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Autorin Jina Khayyer:

Autorin Jina Khayyer: "Wie schaffen es die jungen Iraner:innen, nicht zu zerbrechen?"

Die deutsch-iranische Autorin Jina Khayyer erzählt in ihrem Debütroman "Im Herzen der Katze" von drei Generationen iranischer Frauen, von Gewalt, Solidarität und der Kraft des Protests. Wir haben mit ihr gesprochen.

Inhaltshinweis: Gewalt, sexualisierte Gewalt

annabelle: Jina Khayyer, die erste Szene Ihres Romans spielt im Herbst 2022. Ihre Protagonistin, eine Deutsch-Iranerin, sitzt wie gebannt an ihrem Handy und schaut Videos der iranischen Proteste, die nach dem durch die Sittenpolizei verursachten, gewaltsamen Tod der Kurdin Jina Mahsa Amini stattfanden. Die Social-Media-Bilderflut, die auf dieses Ereignis folgte, wird in Ihrem Roman in allen drastischen Details wiedergegeben: Eine Teenagerin wird von Handlanger:innen des Regimes bewusstlos geschlagen, weil sie in der Öffentlichkeit tanzt; eine Mädchenschulklasse wird Opfer eines Giftgasanschlags; Dutzende junge Männer werden wegen ihrer Solidarität mit den Protesten zum Tode verurteilt.
Jina Khayyer: Die sozialen Medien sind Erzählmittel unserer Gegenwart. Wir können überall sein und trotzdem alles mitbekommen, allein durch dieses Medium. Und die Proteste, die durch diesen Mord ausgelöst wurden, gehörten zu den ersten, die weltweit live über die sozialen Medien mitverfolgt werden konnten. Es gibt ja diesen Satz «Das Leben liegt in deiner Hand» und für mich war das sehr real, als diese Proteste anfingen: Das Telefon mit diesen Bildern, diesen Leben, liegt in meiner Hand, und es liegt darum auch in meiner Hand, was ich mit diesen Informationen mache. Für mich war der Mord an Jina Mahsa Amini der Auslöser, «Im Herzen der Katze» zu schreiben.

Wollten Sie die Flut an Bildern und Nachrichten, die wir via Social Media bekommen, durch das Aufschreiben auch verlangsamen? Wir scrollen ja oft endlos durch Inhalte, ohne sie richtig zu sehen, selbst wenn sie sehr brutal sind.
Nicht unbedingt verlangsamen, aber festhalten. Ein Post oder eine Story auf Instagram ist sehr kurzlebig. Häufig konsumieren wir diese Inhalte beiläufig. Aber das Abgebildete hatte im Falle dieser Proteste unfassbare Konsequenzen. Und da wollte ich hereinzoomen, aufzeigen, dass es sich um reale Schicksale handelt.

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"Formen der selbstverständlichen Solidarität und Mit-Menschlichkeit gibt es, seitdem es uns Menschen gibt, in allen Kulturen"

In Ihrem Buch erzählen drei iranische Frauengenerationen von ihren Leben. Alle drei kämpfen für ihr Recht auf Selbstbestimmung und Freiheit. Sie scheinen selbstverständlich solidarisch miteinander zu sein, obwohl sie sehr unterschiedliche Leben leben – das hat mich beeindruckt.
Im Persischen gibt es ein schönes Wort, ham-watan. Es bedeutet Mitmensch. Gleichzeitig heisst es aber auch Mit-körper und einfach auch: ein Körper. Für mich bedeutet genau das eine moderne Gesellschaft, eine, in der wir uns alle gegenseitig stützen. Das wollte ich erzählen, aber nicht als Utopie. Diese Form der selbstverständlichen Solidarität und Mit-Menschlichkeit gibt es, seitdem es uns Menschen gibt, in allen Kulturen.

Wollen Sie damit sagen: Solidarität, das Gemeinsame betonen, für etwas Gemeinsames kämpfen – das ist nichts Schwieriges, wofür wir uns anstrengen müssen, sondern eigentlich etwas, was ganz natürlich und selbstverständlich für uns ist im Umgang miteinander?
Früher ja. In einer Zeit der Individualität, in der wir heute leben, haben wir diese selbstverständliche Verbindung leider verloren. Man sieht das an kleinen Dingen: Heute betrachten wir die Familie als Zwang. Wir denken darüber nach, wie komme ich mit meiner Mutter zurecht, wir sind doch so unterschiedlich? Wir denken weniger an die Tatsache, dass diese Banden vor allem ein lebenslanger Halt sind, genauso jene mit den Geschwistern. Es gibt viele Arten des Zusammenhalts, Freundschaften und gewählte Familien zählen ebenso dazu. Aber ja, ich glaube, dass wir heute tatsächlich eher vereinzelt sind und eine ganz grundlegende Solidarität wieder lernen müssen.

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"Die meisten Leute gehen lieber Kaffee trinken als demonstrieren"

Und woher kommt die Vereinzelung Ihrer Meinung nach?
Das ist ein gesellschaftspolitisches Problem und eines unseres Wirtschaftssystems. Wir leben in einer Zeit gnadenlosen Wettbewerbs, in der vermittelt wird, dass der Stärkere gewinnt. Rechte Politik drängt einzelne Gruppen an den Rand, das führt dazu, dass Menschen mit Fingern aufeinander zeigen. Das iranische Regime ist ein Extrembeispiel dafür. Und genau dagegen wehren sich meine Protagonistinnen, jede auf ihre Art und Weise. Jede hat ihr eigenes Leben, ihren eigenen Kampf. Aber in der Résistance, im Widerstand, sind sie alle zusammen. Denn sie wollen das gleiche, ein selbstbestimmtes Leben. Bis vor Kurzem hätte ich behauptet, dass das selbstbestimmte Leben das ist, was alle Menschen anstreben.

Warum heute nicht mehr?
Ich habe beobachtet, gerade in den letzten Jahren, dass die wenigsten Menschen bereit sind, für ein selbstbestimmtes Leben etwas aufzugeben: ihren Komfort, ihr Geld, ihre Sicherheit. Die meisten Leute gehen lieber Kaffee trinken als demonstrieren. Deutsche machen sich über Französ:innen lustig, weil die gefühlt jeden zweiten Tag auf die Strasse gehen. Mich erschreckt es, wie wenig die Leute tun wollen, um für ihre Werte einzustehen. Gleichzeitig zeigt mir das wieder, wie mutig die Iraner:innen sind, dass sie sich nur mit ihren Körpern diesem brutalen Regime entgegenstellen.

Es gibt eine Szene im Buch, in der eine lesbische junge Frau erklärt, dass diktatorische Regimes sexuelle Freiheit deswegen unterdrücken, weil Liebe und Begehren Energie weg vom Regime und hin zum Gegenüber lenken. Also: Wer liebt, geliebt wird und guten Sex hat, interessiert sich nicht für Nationalismus oder religiösen Extremismus. Glauben Sie selbst angesichts der aktuell eher düsteren politischen Weltlage noch an diese revolutionäre Kraft der Liebe?
Total. Nichts ist stärker als die Macht der Liebe. Die lässt sich mit nichts brechen, mit keiner Waffe, keiner Gewalt. Was ihr entgegensteht, ist die Angst. Die Angst besiegt man, indem man mutig ist. Mut ist stärker als Angst. Für mich ist Mut die wichtigste Tugend. Denn nur wenn man Mut lebt, kann man auch alle anderen Tugenden konsequent leben.

"Es gibt keine Schutzbunker, kein Entkommen, keine Hilfe"

Im Juni 2025 griffen zuerst Israel, dann die USA den Iran an. Hat dieser Krieg Ihren Blick auf die Geschichte, die Sie im Buch erzählen, noch einmal verändert?
Meine erste Reaktion auf die Nachricht der Angriffe war eine unglaubliche Wut. Die Iraner:innen sind seit Jahrzehnten auf sich selbst gestellt, allein in ihrem Widerstand gegen das islamische Regime, nach dem Mord an Jina Mahsa Amini zeigten sie wieder, dass sie dieses ablehnen und eine säkulare Demokratie wollen, Staat und Religion getrennt. Sie werden von der eigenen Regierung unterdrückt, die Jungen werden erhängt, die Mädchen vergewaltigt, und dann kommen Israel und die USA, bombardieren Teheran und fordern zehn Millionen Teheraner:innen auf, die Stadt zu verlassen. Es gibt keine Schutzbunker, kein Entkommen, keine Hilfe. Die Wut war mein erstes Gefühl. Und dann kam wieder, wie im Herbst 2022, das Gefühl der Verantwortung. Ich dachte mir: Wenn du wirklich möchtest, dass Menschen, die unbeteiligt sind an dem allem, verstehen, was vor sich geht, musst du dich jetzt anstrengen.

Wie meinen Sie das: Sie müssen sich anstrengen?
Es bedeutet, dass ich meine Möglichkeiten nutze, und in Gesprächen, die sich ergeben, oder auch in Lesungen zum Buch vom Iran erzähle. Mit der Hoffnung, dass ich so viele Menschen wie möglich berühre, die sich dann solidarisch mit dem iranischen Volk zeigen, und überhaupt mit allen Völkern dieser Welt, die unter Unterdrückung leiden. Bei den «Frau, Leben, Freiheit»-Protesten gab es so einen Moment der weltweiten Solidarität und des Zusammenhalts, ein Anerkennen, ein «Ich sehe dich». Ich wünsche mir, dass diese Solidarität nicht aufhört, bis wir die Tyrannei besiegt haben.

Sie sprechen vom iranischen Volk. Warum ist das in diesem Fall besonders wichtig?
Wenn wir vom Iran reden, müssen wir unbedingt differenzieren zwischen der Bevölkerung und dem islamischen Regime, das von den Klerikern geführt wird. Die Kleriker sind nicht das Volk. «Im Herzen der Katze» versucht genau das, diesen Unterschied zu zeigen, und allen, die nicht in den Iran reisen können, die Möglichkeit zu geben, durch die Geschichten und Leben der Protagonistinnen dieses Land wenigstens ein bisschen besser kennen zu lernen. Inspiriert worden bin ich von Grossmeisterinnen wie Toni Morrison, die in ihrem Buch «Menschenkind» von Brutalität erzählt, aber eben auch von Zärtlichkeit. Oder von Chimamanda Ngozi Adichie, die mir ein Gefühl für Nigeria gegeben hat, obwohl ich noch nie da war. Ich bin von mir als Leserin ausgegangen, habe mich gefragt: Wie muss ich erzählen, um der Leserin die Komplexität des Lebens der Menschen im Iran näherzubringen?

Wie sehen Sie die Zukunft des Irans?
Wenn ich eins gelernt habe, was den Iran betrifft, dann das: Das Geschehen ist in jeder Hinsicht absolut unkalkulierbar. Deswegen halte ich mich von Prognosen fern. Sie interessieren mich auch nicht, ich bin ja keine Prognostikerin, sondern Geschichtenerzählerin. Meine einzige Prognose ist: Wenn wir mit Liebe und Mut vorangehen, werden wir am Ende siegen.

Sie beschreiben eindrücklich, wie eine sehr junge Generation von Student:innen nach Jina Mahsa Aminis Tod 2022 mutig und entschlossen auf die Strassen ging, sich einem unfassbar grausamen Regime entgegenstellte und dafür Gewalt, Tod und Gefängnis in Kauf nahm. Wie geht es dieser Protestgeneration heute, drei Jahre später – unter mehr oder weniger dem gleichen Regime, mit einem zusätzlichen Krieg im Land?
Das ist eine traurige und berechtigte Frage. Vor allem jetzt, nach den Angriffen. Ich glaube, diese Generation durchlebt gerade die schlimmsten Zustände – Frustration, Desillusionierung, Trauma. Das sind riesige psychologische Herausforderungen. Gleichzeitig ist sie ungebrochen in dem Willen, ein selbstbestimmtes Leben zu leben. Proteste kommen im Iran in Wellenbewegungen, und ich bin überzeugt, dass das immer weitergeht, bis dieses Regime gestürzt ist. Irgendwann wird es kippen. Aber ich frage mich, wie diese Generation mental da durchkommt. Im Alltag weiss ich, wie sie es machen: mit Fatalismus, Anarchie und Mut. Man sieht das daran, wie viele junge Frauen ohne den Hijab rausgehen, obwohl das immense Gefahr bedeutet. Und wie viele Männer für sie einstehen. Die grosse Frage für mich ist, wie es gerade die jungen Frauen schaffen, daran nicht zu zerbrechen. Überhaupt ist das ein grosses Thema meiner Arbeit: Wie schaffen wir es, nicht an den Unmöglichkeiten, denen wir ausgesetzt sind, zu zerbrechen?

Und wie, zum Beispiel, gelingt es?
Im Bezug auf die Iraner:innen sind Humor und Kreativität wichtige Rettungsringe, eine gewisse Verspieltheit im Alltag und darüber hinaus: Iranisches Kino beispielsweise ist ja weltweit anerkannt, Jafar Panahi hat dieses Jahr die Goldene Palme in Cannes gewonnen, mit dem hochpolitischen Film «Ein einfacher Unfall». Seit über dreissig Jahren versucht das Regime Panahi das Filmemachen zu verbieten, er wurde verhaftet, ausgepeitscht, ihm wurde ein Arbeitsverbot erteilt, und dann filmte er vor zehn Jahren mit dem iPhone eine Taxifahrt durch Teheran und es wurde einer der schönsten Filme, die man überhaupt je gesehen hat («Taxi Teheran»). Das macht mich demütig. Ich denke dann: Du hast hier alle Mittel, also setz dich hin und konzentrier dich auf das, was du tun kannst.

Jina Khayyer (49) ist in Deutschland geboren und arbeitet als Schriftstellerin, Journalistin, Malerin und Dichterin. Sie lebt in Paris und Südfrankreich. «Im Herzen der Katze» ist ihr erster Roman und erschien am 21. Juli im Suhrkamp-Verlag (ca. 38 Fr.) 

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Khavar Zolghadr

salam.
ein sehr interessantes interview und auch sehr realistisch. Ich war zum letzten mal vor drei monaten im iran und bin auch stolz ohne kopf und mäntelchen während drei wochen durch teheran gegangen. Die jugend ist unglaublich mutig und stark. Aber jetzt ist alles wieder zurückgespült worden durch den krieg. Es bricht einem das herz und es braucht so viel kraft wieder von vorne anzufangen. Die regierung geht sehr brutal mit der bevölkerung um und doch wird weiter gemacht.