes behaupten.

«Fisch enthält Tausende von Substanzen, warum soll ausgerechnet Omega 3 ihn gesund machen?»

Vegetarier:innen und Veganer:innen sind angehalten, Vitamin B12 zu nehmen. Das zumindest erscheint logisch, schliesslich findet sich B12 in Fleisch, aber in kaum einem pflanzlichen Lebensmittel …
Und auch hier gibt es Wissenschafter: innen, die bei Vegetarier:innen inzwischen keinen bedeutsamen Mangel an B12 feststellen konnten. Immer mehr Getränke und Lebensmittel enthalten Vitamine als Zusatz, so dass selbst bei Vegetarier:innen ein echter Vitaminmangel immer seltener wird.

Die Schweizerische Gesellschaft für Ernährung empfiehlt die Zufuhr von drei Mikrogramm am Tag – verteilt über den Tag. Im in Apotheken frei verkäuflichen Präparat Vita Sprint, das hochdosiertes B12 für «mehr Energie im Alltag» verspricht, liegen die Mengen bei 500 Mikrogramm pro Trinkflasche, einzunehmen gern als Monatskur, täglich. Ist so was gefährlich?
Eher nicht, weil es sich bei Vitamin B um ein wasserlösliches, leicht auszuscheidendes Vitamin handelt. Aber eben: Ein echter Vitamin-B12-Mangel ist selten, und es gibt keinen Grund, Vitamine hochdosiert einzunehmen.

Der Trend geht dahin, Nahrungsmittel anzureichern: Ob Milch, Joghurt oder Gummibärchen, immer öfter sind Vitamine und Proteine zugesetzt. Auch Omega-3-Fettsäuren sind sehr populär.
Mein Lieblingsthema! Der Logik der entsprechenden Industrie folgend ist Fisch wegen seiner Omega-3-Säuren gesund. Fisch aber enthält Tausende von Substanzen, warum also soll ausgerechnet Omega 3 ihn gesund machen? Meine Theorie lautet: Es soll ausgerechnet Omega 3 sein, weil der Mensch diese Fettsäure nicht selbst produziert – damit ist also ein Geschäft zu machen. Die Daten lassen aber eher folgenden Schluss zu: Wenn wir Menschen einen solchen Stoff nicht selbst produzieren, brauchen wir ihn nur in kleinen Mengen und sollten nicht zu viel davon einnehmen.

«Omega 3 wirkte nicht antidepressiv, sondern prodepressiv»

Gerade depressive Patient:innen erhalten oft Omega 3.
Gerade wenn ich leicht depressiv bin und weder die grosse Psychotherapie machen noch ein Antidepressivum einnehmen möchte, fühlt es sich gut an, mir zumindest so etwas Nährendes zuzuführen. Omega-3-Fettsäuren sind fester Bestandteil der Zellmembranen im gesamten Körper und im Hirn und sind Ausgangsstoff für die Herstellung von Hormonen, die Entzündungen regulieren. Da depressive Menschen oft erhöhte Entzündungszeichen im Blut haben, war es eine einleuchtende Idee, die antidepressive Wirkung dieses Nährstoffs zu prüfen. Mit Ungeduld erwartete ich die Resultate einer amerikanischen Depressionsstudie, in welcher 18 000 Amerikaner:innen über fünf Jahre entweder Omega 3 oder ein Placebo geschluckt haben. Leider zerschlugen sich die Hoffnungen. Omega 3 wirkte nicht antidepressiv, sondern prodepressiv: Bestehende Depressionen verstärkten sich, und Personen, die nie depressiv gewesen waren, entwickelten gehäuft eine Depression. Das war übrigens nicht die erste Überraschung dieser Art: Schwangeren wird in den USA empfohlen, DHA zu nehmen – ein Nahrungsergänzungsmittel, das die Frau vor Depressionen schützen und positiv auf die Entwicklung von Gehirn und Nervensystem des Babys wirken soll. Auch dieses Mittel wurde nun genauer unter die Lupe genommen. Das Fazit: Anstatt den Hirnbildungsprozess zu fördern, stört die Einnahme ihn. Die Kinder hatten einen vergleichsweise geringeren IQ. Wir erleben gerade eine Serie von Hiobsbotschaften, was aber – und das ist wirklich beunruhigend – den Verkauf von Supplements kaum beeinflusst.

«Natürlich wollen viele Patient:innen lieber heilende Nahrung als eine chemische Pille»

Depressionen gehen oft mit körperlichen Schmerzen einher, weswegen macht das die Sache noch gefährlicher?
Bei Depressionen haben wir einen Mangel an Gefühl: Ich fühle mich nicht geliebt, nicht verbunden. Das depressive Selbst leidet quasi an einem Mangel an positiven Gefühlen. Ähnlich verhält es sich bei Schmerzen – es mangelt mir an Kraft, meine Resilienz ist geschwächt. Ich selbst arbeitete früher als Hausarzt und auch ich suchte nach Hilfsmitteln, denn ein ganzheitliches Antidepressivum gibt es nun mal nicht. Und natürlich wollen viele Patient:innen lieber heilende Nahrung als eine chemische Pille. Zu sagen, dass Supplements nicht helfen, ist eine problematische Botschaft, zumal ja auch Placeboeffekte in ihrem positiven Wirken nicht zu unterschätzen sind.

Und hilft denn tatsächlich nichts?
Nun, ich habe wirklich viel angeschaut und zumindest scheint es so, dass Zink und Probiotika gewisse positive Wirkungen haben können und auch eine regelmässige Nahrungsaufnahme zu festgelegten Zeiten eine gewisse psychische Stabilität verleiht. Vitamine und Fettsäuren dagegen helfen nicht.

Woran liegt es denn, dass wir uns oft tatsächlich fitter fühlen nach der Einnahme von solchen Komplexen?
Oft ist Zucker im Spiel. Der sorgt kurzfristig für einen Dopaminschub, das kleine Glücksgefühl. Koffein ist auch beliebt, das verschafft einen akuten Energiekick. Nicht jede Wirkung ist also nur ein Placeboeffekt, nur haben sie eben nichts mit den angeblich vitalisierenden Vitaminen selbst zu tun.

Besonders perfide wird es, wenn sich Krebs-Patient:innen nach Einnahme von Vitaminen wie A, C und E vitaler fühlen und weniger Nebenwirkungen spüren, die zugeführten Vitamine allerdings die Chemotherapie torpedieren. Mittlerweile wird auch von der Deutschen Krebsgesellschaft ausdrücklich vor einer entsprechenden Einnahme gewarnt.
Oft starten wir ja auch erst mit der Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln, wenn ein Symptom einen gewissen Höhepunkt erreicht hat – und damit meine ich nicht nur eine Krebserkrankung. Sondern etwa auch dann, wenn ich sehr müde, gestresst oder erkältet bin. Die Chance, dass ich am nächsten Morgen erneut so müde sein werde, ist gering. Also wache ich auf, fühle mich besser und führe das auf die Einnahme zurück – und bleibe dabei.

Gerade im Rahmen der Enttabuisierung von Menstruation und Menopause scheint die gereizte, gestresste, blutarme Frau ein gefundenes Fressen zu sein für die entsprechende Industrie. Tatsächlich greifen auch mehr Frauen als Männer – 36 versus 25 Prozent – zu Nahrungsergänzungsmitteln. Warum eigentlich?
Positiv gesagt kümmern sich Frauen mehrheitlich besser um ihre Gesundheit und achten eher auf ihre Ernährung. Sie horchen auch besser in sich hinein und spüren entsprechend schneller und öfter Symptome. Die Psychologie hinter den Zahlen deutet aber auch auf die höhere Affinität hin, sich selbst als Mangelwesen zu betrachten.

«Was bitte hat eine industriell gefertigte Kapsel mit Genuss zu tun?»

Schlägt das nicht auch in dieselbe Kerbe wie «Zeit für mich»-Badezusätze und «Wohlfühl»-Tee: sich etwas Gutes tun zu wollen inmitten des Mangels an Zeit, Aufmerksamkeit, Vitalität, Blut oder Schlaf?
Genuss begrüsse ich. Was aber bitte hat eine industriell gefertigte Kapsel mit Genuss zu tun? Es ist so erstaunlich, dass gerade die Menschen, die sonst industrielle Nahrungsmittel ablehnen und ausschliesslich bio essen, plötzlich bei Vitaminkapseln eine Ausnahme machen, nur weil qua Deklaration Wohlbefinden versprochen wird. Alles industriell Gefertigte als Gift verteufeln, aber dann Nahrungsergänzungsmittel zur Insel der Reinheit erklären?

Womöglich verbirgt sich dahinter der Wunsch, eben gerade ohne chemische Hormonhelfer, dafür mit alternativen, natürlichen Mitteln gesund durchs Leben zu kommen.
Das ist an sich ein gutes Ziel. Es hat allerdings nichts Natürliches, industriell gefertigte, hochprozentige und in Monokultur komprimierte Vitamine zu sich zu nehmen. Nahrungsmittel schneiden im Durchschnitt besser ab als einzelne Nährstoffe. Früchte sind gesünder als Vitamin C, Fisch ist gesünder als einzelne Fettsäuren, pflanzliche Produkte sind gesünder als einzelne chemische Pflanzen-Moleküle, ganze Proteine sind gesünder als einzelne Aminosäuren.

«Proteinriegel enthalten meist vor allem eines: Zucker»

Neben den Frauen sind Kinder und Jugendliche die andere grosse Einnahmequelle. Gerade zu Schulanfang steigt der Absatz an konzentrationsfördernden Präparaten, und Mittel zur Stärkung des Immunsystems haben immer Saison, weil Eltern dauerbesorgt sind um ihren Nachwuchs, der lieber Pizza als Spinat isst. Bei einer Untersuchung, die im Januar vom kantonalen Labor in Zürich zu Ergänzungsmitteln mit Vitamin D durchgeführt worden ist, wurde jedoch ein Drittel als mangelhaft eingestuft. Unter anderem fand man in angereicherten Gummibärchen statt der angegebenen 50 Mikrogramm satte 143 Mikrogramm – und dies bei einer vom Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen empfohlenen Tagesdosis für Erwachsene von 15 Mikrogramm.
Nichts gegen Gummibärchen, aber ich bin froh, wenn da ganz grundsätzlich keine Zusätze drin sind. Meist wird das eh nur gemacht, um den Süsskram gesund erscheinen zu lassen. Und dann sind da ja noch all die Jugendlichen, die wahlweise Muskeln auf- oder Fett abbauen wollen. Proteinriegel enthalten meist vor allem eines: Zucker. Eine totale Mogelpackung, zumal wir genügend Eiweiss, auch pf lanzliches zur Verfügung haben – warum also immer in Pulverform einen draufsetzen?

In den USA steigt die Zahl der erkrankten Jugendlichen in Folge des Missbrauchs von solchen Stoffen. Kann man sich eigentlich auch durch Lebensmittel eine toxische Menge Vitamine einverleiben?
Theoretisch ja, das wären dann aber so grosse Portionen, dass wir von unserem Körper natürliche Signale erhalten würden, damit aufzuhören, etwa in Form von Bauchweh oder Erbrechen. Ausserdem sind Vitamine nicht in einem Gemüse hochdosiert, sondern gut verteilt überall ein bisschen.

«Ich möchte einmal durch die Stadt spazieren, ohne von der schamlosen Werbung für Vitamine gestört zu werden»

Der Gegentrend zu der steten Zuführung und Supplementierung ist das Fasten. Die einzige logische Antwort auf ein Leben im Überfluss?
Durchaus. Beim Fasten esse ich nicht und verspüre dennoch keinen Mangel. Das ist eine wichtige psychologische Erfahrung.

Zum Abschluss dieses Gesprächs ein Blick in die Zukunft: Was würden Sie sich wünschen?
Nun, ich möchte einmal durch die Stadt spazieren, ohne von der schamlosen Werbung für Vitamine und Zusatzstoffe in den Schaufenstern von Apotheken und Drogerien gestört zu werden. Drogist:innen und Apotheker: innen sind in der Pf licht, ihre Kundschaft über den neusten Stand der Forschung und internationale Richtlinien zu informieren – auch wenn das für den Umsatz nicht das Beste ist.

Zur Person: Gregor Hasler ist Neurowissenschafter und Professor für Psychiatrie an der Universität Freiburg und forscht nicht nur in Sachen psychische Gesundheit; in Büchern vermittelt er auch leicht verständlich medizinisches Fachwissen. Sein Bestseller «Die Darm-Hirn-Connection » zeigt, wie Ernährung etwa Depressionen, Stress und Demenz beeinflusst. Sein neues Buch «Higher Self» widmet sich den vielfältigen Einsatzgebieten von Psychedelika.

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Alain

In Zeiten in denen Studien, Wissenschaftler, Ärzte und Medien (von der Pharma-Industrie) geschmiert werden, kann man solche Artikel einfach nicht ernst nehmen. Einmal mehr werden hier alle Nahrungsergänzungsanbieter in den selben Topf geworfen, obwohl es da gewaltige Qualitätsunterschiede gibt. Ich kann nur für mich und mein Umfeld sprechen: diejenigen die konsequent und gezielt auf hochwertige Nahrungsergänzungsmittel setzen, sind bis ins hohe Alter gesund und vital!

Masha

Ich habe den Artikel über Nahrungsergänzungsmittel mit grossem Interesse gelesen und finde es gut, dass darauf hingewiesen wird, wie wichtig es ist, bei der Verwendung von Nahrungsergänzungsmitteln vorsichtig zu sein. 
Allerdings möchte ich meine Bedenken hinsichtlich des Interviewpartners äussern, der als Neurowissenschaftler in diesem Artikel zitiert wird. Zweifellos ist seine Expertise in Bezug auf das Gehirn und das Nervensystem von unschätzbarem Wert. Ich denke jedoch, es ist wichtig zu betonen, dass Nahrungsergänzungsmittel ein breites Spektrum von Ernährungsfragen abdecken und daher eine multidisziplinäre Perspektive erfordern.
Es gibt viele Fachspezialisten auf dem Gebiet der Ernährungswissenschaft, die tiefgehende Kenntnisse über Nahrungsergänzungsmittel haben und über die neuesten Forschungsergebnisse und Erkenntnisse verfügen. Es wäre spannend, dieses Thema noch einer breiteren Palette von Experten gegenüberzustellen und so eine umfassendere Betrachtung des Themas zu gewährleisten.

Mark Wyler

Super Vorschlag, Masha !
Ich denke auch die annabelle schuldet das ihren Leserinnen, nach diesem leider unrühmlichen Votum des Schulmediziners auch jemanden zu Wort kommen zu lassen, der sich auf dem Thema weitergebildet und entsprechend qualifiziert publiziert hat. Es gibt leider nur wenige Fachärzte, welche sich in Richtung Endokrinologie und Ernährungstherapie weiterbilden und solche, welche unter dem Titel «Integrative Medizin» auch Erkenntnisse ausserhalb der Schulmedizin für ihre Patienten nutzbar machen.
Daher sind die meisten Ärzte nicht mal in der Lage, beispielsweise einen Vitamin D Test korrekt zu beurteilen, einen Zielwert zu bestimmen, die benötigte Menge Vit D zur Erreichung dieses Ziels zu berechnen und die Erhaltungsdosis zu bestimmen. Wenn man mit solcher Ignoranz geschlagen ist, dann bleibt einem natürlich kaum was anderes als die alte Leier aus der Uni-Vorlesung zu wiederholen, wonach diese Supplementierung sowieso unnötig bzw. bei drohender Überdosierung sogar schädlich sei. Die Leserinnen von annabelle sollten nicht nur von Artikeln wie diesem verschreckt werden, sondern auch kompetent über den nachgewiesenen präventivmedizinischen Nutzen von Nahrungsergänzungsmitteln informiert werden.

C.L.

Wieviel Geld haben Sie von der Pharmaindustrie für diesen Artikel erhalten?

Mark Wyler

Ich komme zum Schluss, dass es sich hier leider um eine weitere unqualifizierte Publikation eines Schulmediziners zum wichtigen Thema der notwendigen Nahrungsergänzungsmittel handelt, welche bei den Schweizer Medien stets ein grosses Echo finden. Vordergründig um die Bevölkerung vor den gesundheitlichen Gefahren einer angeblich drohenden Überversorgung mit Vitaminen, Mineralstoffen etc. zu warnen / schützen oder gar darauf hinzuwirken, dass die dafür aufgewendeten finanziellen Mittel «viel wirksamer eingesetzt werden». 
Man könnte sich die Frage stellen, warum ein Psychiater, der offensichtlich keine Weiterbildung auf diesem Thema genossen hat und auch gemäss seiner Publikationsliste und seinem Lebenslauf nie auf dem Thema geforscht hat, sich für ein solches Interview zur Verfügung stellt. Warum er sich als «Neurowissenschafter» betiteln lässt, was irgendwie vertrauenerweckend tönen soll, obwohl sein Lebenslauf aufzeigt, dass er Psychiater/Psychotherapeut ist und seine fachliche Kompetenz in keiner Art und Weise mit dem Thema zusammenhängt. Oder umgekehrt, warum die «annabelle» sich nicht an einen Fachmann wendet, der diese Gelegenheit zu einer sinnstiftenden Beratung der Leserschaft hätte nutzen können statt diese mit unfundierten Aussagen zu verängstigen und in vielen Fällen wohl auch zu einem Verhalten fehlzuleiten, welches ihrer Gesundheit abträglich sein wird.

Claudia

Leider ein sehr einseitiger Artikel, welcher lediglich die Sichtweise eines angeblichen Experten darstellt.

Das Schweizer Ernährungsbulletin ist 2021 im Auftrag des Bundesamtes für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen der Frage nachgegangen, wie gut die Schweizer Bevölkerung mit den einzelnen Vitaminen und Mineralstoffen versorgt ist? Bei Männern und Frauen wurde eine unzureichende Zufuhr von Folsäure, Pantothensäure und Vitamin D festgestellt. Frauen hatten zudem oft einen Vitamin B12 Mangel. Bei den Mineralstoffen ist bei Männern und Frauen die Versorgung mit Kalium, Calcium, Jod und Magnesium kritisch. Bei Frauen zudem Eisen und bei Männern Zink. Zink beispielsweise trägt zu einer normalen Reproduktion (Fortpflanzungsfähigkeit) und eines normalen Testosteronspiegels bei.
Versorgung mit einzelnen Vitaminen und Mineralstoffen (admin.ch)

Daraus abgeleitet macht es also durchaus Sinn, eine möglicherweise unzureichende Zufuhr über unsere normale Ernährung, gezielt mit Nahrungsergänzungsmitteln zu ergänzen. Zahlreiche Studien zu Omega-3-Fettsäuren, Vitamin D3, Magnesium etc. zeigen positive Effekte auf die Gesunderhaltung des Menschen, leider wurden diese Studien im Interview schlichtweg ignoriert.

Zuletzt noch ein Wort zu den Apotheken und Drogerien in der Schweiz. Diese nehmen eben genau diese anspruchsvolle Aufgabe wahr, ihre Kundinnen und Kunden sowie Patientinnen und Patienten über die aktuelle Studienlage aufzuklären, welche keinesfalls so einseitig ist wie im Interview dargelegt, sondern eben den gezielten Einsatz von Nahrungsergänzungsmitteln nahelegt. Es geht also nicht um Umsatzmaximierung sondern darum, die Versorgung der Bevölkerung mit wichtigen Mikronährstoffen sicherzustellen. Davon profitiert im Endeffekt das gesamte Gesundheitssystem, indem Krankheitskosten verringert und damit die Prämienzahler entlastet werden.