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Wie ist es eigentlich, seit 20 Jahren mit HIV zu leben?

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Wie ist es eigentlich, seit 20 Jahren mit HIV zu leben?

  • Aufgezeichnet von Ariane Lorez; Foto: SXC

Michèle Meyer (48), Aids-Aktivistin, Mutter und Clown aus Hölstein BL, erzählt, wie es ist, seit 20 Jahren mit HIV zu leben.

Einfach anrufen, Nummer durchgeben und voilà, das Ergebnis ist da: HIV-positiv. Ich hatte noch lange den Hörer in der Hand und starrte vor mich hin. Meine Angst war riesig. Damals kursierten diese Schreckensbilder von ausgezehrten Gesichtern und Körpern. Das Damoklesschwert hing ziemlich tief; die Lebenserwartung bei einer HIV-Infektion lag bei fünf, maximal zehn Jahren, wobei niemand sagen konnte, wie viel davon bei guter Gesundheit. Das war 1994. Zukunftsplanung, Berufskarriere, Familie – alles war von einem Tag auf den anderen vom Tisch!

Seither hat sich viel getan, vor allem medizinisch. Zu Beginn der HIV-Therapie mussten Betroffene 36 verschiedene Pillen am Tag schlucken. Als ich 1999 mit der Therapie begann, waren es nur noch sechs, dafür regelrechte Keulen mit brutalen Nebenwirkungen: Gliederschmerzen, Dauerdurchfall, Übelkeit, Albträume und Halluzinationen. Heute nehme ich täglich nur noch eine Tablette, und mit den Begleiterscheinungen lässt es sich leben: nicht zu viel Kaffee und Zigaretten, und abends nichts Fettiges essen, weil die Magenwand wegen der Medikamente schon arg strapaziert ist.

Was sich jedoch kaum verändert hat, das ist das Bild in den Köpfen der Menschen. HIV ist nach wie vor eine unglaublich moralisch belastete Diagnose. Nur Schwule, Flittchen und Junkies sind positiv, wer sich angesteckt hat, ist also selber schuld, so denken immer noch viele. Und geradezu verrückt ist, wie wenig die Leute wissen über die heutige Ansteckungsgefahr. Als meine Tochter in die Krippe kam, verlangte die Leiterin tatsächlich eine medizinische Bestätigung, dass sie HIV-negativ sei, und dass auch ich die Kinder und Eltern nicht anstecken könne – nur zur Absicherung, wie die Leiterin meinte. Ich konnte nur den Kopf schütteln, schliesslich hatte ich ihr freiwillig von meiner Krankheit erzählt.

Dass ich als HIV-Infizierte überhaupt Kinder bekam, war schon für viele ein Problem. Man warf mir vor, ich gefährde Mann und Kind, handle ohne Verantwortungsgefühl, weil ich ja ohnehin bald sterben würde. Dabei war es doch ein Lebenstraum, den ich bereits begraben hatte. Ich meine: Nach der Diagnose hatte ich mir meine Pensionskasse auszahlen lassen und war damit auf Reisen gegangen. Nur noch möglichst viel inebiege ins Leben, bevor ich sterbe, so dachte ich damals. Umso grösser war meine Freude, als 2002 unsere erste Tochter zur Welt kam und zwei Jahre später unsere zweite. Noch heute stutzen viele bei der Feststellung, dass die Mädchen nach meiner Ansteckung geboren wurden – und zwar gesund. Wie das möglich sei, wird häufig gefragt. Dabei sollte doch längst bekannt sein, dass HIV-Infizierte bei erfolgreicher Therapie das Virus nicht mehr weitergeben, auch nicht bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr, und dass sie ganz natürlich Kinder zeugen und gebären können.

Mit meinem Mann habe ich seit über zehn Jahren Sex ohne Kondom. Nach geltendem Epidemiegesetz mache ich mich damit strafbar. Das ist total unsinnig, schliesslich ist es medizinisch verantwortbar, wie selbst die Eidgenössische Kommission für Aids-Fragen festgehalten hat. Natürlich heisst das nicht, dass alle ungeschützten Sex haben sollten. Sicher nicht! Aber HIV-Positive, bei denen der Arzt nachgewiesen hat, dass sie nicht mehr ansteckend sind, sollten frei wählen können, ob sie mit ihrem Partner auf das Kondom verzichten wollen oder nicht.

Handlungsbedarf besteht auch in Versicherungsfragen. Will ich zum Beispiel eine Dritte Säule abschliessen, muss ich tief in die Tasche greifen. Die Tarife stehen in keinerlei Verhältnis zu den medizinischen Fakten. Schliesslich habe ich heute eine ähnlich hohe Lebenserwartung wie gesunde Menschen.

Lange Zeit hatte man als HIV-Infizierte nur zwei Möglichkeiten, mit der Diagnose umzugehen: sich vor Scham verstecken oder märtyrerhaft das Gesicht zu zeigen – übertrieben gesagt. In letzter Zeit jedoch beobachte ich eine neue Tendenz: Positive verschweigen ihre Krankheit nicht mehr aus Scham, sondern weil sie schlicht nicht einsehen, warum sie davon erzählen sollen. Sie fragen sich: Warum eigentlich? Ein sehr selbstbewusster Umgang mit HIV, wie ich finde, und eine Art von Freiheit, die für mich neu ist. Und ermutigend.

— Aufgezeichnet von Ariane Lorez

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