
Trendcheck: Warum trainieren plötzlich alle im Dunkeln?
Dunkel, still – und ganz schön anstrengend: Unsere Autorin hat den neuen Fitness-Trend im Kerzenschein selbst ausprobiert.
- Von: Linda Leitner
- Bild: Zosia Prominska
Das Ticket in die Dunkelheit ist ein rot blinkender Kopfhörer. Sechzehn Matten, davor je sechs Hanteln und ein Resistance Band, liegen im Raum. Wo ist mein Spot? Ich kann die kleinen Nummern kaum erkennen. Ich setze meinen trägen Körper ab und dann den Kopfhörer auf. Musik pumpt durch meinen Kopf, schottet mich sofort von der Aussenwelt ab. Huch, ich vibe. Wie kleine Glühwürmchen sehe ich die Köpfe der anderen. Was genau sie tun, lässt sich nur erahnen.
Dann schliesst Coach Dannalize die Tür der Higher Ground Studios in Zürich und den Rest der Welt aus. Sie raunt mir und den anderen glimmenden Sportmotten über die gepolsterten Kopfhörer Dinge ins Ohr. Sie bedankt sich für unsere Anwesenheit, während sie eine Kerze anzündet. Ein Gewitter bricht über der Musik los, mit einer Stimme, die tief aus dem Bauch kommt und der ich selbst über Klippen folgen würde, verkündet sie: "Lets go!"
Die Dunkelheit nimmt mir die Scham
Los geht ein HIIT-Workout, repetitive Bewegungsabfolgen, die mal an choreografiertes Aerobic erinnern, mal an Pilates. Auch ein Yoga-Flow ist integriert, das Ende der Lesson entlädt sich dramatisch in furchtbar anstrengenden Mountain Climbers (ihr wisst schon: In der Plank-Position abwechselnd die Knie schnell zur Brust ziehen). Hätte ich das vorher gewusst – ich wäre wahrscheinlich nicht gekommen. Doch jetzt hier vor Ort ist irgendwie alles anders. Die Abfolgen, die mich an peinliches Step Aerobic erinnern, tanze ich förmlich durch. Musik und Stimme motivieren mich, sie schiessen mir direkt in die Gliedmassen, die Dunkelheit nimmt mir die Scham.
Die vielen Wiederholungen bringen mich in einen fast tranceartigen, meditativen Zustand, ich vergesse, wo ich bin, schliesse die Augen, mache einfach. Sogar die Mountain Climbers, die ich so hasse. "Survivor" von Destiny's Child wummert mir durch Mark und Bein, wieder bricht zum Grande Finale dieses Gewitter los und ich renne. Dannlizes Stimme erlöst mich. Ich schwitze. Sehr. Erschöpft? Auch.
Ich schnaufe laut und glücklich-befreit (zum Glück hört das niemand). Für einen Moment war ich leer. Ohne Gedanken daran, dass ich die Wohnung putzen müsste oder dass ich vorgestern irgendwo irgendwie enttäuscht wurde. "Das ist es, was die Dunkelheit macht: Sie nimmt alles weg. Du lässt los – dein Image, deinen Titel, dein Alter, dein Fitnesslevel – nichts davon ist wichtig", so Anne-Sophie Tillier, Co-Founder von Higher Ground Studios.
Das Feiern seiner Selbst
Trainerin Dannalize Frischknecht, die vorne am Spiegel alles mitmacht, flüstert ihren Teilnehmer:innen immer wieder zu: Das Leben ist überfordernd genug, gib deinem Körper jetzt, was er braucht, aber verlang ihm nicht zu viel ab. Mach es in deinem Tempo. Hör auf, wenn du nicht mehr kannst. Da schwingt Achtsamkeit im düsteren Bootcamp-Drill mit.
Während diverse Spinning-Studios oder Boutique-Gyms wie das Zürcher Box-Workout Lucky Punch, das nun mit einer Filiale nach Dubai und Pop-ups in Berlin und Kopenhagen expandiert, dunkle Räume mit lauter Musik und Lichteffekten zu Club-ähnlichen Hotspots machen, geht es beim Schwitzen in der Finsternis oft auch ums Feiern seiner selbst.
Anne-Sophie Tillier, Co-Founder von Higher Ground Studios"Es geht darum, den Leistungsdruck loszulassen, anstatt sich ständig zu vergleichen"
Die Dunkelheit hilft einerseits dabei, sich ohne Ablenkung intensiv auf sich selbst zu konzentrieren. Wer da neben einem hampelt, kriegt man gar nicht mit. Mit dem wenigen Licht fallen auch die Hemmungen. Schwach, weil PMS? Niemand sieht, dass man beim Planken schnell einbricht. Ebenso wenig lässt sich beobachten, ob die Person neben einem die Bauchmuskel-Übungen besser oder schlechter macht.
Im Spiegel mag man sich zwar erkennen, kann überprüfen, ob die Bewegungen korrekt ausgeführt werden – aber ein bisschen ist es, als hätte man morgens die Kontaktlinsen noch nicht drin: Man erfreut sich des schemenhaften, herrlich detaillosen Anblicks.
"Es geht darum, den Leistungsdruck loszulassen, anstatt sich ständig zu vergleichen", erklärt Tillier. Ist die Person vor einem jünger, kurviger, schlanker? Hat sie die cooleren Klamotten? Sitzen die Haare perfekt? Es spielt schlichtweg keine Rolle. Gym-Formate im Kerzenschein sind ganz und gar unkompetitiv. Und wertfrei.
Zusammen und doch allein
Die Workouts im Dunkeln zielen darauf ab, den Raum fitter zu verlassen, als man ihn betreten hat – trotz des fehlenden Lichts. "Uns geht es nicht darum, dass die Leute Selfies vor unserem Logo machen. Die Menschen sollen sich daran erinnern, dass unsere Studios ein Rückzugsort sind, an dem sie ihre Batterien aufladen", so die Higher-Ground-Gründerinnen.
Das gentrifizierte Zu-sich-selbst-finden hat seinen Preis. Mit 35 Franken wird es bei Higher Ground 45 Minuten lang in hipper, minimalistischer Atmosphäre finster.
Neu ist das Konzept natürlich nicht. In den USA schwemmte schon 2006 das Fitnessunternehmen SoulCycle den Markt und stellte erstmals eine Kerze in den Raum: Bei gedämpftem Licht und lauter Musik strampelt man sich hier seither bei einem intensiven Indoorcycling-Workout nass.
Die Pariserin Tillier, Cycling Instructor und über 2000 Fahrten in den Beinen, wollte dieses Gefühl vom Rad auf die Matte bringen. "Das Spinning-Velo hat etwas wirklich Magisches. Wir wollten exakt dieses Feeling transportieren – mit mehr Tiefe und Inspiration", so Tillier, die mit Higher Ground jetzt am Paradeplatz einen zweiten Standort eröffnet.