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Balkan-Filmstar Mirjana Karanović:

Balkan-Filmstar Mirjana Karanović: "Ich begann, über die Welt älterer Frauen nachzudenken – und unsere Ängste"

Mirjana Karanović spielt in "Mother Mara" eine alleinerziehende Mutter, die ihren Sohn verliert und daraufhin eine Affäre mit einem jüngeren Mann beginnt. Im Interview spricht die 68-jährige Schauspielerin und Regisseurin über Kampfgeist, Neuanfänge und ein Kriegstrauma, das ihre Region bis heute heimsucht.

"Wie alt bist du eigentlich?", fragt Mara. Sie liegt im Bett; nackt, Zigarette in der Hand, die platinblonden Locken vom Sex zerzaust. "28", erwidert er. "Und du?" – "Alt." Diese Szene aus "Mother Mara" brennt sich ins Gedächtnis ein, wie es Film selten tut. Sie verrät auch einiges über ihre Schöpferin: Mirjana Karanović macht mit Vorliebe Filme, die gesellschaftliche Tabus konfrontieren. Ihr feines Gespür für komplexe Themen sichert der 68-jährigen Schauspielerin, Regisseurin und Drehbuchautorin seit den 80er-Jahren einen Platz in der Speerspitze der Film- und Theaterszene der Balkanregion.

Auch international schlugen ihre Projekte immer wieder Wellen: 1985 etwa, als sie die weibliche Hauptrolle im Cannes-prämierten Sozialdrama "Papa ist auf Dienstreise" spielte. Oder 2006, als die Serbin in gleich zwei prämierten Debüts in Hauptrollen zu sehen war: "Esmas Geheimnis – Grbavica" von Jasmila Zbanić und Andrea Štakas "Das Fräulein".

Diva ohne Allüren

Ihr eigenes Regiedebüt feierte Mirjana Karanović 2016, mit dem Film "A Good Wife" und einer Weltpremiere am renommierten Sundance Festival. "Mother Mara" ist die zweite Regiearbeit, in der sie auch Drehbuch und Schauspiel-Lead übernahm.

Christian Jungen, Festival Director des Zurich Film Festival, empfiehlt Mirjana Karanović "mit ihrer divenhaften Präsenz" seither für eine Hauptrolle im nächsten Almodóvar-Film. Als sie sich via Zoom aus Belgrad einschaltet, sind die Marilyn-Monroe-Locken aus dem Film einem weicheren, nicht minder bewundernswerten Look gewichen – von Allüren fehlt jedoch jede Spur.

annabelle: Mirjana Karanović, im Balkan sind Sie längst eine Ikone. Und seit Sie mit knapp 60 Jahren angefangen haben, Ihre eigenen Filme zu realisieren, sind Sie auch ausserhalb der Region präsenter denn je. Hat eine internationale Karriere Sie bisher nie gereizt?
Mirjana Karanović: Nun, ich habe die internationale Karriere nie gesucht – in erster Linie, weil ich glaube, dass die Muttersprache für Schauspielende das wichtigste Ausdrucksmittel ist. Aber ich hatte auch eine sehr gut laufende Karriere in meiner Heimat. Und ich hänge sehr am Theater. Ich könnte niemals nur Filmschauspielerin sein. Dazu kam, dass ich in den 90er-Jahren mein Land nicht verlassen wollte, weil hier all diese furchtbaren Dinge passierten.

Das war die Zeit der Jugoslawienkriege, als viele Menschen flohen. Warum wollten Sie bleiben?
Weil ich dachte: "Wenn alle gehen, dann ist niemand mehr hier, um für Gerechtigkeit zu kämpfen." Also blieb ich und war sehr aktiv in der Antikriegsbewegung und gegen das Milošević-Regime – trotz allem, was mich hätte aufhalten können … (hält kurz inne) All das ist noch immer sehr emotional für mich. Aber ich bin eine Kämpferin. Ich will für eine bessere Welt einstehen. Ich finde, das ist wichtiger als mein eigenes Wohlergehen.

Derzeit steht Ihr Land erneut Kopf. Seit November laufen, initiiert von Studierenden, die grössten Massenkundgebungen seit dem Sturz von Slobodan Milošević: Hunderttausende strömten bereits auf die Strassen, um gegen Korruption und gegen die aktuelle Regierung von Aleksandar Vučić zu protestieren. Was löst das in Ihnen aus?
Ich verstehe diese jungen Leute und unterstütze sie. Weil ich aber all diesen Erfahrungsschatz habe und viele Enttäuschungen erlebte, habe ich meine berechtigten Zweifel, dass Enthusiasmus genug sein wird, um einen grundlegenden Wandel in unserem Land zu erreichen. Die Studierenden anzufeuern, wird nicht reichen. Wir werden Verhandlungen, viel Expertise und Dialog brauchen. Im Moment fühle ich mich eher ohnmächtig, weil ich nicht weiss, wie ich mich einbringen kann. Ich warte auf eine Möglichkeit.

Ihre Projekte beschäftigen sich oft mit den Folgen der Jugoslawienkriege und mit Ungerechtigkeiten in unserer Welt ganz generell. Natürlich löst man damit keine Konflikte, aber Sie können mit Ihrer Arbeit doch immerhin zum Dialog beitragen. Sie können Themen hervorheben und Schieflagen konfrontieren.
Ja, das stimmt. Kunst kann die Welt verändern, ganz generell.

Was hat Sie dazu bewegt, mit "Mother Mara" nun die Geschichte einer alleinerziehenden Mutter zu erzählen, die um ihren verstorbenen Sohn trauert und eine Affäre mit einem viel jüngeren Mann beginnt?
Ich wusste lange nicht, was mein nächster Film sein könnte, aber dann arbeitete ich an einem Stück am bosnischen Nationaltheater. Ich führte Regie und spielte die Hauptrolle: Eine Frau, die ihren Sohn verloren hat. In diesem Theaterstück war es ein ganz anderes Setting als später im Film, aber ich war fasziniert von dieser Frauenfigur; schon etwas älter und gebrochen vom Leben und von all den tragischen Dingen, die in Bosnien passiert sind – ich konnte ihre Hilfeschreie förmlich hören: "Ist jemand da? Irgendjemand? Bitte, hört mich doch! Ich will leben, aber ich weiss nicht wie …" Dann trifft sie diesen Kerl …

Was faszinierte Sie an dieser Figur? Inwiefern inspirierte sie Sie dazu, einen Film daraus zu machen?
Die Leere in ihr hat mich sehr aufgewühlt, weil es eine Zeit gab, in der ich ebenfalls spürte, dass in meinem Leben jemand fehlte. Da begann ich über die Welt älterer Frauen nachzudenken und die Dinge, die uns Angst machen. Du glaubst, dass dein Leben vorbei ist: "Ich bin alt und habe nichts, worauf ich hoffen kann. Nichts, was auf mich wartet."

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Wie gingen Sie mit diesen schwierigen Gefühlen um?
Ich wusste, dass ich etwas komplett Neues ausprobieren muss – ich habe Skifahren gelernt, Rollerbladen und ein paar andere Dinge. Auch in der Regie bin ich ja Anfängerin. Ich muss mich anpassen und neues Territorium erkunden. Ich glaube, das ist wichtig. Für mich war es jedenfalls sehr wichtig.

Was gefällt Ihnen an der Regiearbeit?
Ich mag, dass ich als Regisseurin Geschichten erzählen kann, die ich noch nicht gesehen habe. Auch "Mother Mara" ist die Geschichte einer Person, wie wir sie uns aus Filmen nicht gewohnt sind. Ich dachte auch, es könnte eine Geschichte sein, die ein bisschen schockiert. Ich mag es, das Publikum zu provozieren – auf jedwede Art. (lacht)

Weil Sie damit eine Veränderung anstossen könnten?
Ja, wenn du Leute zu einer Reaktion provozierst, veränderst du sie.

Die Provokation bei "Mother Mara" ist die Affäre der älteren Protagonistin mit dem jungen Fitnesstrainer.
Genau.

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"Ich bin ebenfalls für meine Stärke bekannt, bin mutig. Und auch ich verstecke meine Schwäche"

Obendrauf beginnt diese Affäre, kurz nachdem ihr Sohn verstorben ist – nicht gerade die Reaktion, die sich die Gesellschaft von einer trauernden Mutter erwarten würde.
Nein, alle haben Erwartungen an Mara. Ihre Mutter, die Schwester, ihr Partner in der Anwaltskanzlei: alle wollen, dass sie sich öffnet, weint und gebrochen ist. Und sie ist gebrochen, aber innerlich. Sie will es einfach nicht zeigen.

Gegenüber dem jungen Liebhaber öffnet sie sich aber. Warum?
Er durchschaut ihre kontrollierte Fassade. Als Mara das versteht, beginnt sie, sich selbst zu befreien und als Person zu sehen, die weitermachen kann. Es ist die Beziehung zu diesem jungen Mann, die sie ins Leben zurückholt. So sehe ich das jedenfalls.

Es geht also nicht wirklich um Sex?
Nein. Es gibt zwar Sex, aber ich denke, es ist weit komplexer als das.

Mara ist alleinerziehend, gleichzeitig eine sehr erfolgreiche Karrierefrau. Sie spielen auffallend oft starke Frauenfiguren, die alles zusammenhalten müssen, aber einsam sind – bis die Fassade zu bröckeln beginnt. Erkennen Sie sich selbst in diesen Figuren wieder?
Ja, ich bin ebenfalls für meine Stärke bekannt, bin mutig und all das. Und auch ich verstecke meine Schwäche. Denn wenn ich vor den Leuten stark sein kann, dann habe ich zumindest das. Würde ich vor aller Augen zusammenbrechen, wüsste ich einfach nicht, wie ich wieder aufstehen und neu beginnen könnte. Das Starksein ist eine Fassade, eine Art System, das du aufbaust und an das du dich hängst.

Warum wollten Sie eigentlich Schauspielerin werden? Also ganz am Anfang: Wie kam das?
Oh! Das ist so, so lange her … (überlegt einen Moment) Als ich noch sehr jung war, wollte ich mein Talent finden, also habe ich vieles ausprobiert, verschiedene Sportarten, Musikinstrumente, Gedichteschreiben. Im Kindertheater-Club spürte ich dann: "Hier will ich sein. Ich bin gern auf der Bühne."

Was hat Ihnen daran gefallen?
Ich war ein Einzelkind, meine Eltern waren arm und arbeiteten beide ganztags. Dazu war ich kein wirklich attraktives Kind; kein "sweet little girl", kein Püppi. Damit meine ich: Auch mit meinem Aussehen habe ich nie Aufmerksamkeit auf mich gezogen – also wollte ich auf eine andere Art Aufmerksamkeit bekommen. Und auf dieser Kindertheater-Bühne fühlte ich mich gesehen. Ich hatte das Gefühl, dass ich ausdrücken konnte, was in mir vorgeht, und das war so aufregend! Schauspiel zu studieren, war dann einfach logisch für mich.

Die Schauspielerei gilt als Knochenjob. Was hielt Sie am Ball?
Es war etwas tief in mir drin. Ich brauchte es wie Nahrung. Wie etwas, das für das Leben unerlässlich ist. Mir war entsprechend auch egal, wo ich spielte. Ich wollte gute Stücke und gute Rollen spielen, aber ich träumte nie von einem Engagement am Nationaltheater oder etwas Riesigem. Ich wollte einfach spielen. Also ging ich überallhin, trat in Kellerräumen auf, gründete Theatergruppen.

"Sobald du beginnst, traditionelle Denkweisen zu hinterfragen, macht sich unter den Leuten Unbehagen breit. Ich will diese Art zu denken herausfordern"

Sie beschreiben die Regie als Möglichkeit, Geschichten sichtbar zu machen, und die Schauspielerei als Ort, wo Sie ausdrücken können, was in Ihnen vorgeht. Hilft Ihnen Ihre Arbeit beim Verarbeiten schwieriger Gefühle? Wirkt sie – wie man öfter von Kunstschaffenden hört – therapeutisch?
Ja, manchmal ist es eine Art Therapie. Meistens ist es das aber nicht. Für mich ist die Schauspielerei ein Weg, das Unbekannte zu entdecken – nicht nur in mir selbst, sondern in den Menschen ganz allgemein, und in der Welt. Theaterstücke und Filme, in denen ich spielte, inspirierten mich oft dazu, anders über Dinge nachzudenken oder Neues zu entdecken.

Im besten Fall hat ein guter Film beim Publikum einen ähnlichen Effekt. Was erhoffen Sie sich diesbezüglich von "Mother Mara"?
Ich bin sehr gespannt auf die Reaktionen im Balkan, weil die Provokation dort besonders stark ist. Wir sind immer noch eine patriarchale Gesellschaft und sobald du beginnst, traditionelle Denkweisen zu hinterfragen, macht sich unter den Leuten Unbehagen breit. Ich will diese Art zu denken herausfordern, weil ich glaube, dass es an der Zeit ist, die Welt aus einer anderen Perspektive zu betrachten und unser Denken aufzufrischen.

Glauben Sie, dass man vor Ort sein muss, um einen Wandel zu bewirken?
Nicht unbedingt, nein. Vielleicht manchmal, um auf politischer Ebene etwas zu bewegen. Ich versuche, im Balkan so viel zu tun, wie ich kann, weil diese Art Wandel sehr langsam geht. Man kann niemandem befehlen, anders zu denken. Man muss die Dinge erklären und die Leute dazu bringen, selbst zu erkennen, warum etwas falsch ist.

Was fürchten Sie im Moment am meisten in der Welt?
Ich habe nicht die eine, dominante Angst, eher kleine Ängste, die nicht so wichtig sind. Aber weil ich heute die Nachrichten gelesen habe: In meinem Land werden so viele Frauen von ihren Ehemännern, Partnern, Geliebten, Ex-Partnern ermordet – derzeit sind es eher Massenmorde, regelrechte Massaker, ausgehend von Männern, die offenkundig schwerwiegende psychische Probleme haben. Ich fürchte, es sind die Konsequenzen des Krieges. Wir brauchen einen ernsthaften Plan, wie wir Menschen mit psychischen Problemen nicht nur heilen, sondern auch resozialisieren können.

Sie arbeiten bereits an Ihrem nächsten Film: Es soll eine lesbische Liebesgeschichte werden. Eine weitere Provokation für das Patriarchat in Ihrem Land?
Ich sehe es eigentlich einfach als einen Liebesfilm. Aber die Leute in meinem Land haben grosse Angst vor lesbischen, queeren und trans Menschen – sie glauben, dass es eine Krankheit, abnormal oder etwas Satanisches ist. Also wollte ich einen Film machen, in dem die Leute sehen, dass lesbische Liebe nur Liebe ist, nichts anderes. Ich will, dass sie Empathie empfinden. Dazu ist Liebe für mich auch einfach das grösste Gefühl überhaupt, aber heute gibt es so viel Urteil und Hass. Die Leute sind so verschlossen, haben Angst, der Welt zu zeigen, wer sie sind. Auch deshalb mache ich einen Liebesfilm. Ein Melodrama! (lacht)

"Mother Mara" ist ab 20. März im Kino zu sehen. Vorpremieren in Anwesenheit von Mirjana Karanović finden Montag, 10. März, im Zürcher Kino Riffraff und Dienstag, 11. März, im Kino Rex in Bern statt. In Zürich wird zudem Co-Produzentin Andrea Štaka anwesend sein.

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