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Vögelfrei

Body & Soul

Vögelfrei

  • Text: Anonym; Bild: Unsplash

Sängerin Selena Gomez hat angeblich sechs Monate auf Sex verzichtet. Unsere Autorin schaffte zwölf. Es war kein richtig schlechtes Jahr. Aber auch kein wirklich gutes.

Ein Jahr habe ich auf Sex verzichtet. Exakt ein Jahr. Würde ich es wieder tun? Nein. Bereue ich es? Nein. Was genau der Auslöser war, weiss ich nicht mehr. Es gab nicht den einen Grund. Es war eine Häufung von Kleinigkeiten, die dazu führten, dass ich dachte, dass es vielleicht auch gut wäre, für eine Weile keinen Sex mehr zu haben. Ich wollte keine Zeit mehr dafür aufwenden. Nicht wegen des Sex. Wegen des Drumherums. Die erste Zeit merkte ich nicht, dass ich keinen Sex hatte. Also doch, ich merkte es, aber es störte mich nicht. Mir gefiel, dass dieser Teil meines Alltags wegfiel. Dass der Sex wegfiel, war schade. Und irgendwie auch merkwürdig. Aber das ganze Organisieren des Sex fiel ja auch weg: das Planen, die Treffen, die Nachrichten davor, die Nachrichten danach, das Informiert-Sein, wer gerade Single und wer im Land war. Und das gefiel mir. Ich hatte mehr Zeit für mich. Mehr Zeit für meine Freunde. Mehr Zeit für die Arbeit. Ich hatte eine gute Zeit.

Die ersten Monate vergingen wie im Flug. Natürlich kann man sagen, logisch tun sie das, jeder hat mal ein paar Monate lang keinen Sex. Nun, ich nicht. Nicht, seit ich damit begonnen habe. Es ist, weiss jede und jeder, nicht so schwierig, als junge Frau Sex zu bekommen. Guter Sex ist eine andere Sache, aber Sex per se ist keine komplizierte Angelegenheit. Es war nun aber auch nicht so, dass es kompliziert war, keinen zu haben. Ich verabredete mich einfach nicht. Das war das ganze Geheimnis. Nach drei Monaten wettete ich mit mir, dass ich auch sechs schaffe. Einfach so, weil ich kann. Und irgendwie gefiel ich mir in dieser Rolle der stillen Sexverweigerin. Eine Rolle, von der niemand wusste. Niemand kannte mein Vorhaben, nur ich. Das mochte ich. Ich hatte diesen Bereich des Lebens nun ganz für mich. Hätte ich mich verliebt, hätte ich meine Abstinenzphase beendet, klar. Aber es passierte nicht. Ich lernte niemanden kennen. Niemanden, den ich interessanter als mein Experiment gefunden hätte. Und diese Geschichte, dass man plötzlich nackt neben jemandem im Bett gelegen ist, ohne zu wissen, wie man da hingekommen ist, habe ich noch nie geglaubt. Wenn ich niemanden nachhause nehme und mit niemandem nachhause gehe, dann liegt auch niemand nackt neben mir.

Ich bin kein One-Night-Stand-Typ. War ich noch nie. Werde ich wohl auch nie sein. Einfach nicht mein Ding. Einzig meinen Affären musste ich immer wieder absagen. Erklären musste ich mich jedoch nie. Ich hatte halt zu tun. Das ist das Gute an Affären, man schuldet sich nichts. Auch keine ehrlichen Antworten. Was mir irgendwann richtig fehlte, war der Sex, der Akt an sich. Leute, die Frauen einen eigenen Sexdrang absprechen, die glauben, Frauen wollen nur, weil oder wenn der Mann will, verstehe ich nicht. Wir haben vielleicht einfach einen anderen Zugang. Während wir still und ohne Aufhebens akzeptieren, wenn Sex Mangelware ist, jammern Männer, dass sie innerlich verfaulen. Biologie. Evolution. Samenstau. Vielleicht ist es gesellschaftlich. Frauen trauen sich nicht, sexfixiert zu sein. Es ziemt sich nicht. Männer müssen es wohl sein, alles andere wäre vermeintlich nicht männlich. Ich jedenfalls war immer überzeugt, dass die Gesellschaft und nicht die Biologie uns so unterschiedlich auf Sex oder eben keinen Sex reagieren lässt – bis mir der Film «40 Days and 40 Nights» in den Sinn kam. Ein junger Josh Hartnett will darin vierzig Tage lang keusch sein. In einer der letzten Szenen liegt er schwitzend und keuchend, weil von Sexträumen geplagt im Bett. Lag ich doch falsch? Schliesslich keuchte ich nicht schwitzend auf dem Bett und drehte fast durch vor Lust respektive Frust. Ich las den Plot des Filmes nach und verstand: Josh hatte nicht nur keinen Sex mit Frauen, er hatte nichts. Keine Orgasmen, keine Selbstbefriedigung, gar nichts. Gut möglich, dass ich dann auch so gelitten hätte. Nie wäre mir in den Sinn gekommen, völlig auf Orgasmen zu verzichten. Meine Orgasmus-Rate war während des ganzen Jahres nicht tiefer als während all der Jahre zuvor. Vermutlich war sie sogar höher. Ich kenne mich schliesslich besser als jeder Mann und bin deshalb auch deutlich zuverlässiger. Als ich fast ein halbes Jahr hinter mir hatte, traf ich eine Freundin. Sie ist bisexuell und hatte gerade eine Frauen-Phase. Sie habe bald ein Jahr «ohne Penis» geschafft, erzählte sie stolz. Ein Jahr tönt besser als ein halbes, fand ich. Ein Jahr, das schaffe ich auch.

Mein neues Ziel war gesetzt. Dass ich nichts gewinne, wenn ich «es» schaffe, war mir klar. Ich wollte es trotzdem schaffen. Und sexfrei zu leben hatte durchaus Vorteile. Ich ärgerte mich nie mehr, weil das Sich-Verabreden komplizierter war als gewünscht. Auch war meine chronische Angst, dass ich trotz Verhüten schwanger werde, verschwunden. Keine langen SMS-Konversationen, kein Warten, nichts. Das war befreiend. Wahrscheinlich ist es vergleichbar mit echtem Fasten: Das Essen fehlt zwar, aber wenn man nicht einkaufen, kochen und essen muss, hat man mehr Zeit für anderes. Man muss sich keine Gedanken machen, welche Zutaten man noch zuhause hat oder was man auf der langen Menükarte auswählen soll. Man hat niemals Bauchschmerzen, weil man das Falsche oder zu viel gegessen hat, und muss nicht über Kalorien oder schlechtes Fett nachdenken. Nur das Nötigste essen ist zwar lustfeindlich, aber auch praktisch. Und das gilt auch für Sex. Man hat mehr Zeit. Einen freieren Kopf.

Meine überschüssige Energie floss direkt in die Arbeit. Und in den Sport. Eigentlich schade, hat mich kaum jemand nackt gesehen, ich war so gut in Form wie noch nie. Beinah hätte ich das Jahr nicht geschafft. An einem Wochenende, ich war im neunten Monat, fuhr ich mit Freunden in die Berge. Wir übernachteten in der Wohnung eines Freundes. Die Pärchen bekamen ein Zimmer, ein Typ, Freund eines Freundes, der ebenfalls Single war, schlief auf dem Boden, ich auf dem Sofa des Wohnzimmers. Wir waren beide zu betrunken, als dass es hätte brenzlig werden können. Mitten in der Nacht wachte ich auf, weil es irre kalt war. Ich stolperte im Wohnzimmer herum und suchte einen Pullover. Ob alles okay sei, hörte ich ihn fragen. Mir sei kalt, meinte ich und fluchte, weil ich nicht fündig wurde. Er könne mich auch wärmen. Er war, muss man dazu sagen, überdurchschnittlich attraktiv. Nicht mein Typ, was seine Persönlichkeit betraf, aber er wollte mich ja auch nicht heiraten, sondern wärmen. Ich nuschelte irgendetwas, das nach Nein klang, und legte mich, immer noch ohne Pullover, wieder aufs Sofa. Nur noch drei Monate!! Drei! Reiss dich zusammen, meinte meine innere Stimme. Er fragte: «Wie? Ich habe dich nicht verstanden.» Ich wiederholte mich … nicht. Sekunden später lag er neben mir. Aber: Wir hatten keinen Sex. Weil: kein Kondom. Und ausserdem mussten die anderen, wollten sie aufs Klo, durch das Wohnzimmer, was uns leicht bremste. Aber zugegeben, je nachdem, wie man Sex definiert, habe ich nur neun Monate durchgehalten.

Die letzten drei Monate waren blöd. Sie waren lustbefreit und unbefriedigend. Ich hatte sogar wieder richtig Bock auf das ganze Drumherum. Ich klagte lautstark bei meinen Freunden, dass ich zu wenig Sex hätte, die mich alle etwas irritiert anschauten, sie wussten ja nichts von meiner absurden Abmachung mit mir selber. Ich könne das ja ändern, wenn ich wollte, sagten sie. Aber ich wollte nicht. Ich wollte es schaffen. Richtig erklären kann ich das heute, ein Jahr danach, auch nicht mehr. Aber Aufhören war damals keine Option. Ich lenkte mich mit Arbeit ab, bis ich das Gefühl hatte, mit meinem Job zu schlafen, so sehr vereinnahmte er mich. Dann hatte ich es geschafft. Das Jahr war um. 365 Tage vorbei. Und beinah hätte ich den Tag verpasst. Ich erinnerte mich nur dank einer Freundin, mit der ich ein Jahr zuvor bei einem Abendessen über Sex geredet und da zum ersten Mal erwähnt hatte, dass ich vielleicht mal eine Weile Sexfasten sollte. Sie und ich waren an jenem Abend in einer Bar gewesen, und sie hatte einen Typen kennengelernt. Nun, ein Jahr später, schickte sie mir ein Bild von sich und ihm beim Abendessen. Sie waren ein Paar, mittlerweile sogar zusammengezogen. Ihr Jahrestag. Ich erinnerte mich, dass ich am Tag nach unserem damaligen Treffen bei einem Typen übernachtet hatte. Das war mein letztes Mal Sex gewesen. Ob er schon Pläne für heute Abend habe. Mein SMS war zugegeben nicht sehr originell. Meine Wahl auch nicht. Sie war rein optischer Natur. Eine meiner Affären arbeitet als Model. Treffen wir uns oder entdecke ich ihn in einer Zeitschrift, freue ich mich, ihn zu sehen. Er ist grosszügig, freundlich und treu, sofern man eine Affäre treu nennen kann. Wir würden dennoch nie als Paar funktionieren, unsere Gespräche sind so spannend wie Kamillentee. Es sind rein oberflächliche Kriterien, die mich zu dieser Affäre – sie dauert mit Unterbrüchen doch schon sechs Jahre – und nun zu diesem SMS bewegt haben. Er habe keine Pläne, schrieb er zurück. Es war ein komisches Gefühl, zu wissen, dass ich Sex haben werde. Ich war leicht aufgeregt. Nicht wie bei meinem ersten Mal. Eher so wie damals, als ich nach einem Skiunfall mit Beinbruch das erste Mal wieder auf den Ski stand. Aber: Sex verlernt und vergisst man nicht. Sex ist auch nicht plötzlich wieder neu. Nach einem Jahr ohne Sex ist er jedoch wie der erste Bissen nach einer Fastenkur.