Filmemacher Moris Freiburghaus und Musiker Dino Brandão: "Wir wollen eine Diskussion über psychische Erkrankungen anstossen"
Regisseur Moris Freiburghaus folgt in "I Love You, I Leave You" dem Verlauf einer manischen Episode seines Freundes Dino Brandão. Im Gespräch erklären die beiden, warum ihr prämierter Dokfilm eine Ode an Nächstenliebe und Pflegefachkräfte, aber auch ein Appell an die Gesellschaft ist.
- Von: Melanie Biedermann
- Bild: Flavio Leone
annabelle: Moris und Dino, wann war Ihnen klar, dass Sie Freunde werden?
Dino Brandão: Ich weiss noch, wie wir mit einigen Skater-Freunden im Ausgang waren und beschlossen, am nächsten Tag alle zusammen den Zug nach Milano zu nehmen. Etwa zehn Leute hatten zugesagt, aber am Bahnhof waren dann nur Moris und ich.
Sind Sie trotzdem nach Mailand gefahren?
Dino Brandão: Ja, wir gingen zu zweit. Und dann haben wir uns verliebt! (lacht) Bis dahin hatte ich diese Art von Männerfreundschaft noch nicht erlebt. Wir haben dann auch angefangen, einander zu filmen und haben saugute Skate-Tricks aufgenommen.
Es blieb nicht bei Rollbrett-Tricks und ging bald sehr viel tiefer. 2013 veröffentlichten Sie gemeinsam den Kurzfilm «Paradox», inspiriert von einer ersten Psychose, die Sie, Dino, damals erlebt hatten. Wie kam es dazu?
Moris Freiburghaus: Dino ist damals über einen Zeitraum von fünf bis sechs Monaten langsam in eine erste manische Episode gerutscht. Seine Eltern waren zum Zeitpunkt, als es eskalierte, beide nicht da, was dazu führte, dass ich ihn das erste Mal in die Klinik begleitet habe. Und ähnlich wie jetzt wieder bei «I Love You, I Leave You» hat Dino den ersten Impuls gegeben, einen Film darüber machen zu wollen. Ich hätte das nicht von mir aus gemacht.
Was hat Sie überzeugt?
Moris Freiburghaus: Der Film gab mir eine Möglichkeit, etwas, das derart konfus ist, zu verarbeiten. Und ich glaube, das war damals wertvoll für uns beide. Es hat den Grundstein dafür gelegt, dass wir das jetzt wieder tun konnten.
Moris Freiburghaus"Dass so schnell wieder eine manische Episode kommen würde, war eine riesige Überraschung für alle"
«Paradox» erzählte eine fiktive Geschichte. «I Love You, I Leave You» folgt nun ebenfalls einer manischen Episode. Dieses Mal haben Sie das Erlebte allerdings dokumentarisch, also quasi in Echtzeit begleitet. Eine bewusste Entscheidung?
Dino Brandão: Wir sind beide sehr intuitive Menschen und Kunstschaffende. Und ich habe mich im psychotischen Zustand selbst gefühlt, wie in einem Film. Es war unklar, wer Regie führt: ob ich das selbst bin oder jemand anders. In dieser Zeit habe ich Moris eine SMS geschrieben: «Paradox 2?» Das war der Startschuss. Diesem Impuls gingen wir beide dann aber erstmal auf unterschiedliche Weise nach.
Inwiefern unterschiedlich?
Dino Brandão: Wenn es nach mir gegangen wäre, wäre Moris direkt mit der Kamera in die Psychiatrie gekommen. Das darf man natürlich nicht und wäre auch überstürzt gewesen. Ich habe stattdessen viel mit dem Handy gefilmt, das war erlaubt, solange niemand ausser mir zu sehen war. Und Moris hat viel geschrieben.
Moris Freiburghaus: Die dokumentarische Form war für mich auch ein Einstieg in den Arbeitsprozess. Eigentlich wollten wir die Geschichte dann rückwirkend erzählen, mit Interviews, Klinik-Protokollen und Sprachnachrichten. Aber dann wurden wir von einer weiteren Episode überrascht.
Der Film handelt also nicht von der Episode, die den Impuls für den Film gab, sondern von einer weiteren?
Moris Freiburghaus: Ja, dass so schnell wieder eine kommen würde, war eine riesige Überraschung für alle – auch die Angehörigen. Wir haben dann nur noch reagiert, auch filmisch.
Was führte zum Entschluss, die Aufnahmen aus dieser Zeit auch tatsächlich für den Film zu nutzen?
Moris Freiburghaus: Wir dachten, uns zu offenbaren könnte helfen, die Diskussion anzuregen. Das war ein gemeinsames Bedürfnis von Dino und mir, weil es auch sehr darum geht, Dinge zu entstigmatisieren.
Moris Freiburghaus"Es hat mir Kraft gegeben, zu spüren, wie Menschen füreinander da sein können"
Die Umsetzung eines solchen Drehs muss aber doch enorm herausfordernd sein: Wie koordiniert man Filmaufnahmen, während man versucht, seinen Freund in einer akuten Notlage zu unterstützen?
Moris Freiburghaus: Ich habe keine Ahnung, wie das möglich war. Ich kam definitiv an meine Grenzen. Aber, ob filmen oder nicht: In so einer Situation ein Angehöriger zu sein ist an sich schon eine Grenzerfahrung.
Was hat Sie in solchen Momenten getragen?
Moris Freiburghaus: Wie auch Dino habe ich das Glück, ein grosses Netzwerk an Menschen zu haben, die mich unterstützen: die mir zugehört haben, mich in den Arm genommen oder mir etwas gekocht haben. Auch das Personal in Spitälern und die Pflegenden waren eine grosse Stütze. Es hat mir Kraft gegeben, zu spüren, wie Menschen füreinander da sein können. (Dino Brandão nickt)
Dino Brandão"Für mich war der Film auch eine Art Anker in die Realität"
Hatten Sie irgendwelche Abmachungen für den Fall, dass es mit dem Film zu viel werden würde? Dino, gerade auch für Sie, weil sie ja teils in hochpsychotischen Momenten zu sehen sind.
Dino Brandão: Wir sind es ja gewohnt, uns gegenseitig zu filmen. Das tun wir schon seit unseren ersten Skateboard-Filmen. Wir hatten aber ein Code-Wort: «foif», also fünf. Wenn ich in diesen hochpsychotischen Momenten zu sehr abgedriftet bin, konnte man das sagen und alle, die dort waren, mussten dann auch «foif» sagen. Das war ein kleiner Trick, um mich zurückzuholen.
Moris Freiburghaus: Dino und ich sind geübt, auch in psychotischen Situationen miteinander umzugehen. Aber ja, es war ein absoluter Grenzgang – auch grenzwertig. Durch das Vertrauen, das in den letzten 20 Jahren aufgebaut wurde, war es möglich. Was meinst du, Dino?
Dino Brandão: Total. Für mich war der Film auch eine Art Anker in die Realität. Das Kreativschaffen in einer Depression ist etwas wahnsinnig Schwieriges. In einer Manie hat man zwar das Gefühl, man arbeite die ganze Zeit, aber ein Grossteil davon ist am Ende schwierig zu verwerten. Und der Film war etwas, bei dem ich, egal, in welchem Zustand, irgendwie dabei war. Darum gab es für mich auch sehr wenig Zweifel am Projekt. Auch wenn ich immer wusste, dass es ethisch etwas ganz Komplexes ist und wir nicht wissen konnten, ob etwa das Sichten des Materials retraumatisierend auf mich wirken könnte – was dann auch passiert ist.
Sehen Sie bestimmte Dinge heute klarer als vor dem Film?
Dino Brandão: Beim Thema Polizeigewalt habe ich für mich gemerkt: Da bin ich gar nicht im Frieden. Das sind Erfahrungen, die ganz schwierig waren und mir noch immer in den Knochen sitzen. Und ich möchte eigentlich darüber reden, merke aber, wie es mir die Brust zuschnürt, und wie tief im Körper noch Verletzungen festhängen, die – bei aller Liebe für die viele Therapie, die ich schon hinter mir habe – immer noch nicht verheilt sind.
Es sind auch grosse Brocken, die Sie da zu verarbeiten haben.
Dino Brandão: Ja, es braucht Zeit und wir sind noch mitten im Prozess. Die Premiere in Zürich war sehr emotional. Wir dachten, wir hätten danach eine Pause, aber seither fühlt es sich an, als ob wir in einem Schnellzug sässen (lacht). Aber ich fühle mich gerade an einem guten, richtigen und wichtigen Ort.
Moris Freiburghaus: Und das Schöne ist, dass wir zu zweit in diesem Schnellzug sitzen. Wenn jemand von uns mit der Situation überfordert ist, kann der andere aushelfen. Dieses Zusammensein wieder zu spüren, fühlt sich gerade sehr schön an. Und: wieder auf Augenhöhe zu sein. – Es klingt so blöd. Macht das Sinn?
Dino Brandão: Ja, sehr!
Moris, Sie haben während des Drehs und den Akutphasen der Manie viel Verantwortung übernommen. Verschiebt sich da auch das Beziehungsverhältnis in der Freundschaft?
Moris Freiburghaus: Es ist schon so, dass in einer akut psychotischen Phase eine gewisse Bevormundung und Verschiebung stattfindet. Der Film ermöglichte mir in gewisser Weise, mit verschiedenen Versionen von Dino zu kommunizieren. All das war sehr schwierig, verbal zu vermitteln, und der Film hat geholfen, auch ein gewisses Verständnis für meine Perspektive zu schaffen. Und wenn ich dich jetzt reden höre, Dino, haben sich auch Haltungen in dir verändert.
Dino Brandão: Absolut. Wenn man Momente von Realitätsverlust erlebt, ist nachher überhaupt nichts mehr klar. Für mich hat der Film dem Ganzen eine Form gegeben und aufgeräumt. Ich glaube, wir haben auch gelernt, unser Vokabular nochmal zu schärfen und gewisse Dinge zu benennen.
Würden Sie sagen, dass Ihr Umgang mit der Krankheit durch diese intensive Auseinandersetzung auch besser oder vielleicht sogar einfacher wurde? Oder ist das Wunschdenken?
Moris Freiburghaus: Ich glaube schon, dass man dazulernen kann, nur wird ein grosser Teil des Ganzen gar nicht vom Handeln von Dino und mir beeinflusst, sondern von der Gesellschaft. Das ist auch das, was manchmal frustriert.
Dino Brandão: Man versteht, dass es systemische Probleme gibt – Polizeigewalt, Personalmangel in der Psychiatrie, Geldthemen: all diese Dinge spielen zusammen. Da tut sich nur sehr langsam etwas, und im allerbesten Fall kann der Film helfen, dass es in diesen Belangen etwas vorwärtsgeht.
Sie erwähnten bereits, dass Ihnen auch die Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen am Herzen liegt. Mit dem Kinostart stehen jetzt neue Publikumsgespräche bevor. Gibt es konkrete Diskussionen, die Sie in der Öffentlichkeit anstossen wollen?
Moris Freiburghaus: Ich glaube für mich ist es extrem wichtig, dass die Gesellschaft Verantwortung übernimmt und die Politik den Pflegenotstand ernst nimmt. Der Film spricht das zwar nicht direkt an, aber ich will auch dem Pflegepersonal – all diesen Menschen, die tagtäglich in Auseinandersetzung mit psychisch kranken Menschen sind und abgesehen von meinen Freund:innen auch für mich als Angehörigen am meisten da waren, ein Dankeschön zurückgeben. Ich hoffe, dass die Gesellschaft ein gewisses Bewusstsein für die Leute bekommt, die in diesem Bereich arbeiten.
Dino Brandão: Absolut. Wir sind so wunderbaren, tollen Menschen begegnet, die teilweise nach drei, vier Jahren im Job schon auf dem Absprung sind, weil sie derart überlastet sind. Die Fluktuation ist leider viel zu hoch, als dass die Psychiatrie noch wirklich funktionieren könnte.
«I Love You, I Leave You» ist ab 6.11. in den Schweizer Kinos zu sehen.
Vorstellungen mit Publikumsgesprächen: 6.11., St. Gallen, Kinok, 7.11., Aarau, Freier Film Aarau, 8.11., Biel, Filmpodium, 12.11., Winterthur, Kino Cameo, 16.11., Baden, Royal, 20.11., Basel, Stadtkino, 30.11., 4.12., Liestal, Landkino
Am 7.11. erscheint zudem der Soundtrack zum Film, Dino Brandãos neues Album «I Love You, I Leave You» (Two Gentlemen). Konzerte: 13.11., Korso, Fribourg, 25.+26.11., Helsinki, Zürich.
Gemäss der Stiftung Pro Mente Sana erlebt jede zweite Person im Laufe des Lebens einmal eine psychische Erkrankung. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir als direkt oder indirekt Betroffene psychiatrische Dienste in Anspruch nehmen müssen, ist entsprechend hoch.
Machst du dir Sorgen um deine psychische Gesundheit, willst mit jemandem reden oder kennst du Betroffene, die Hilfe benötigen? Hier findest du Hilfe:
Erwachsene können über die Telefonnummer 143 die Dargebotene Hand kontaktieren oder finden Hilfestellung auf der Website 143.ch. Die Angebote sind vertraulich und kostenlos.
Crisis support in English: heart2heart.143.ch
Für Kinder und Jugendliche: Telefon 147, auch per SMS, Chat, E-Mail oder im Internet unter 147.ch