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Wie ist es eigentlich, sein eigenes Baby sterben zu lassen?

Body & Soul

Wie ist es eigentlich, sein eigenes Baby sterben zu lassen?

  • Aufgezeichnet von Katrin MeierFoto: Getty Images

Eine Frau erzählt über ihre wohl schwerste Entscheidung. Soll sie ihr Kind, das nicht lebensfähig ist, sterben lassen?

Franks* Spermien sind schlecht. Wir entscheiden uns für eine künstliche Befruchtung. Obschon ich schon 39 Jahre alt bin und fünf Jahre vergeblich versuchte, ein Kind zu bekommen, werde ich gleich beim ersten Versuch schwanger. Thilo ist unser Wunschkind.

In der 27. Schwangerschaftswoche muss ich wegen einer Infektion und vorzeitigen Wehen ins Spital. Bei der Chorionzottenbiopsie wird die Plazenta punktiert. Alles scheint normal zu sein. Als mir die Ärzte aber zwei Wochen später sagen, das Kind habe überhaupt nicht zugenommen, weiss ich: Mit dem Kind ist etwas nicht in Ordnung.

In der 32. Schwangerschaftswoche werden die Herztöne des Kindes schlechter. Ein Notkaiserschnitt muss eingeleitet werden. Thilo kommt morgens um 11 Uhr zur Welt. Er wiegt 1285 Gramm und ist 38 Zentimeter gross. Er schreit nicht. Aber er bewegt sich. Das sei ein gutes Zeichen, sagen die Ärzte. Ich fühle mich auf Wolke sieben.

Dann hören Frank und ich stundenlang nichts. Endlich kommt der Professor ins Wochenbettzimmer und sagt, man habe versucht, einen Tubus zu legen, damit Thilo besser atmen könne, komme aber nicht zur Lunge durch. Ich denke: Das ist eine Kleinigkeit. Wenig später kommt der Professor zurück. Thilo habe eine dreifache Behinderung: Ihm fehlt die Luftröhre, er hat ein Loch in der Herzkammer und einen Darmverschluss. Unter einer Million Frühgeburten komme das einmal vor. Fehlende Luftröhren können nicht durch künstliche ersetzt werden.

Wir haben Thilo noch nicht am Beatmungsgerät gesehen, doch bereits sollen wir entscheiden, ob wir die Maschinen, die ihn am Leben erhalten, abstellen wollen. Der Professor rät uns dazu. Frank möchte zuwarten. Er fragt, ob wir nicht Gott spielen, wenn wir die Maschinen abstellen. Der Professor sagt, die Natur habe schon entschieden.

Am selben Tag fasse ich den Entschluss, Thilo sterben zu lassen. Es ist das Beste für ihn, er wird von seinen Leiden erlöst. Einen Moment lang bin ich unsicher, ob ich mein Kind sehen möchte. Es könnte einfacher sein, sich nicht von ihm zu verabschieden. Ich entscheide, stark zu sein und meinen Sohn kennen zu lernen. Allem zum Trotz.

Thilo ist so winzig, so mager, und dennoch finde ich ihn unglaublich hübsch mit seiner geschwungenen Nase und den feinen blonden Härchen, die er von Frank haben muss. Er ist einfach das Baby, auf das ich so lange gewartet habe. Das Dutzend Schläuche sehe ich nicht.

Frank und ich können ihn nicht gehen lassen. Nicht an seinem ersten Tag. Noch nicht. Als ich ihn zum ersten Mal in den Armen halte, scheint sich Thilo zu entspannen. Wahrscheinlich kann er mich riechen und spüren. In meinem Arm benötigt er weniger Sauerstoff.

Noch am selben Abend führt die Krankenhausseelsorgerin eine Nottaufe durch und schenkt Thilo einen kleinen Delfin. Den legen wir zu ihm in sein Bettchen – als Glücksbringer. Auf der Geburtsstation betrachte ich die anderen Neugeborenen. Ich will wissen, wie ein gesundes Baby aussieht. Ich freue mich für die anderen Mütter. Trotzdem frage ich mich, warum das gerade mir passiert ist. Ich habe eine Narbe am Bauch, aber kein Kind im Arm. War es umsonst? Ich bin froh darüber, dass ich Thilo gebären durfte, dass ich ihm das Leben schenken konnte und für ihn getan habe, was möglich war. Wenn er das nächste Mal auf die Welt kommen sollte, darf er vielleicht bleiben.

Zwei Tage nach der Geburt sind wir bei Thilo, als die Ärzte die Schläuche entfernen. Ich nehme ihn in den Arm, gebe ihn Frank, und er reicht ihn mir wieder, so geht es hin und her, ruhig und langsam. Immer wieder schauen wir in sein kleines Gesicht, streicheln unser Kind. Innerhalb einer halben Stunde schläft Thilo ein.

Ich kann nicht weinen. Auch wenn es eine Erleichterung wäre. Der grosse Zusammenbruch kommt bei mir nie. Frank ist näher am Wasser gebaut. Mir ist, als würde er für uns beide weinen. Das erlöst mich.

Im Kinderzimmer liegen ein paar Strampelhosen, und der Stubenwagen steht auch da, dessen Ausstattung meine Mutter für Thilo genäht hat. Den Wagen kann ich nicht weggeben. Das würde meiner Mutter das Herz brechen. Wir stellen ihn in den Keller. Das ist nun vier Jahre her. Thilos Delfin steht noch bei uns im Wohnzimmer.

Andrea Jann* (43), Psychologiestudentin


*Namen von der Redaktion geändert

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