
Charlotte Le Bon spielt Niki de Saint Phalle: "Niki hat versucht, das Loch in ihrer Seele mit Kunst zu füllen"
Sie ist Schauspielerin, Model, Regisseurin, Künstlerin und für immer Cool Girl. Jetzt spielt Charlotte Le Bon die fantastische Niki de Saint Phalle im neuen Biopic "Niki".
- Von: Mariam Schaghaghi
- Bild: Arthur Herve Endhart
Keine schlechte Erfolgsbilanz: Die Kanadierin Charlotte Le Bon spielte die Muse Victoire Doutreleau im Biopic "Yves Saint Laurent", die Köchin Marguérite in "Madame Mallory und der Duft von Curry", die schöne Ophelia in "Asterix und Obelix: Im Auftrag Ihrer Majestät" – und nun vielleicht die Rolle ihres Lebens, als Künstlerin Niki de Saint Phalle im Biopic "Niki".
Als ob das nicht genug wäre, wechselte sie auch hinter die Kamera und nimmt als Filmregisseurin die kreativen Zügel in die Hand. Und ist als Model, Malerin, Bildhauerin und Fotografin aktiv. Bei unserem Gespräch in einem versteckten Loft in Cannes trägt sie Mikro-Shorts, Chanel-Jäckchen und dicke Socken zu Birkenstocks.
annabelle: Charlotte Le Bon, Schweizer:innen lieben Niki de Saint Phalle – nicht nur wegen der Schutzengel-Nana im Zürcher Hauptbahnhof oder ihrer Liebe zum Bildhauer Jean Tinguely, mit dem sie in den Sechzigern das It-Couple der Kunst bildete. Die knallbunten, üppigen Nanas mögen suggerieren, dass die Künstlerin ein glücklicher, ausgeglichener Mensch war. Aber jetzt erzählen Sie in "Niki" eine ganz andere Geschichte …
Charlotte Le Bon: Ja, Niki de Saint-Phalle hat furchterregende Dinge in ihrer Kindheit erlebt und wurde zeitlebens von ihren inneren Dämonen verfolgt. Mit Hilfe der Kunst schaffte sie es zwar nicht, sich ganz zu heilen, aber sie fand doch ein wenig Beruhigung. Es ist auch die Geschichte einer Frau, die eine sehr selbstbewusste Entscheidung traf. Und das in den Fünfzigerjahren, einer Zeit, in der es als Frau fast unmöglich war, für sich und sein eigenes Leben einzustehen: Nachdem sie geheiratet und zwei Kinder bekommen hatte, beschloss sie, ihre Familie zu verlassen, um ihrer Karriere als Künstlerin nachzugehen.
Was führte zu diesem radikalen Schnitt?
Ich glaube, sie wäre sonst ganz einfach gestorben. Sie brauchte die Kunst, um zu überleben. Das ist natürlich ein Tabuthema.
Sie sind selbst Künstlerin. Hat Niki de Saint Phalle Sie auch künstlerisch beeindruckt?
Was mich an ihrer Kunst beeindruckt, ist die Grandiosität, die Pracht: Alles, was man von ihr kennt, ist riesig, springt einem direkt ins Auge und drängt sich auf, gerade ihre üppigen, übergrossen Nanas! Mir kommt es vor, als habe Niki de Saint Phalle vor nichts Angst gehabt, als sei sie ein tapferer Ritter gewesen, der sich für die Kunst in die Schlacht stürzte, eine Jeanne d’Arc der Kreativität. Das ist mindestens so sexy wie ihre mythischen Superfiguren. Ich nähere mich der Kunst auf andere Weise. Meine Arbeit hat etwas Intimes, ich mache eher kleinere Dinge. Aber gerade deswegen hat sie mich so angezogen.
"Ich hätte tausend Fragen an Niki de Saint Phalle!"
Hätten Sie sie treffen können, was hätten Sie gern gefragt?
Ich hätte tausend Fragen an sie! Gerade weil sie als Frau der Fünfziger- und Sechzigerjahre ihre Familie verliess, um sich der Kunst zu widmen. Alles an ihrem Leben ist bewegend. Ihr Triumph als Künstlerin, aber auch das Trauma des Inzests (in ihren Memoiren "Mon secret" schilderte Niki de Saint Phalle die Vergewaltigung durch ihren Vater im Alter von elf Jahren, Anm. d. Red.). Niki hat versucht, das Loch in ihrer Seele mit Kunst zu füllen. Dazu schuf sie diese kraftvollen Figuren mit Farben und Kurven. Eigentlich fröhliche Monster.
Sie scheinen selbst auch ein glühender Fan geworden zu sein, eine Jeanne d’Arc für Niki de Saint Phalle. Hat dieser Film sich so tief in Ihre Seele gegraben?
Ja, er ist wohl der wichtigste Film meiner Karriere. Der beste. Solche Rollen bekommt man nicht sehr oft im Leben. Ich weiss nicht, was meine nächste Herausforderung sein wird. Aber nachdem ich meinen ersten eigenen Spielfilm inszeniert hatte, war ich überzeugt, dass ich nicht mehr spielen würde, weil mich die Regie viel mehr fasziniert. Aber diese Rolle konnte ich nicht ablehnen, weil sie so dicht, so schön, so komplex ist. Danach kam mir alles andere erstmal langweilig vor.
Was geht in Ihnen vor, wenn Sie "Action" rufen, am Monitor stehen und Schauspieler:innen beobachten?
Das Regieführen war wie eine Offenbarung für mich. Viele fangen das Filmemachen an, um die eigene Karriere zu sichern – für mich war es eine Notwendigkeit. Es ist mein Lieblingsjob, weil er alles vereint, was ich machen möchte. Ich liebe die Entstehung der Bilder, die Teamarbeit, das Spiel mit den Schauspieler:innen. Und dann mag ich auch die Tatsache, dass man sich Zeit nehmen und die Arbeit bis zur letzten Minute polieren kann, um sicherzustellen, dass es absolut perfekt ist. Mein erster eigener Film als Regisseurin war vor fünf Jahren "Falcon Lake". Es ist eine Coming-of-Age-Story, in der es um einen Jungen geht, der an einem entlegenen See lebt, ähnlich wie ich.
Spielt Ihre Heimat Quebec eine grosse Rolle in Ihrem Film?
Ja, denn gedreht habe ich in der Ecke, die mir selbst am vertrautesten ist, an einem See in den Laurentinischen Bergen, eine Stunde von Montreal entfernt. Ich habe mir vor sechs Jahren ein kleines Haus dort gekauft, das einsam am Wasser liegt, umgeben von Wald. Gerade, wenn ich viel gearbeitet habe, zieht es mich dorthin. Dieses Häuschen am See ist meine Zuflucht und mein Heiligtum.
"Ich genoss es, Einzelkind zu sein"
Dort laden Sie Ihre Batterien auf?
Die Landschaft bringt meine Sensibilität zum Schwingen. Für mich beginnt Kunst mit dem Intimsten, Unmittelbarsten. Der Ort erinnert mich an meine Teenagerjahre, die ich fast ausschliesslich draussen im Wald verbrachte. Ich war ein echtes Naturkind.
Was prägte Sie in jungen Jahren?
Dass ich Einzelkind bin. Meine Eltern und ich waren immer zu dritt, genossen unsere Dreisamkeit. Beim Abendessen redeten und redeten wir, stundenlang. Sie sind beide Künstler:innen, beide Schauspieler:innen. Ich hing also viel mit Erwachsenen ab, unterhielt mich mit ihnen und durfte sogar bei ihren Partys dabei sein. Das alles tut der Erziehung gut, davon bin ich überzeugt. Ich fühlte mich immer gesehen und verstanden. Es hat mich schneller erwachsen werden lassen, aber auf eine gute Art und Weise.
Ist die Natur eine Art Religion für Sie?
Gläubig bin ich nicht. Aber dafür besessen von Gespenstern. Die kommen auch häufig in meinen Malereien vor, sogar auf meinen Fotos.
Woher rührt die Faszination für Geister?
Ich mag die Vorstellung, dass wir nicht in der Lage sind, alles zu erklären. Dass es eine unsichtbare Welt gibt, die ständig da ist und manchmal in unserem Leben Einzug hält. Ich habe schon in sehr jungen Jahren den Tod romantisiert. Mein nächster Film basiert auf der Geschichte eines guten Freundes von mir, der drei Monate lang in einer Wohnung in Quebec City lebte, in der es spukte. Es gibt nämlich auch Geister, die etwas weniger nett sind.
Im Kino: "Niki" von Céline Sallette