
Jehnny Beth über ihr neues Album: "Die Welt bricht uns das Herz!"
Jehnny Beth vermittelt seit zwanzig Jahren zwischen Punk und Popkultur. Auf ihrem neuen Album seziert sie das Leiden an der Liebe.
- Von: Melanie Biedermann
- Johnny Hostile
Nichts ist, wie es scheint. Schon gar nicht bei Jehnny Beth. Es ist ein heisser Augustnachmittag in London und die französische Musikerin und Schauspielerin ist in der Stadt, um ihr neues Album vorzustellen – ein Umstand, den man leicht vergessen könnte, denn die Vierzigjährige spricht mit der Wärme und Neugier einer guten Freundin, die man lange nicht gesehen hat: Sie stellt Fragen, hakt interessiert nach, lacht oft und herzlich.
Doch tatsächlich sitzen wir im Konferenzraum ihres Londoner Musiklabels Fiction Records und die Erstpressungen von «You Heartbreaker, You» stapeln sich direkt neben ihr – Beth greift sich ein Exemplar und zieht aufgeregt eine der Platten im schwarz-weissen Splatter-Design heraus: «Die sind richtig cool geworden», freut sie sich – «richtig cool»: Wie eigentlich alles, was mit Jehnny Beth in Verbindung gebracht wird.
Ihre Karriere begann Mitte der Nullerjahre mit dem Indie-Duo John & Jehn. Von 2011 bis 2017 führte sie als Leadsängerin der Savages eine der aufregendsten Rockformationen der jüngeren Musikgeschichte an. 2020 veröffentlichte sie ihr gefeiertes Solodebüt «To Love Is to Live» samt einem Band erotischer Kurzgeschichten mit dem Titel «C.A.L.M. (Crimes Against Love Memories)».
Mit ihrem androgynen Look und charismatischen Live-Performances zog Jehnny Beth seit jeher Kollaborationen aus verschiedensten Szenen an, darunter mit Schauspieler Cillian Murphy oder Modelabels wie Alexander McQueen und Gucci. 2021 veröffentlichte Beth gemeinsam mit Primal-Scream-Sänger Bobby Gillespie das Album «Utopian Ashes», seither war sie vermehrt in Film- und Fernsehproduktionen zu sehen, zuletzt etwa in «Anatomie d’une chute» oder der Netflix-Miniserie «Hostage». Nebenbei moderiert sie ihre eigene Musiksendung auf Arte: «Echoes with Jehnny Beth».
Die Coolness ist dieser Frau wirklich nicht abzusprechen – auch heute nicht: Beth trägt ihren Signature-Look mit straff nach hinten gegeltem Haar, die Längen blondiert und zu Boxer Braids geflochten, dazu ein weites, bauchfreies T-Shirt und eine Cargohose im Army-Stil.
Nach 13 Jahren in London lebt sie inzwischen zwar wieder in Frankreich, aber man spürt schnell, dass sie ihrer alten Wahlheimat bis heute stark verbunden ist: «London ist meine Stadt. Ich kenne alle Ecken und die ganze Musikszene und habe viele Freund:innen hier. Paris ist aus musikalischer Sicht kein guter Ort für mich.» Mit der französischen Kultur habe sie sich ohnehin nie recht identifizieren können, mit Musik und Performance aber sehr wohl.
Als Tochter zweier Lehrpersonen wuchsen Jehnny Beth und ihre Schwester in einer französischen Mittelklassefamilie im katholisch geprägten Poitiers auf. Beths Vater gründete eine Theaterschule für Jugendliche und junge Erwachsene und sie selbst spielte dort unter anderem die Titelrolle in einer Produktion von Henrik Ibsens «Peer Gynt». Mit acht begann sie, Chet Baker und all die englischsprachigen Jazzstandards zu lernen.
Nach London ging sie erstmals mit 15. «Ich wollte so schnell wie möglich weg», sagt sie und lacht. «Ich glaube, als Künstler:in muss man sich von seinen Wurzeln lösen; man kann nicht gefallen wollen. Man muss etwas wagen.» Für sie jedenfalls sei das Leben als Musikerin immer das Versprechen von Abenteuer gewesen. «Und zum Glück hatte ich Johnny, wir wagten es gemeinsam.»
Der französische Musiker und Künstler Johnny Hostile ist seit dem gemeinsamen Umzug nach London eine Konstante in Beths Leben. Die beiden bezeichnen sich als Lebens- und Kreativpartner und so legten sie damals auch beide ihre französischen Namen ab – aus Nicolas Congé und Camille Berthomier wurden Johnny Hostile und Jehnny Beth: John & Jehn. Auch bei den Savages und Beths Solodebüt war Hostile als Produzent und kreativer Partner intensiv involviert. Und nach dem Ende der Savages gingen beide gemeinsam nach Paris. «You Heartbreaker, You» hat das Duo jetzt erstmals mehr oder minder zu zweit gestemmt.
«Johnny und ich haben über die Jahre mit so vielen Leuten kollaboriert; wir haben so viel gelernt und fanden, es sei an der Zeit, es endlich selbst in die Hand zu nehmen.» Sie bauten sich ein Studio südlich von Poitiers, Hostile schrieb die Musik, Beth die Texte, gemeinsam feilten sie an den Songs und entwickelten das Konzept. Statt wie früher nur partiell spielte Hostile nun alle Instrumente selbst ein und fotografierte alle Bilder für das Artwork, er designte sogar Kleider und bedruckte in einer kleinen Siebdruckwerkstatt eigenhändig T-Shirts, die Jehnny Beth nun in Musikvideos und bei Auftritten trägt. «Es ist alles sehr DIY und nahe am Punk-Ethos; Dinge, an die wir immer geglaubt haben.»
Die Rückbesinnung war willkommen, allerdings ging ihr eine tiefe Krise voraus, wie Jehnny Beth erzählt: «To Love Is to Live» erschien im Juni 2020 mitten im ersten grossen Beben der Pandemie. Erste Konzerte spielte sie noch vor den Lockdowns, aber nach zwei Shows war Schluss. «Wir hatten Fernsehauftritte geplant, eine Welttournee – nichts ging mehr. Ich veröffentlichte das Album im Grunde vom Wohnzimmer aus, nachdem ich vier Jahre lang daran gearbeitet hatte. Das brach mir das Herz.» Auf das logistische und finanzielle Desaster folgte eine lange Trauerphase: «Ich habe ein paar Jahre lang komplett dichtgemacht.» An neue Musik war nicht zu denken.
Der verstärkte Fokus auf die Schauspielerei ist eine Folge dieser Zeit. Regisseur Jacques Audiard hatte ihr noch im Pandemiejahr die Rolle in «Les Olympiades» angeboten. «Das brachte alles ins Laufen: Der Film ging nach Cannes, danach kam ‹Anatomie d’une chute› und jetzt geht es weiter.» Im Juni war Beth in einer Hauptrolle in «Différente» zu sehen, im Juli kam sie von einem Dreh aus Brasilien zurück und im Oktober beginnt die Arbeit an einem Film mit Adèle Exarchopoulos. «Ich bin sehr dankbar für all die Projekte. Es sind immer spannende Rollen und interessante Leute involviert.» Beth sieht in der Schauspielerei auch Parallelen zur Musik: «Wenn jemand am Set ‹Action› sagt, bin ich voll da. Das ist, wie wenn du auf die Bühne gehst. Wie Crowdsurfing oder Moshpits. All das bringt dich ganz ins Hier und Jetzt – das liebe ich.»
Crowdsurfing und Moshpits entfachten schliesslich auch Jehnny Beths Liebe zur Musik neu: Als Vorband von Queens of the Stone Age spielte sie 2023 einige Konzerte und Metal-Festivals. «Die Energie war perfekt – es war wie ein Weckruf.» Plötzlich wusste sie genau, was sie für ihr nächstes Album wollte. Und es ist gelungen: «You Heartbreaker, You» hat eine unmittelbare Energie, die wie ein Blitz einschlägt und wie ein Donnerwetter nachhallt. Die Musik ist laut und intensiv; inspiriert von Bands wie Quicksand, die in den Neunzigern den Sound der New Yorker Hardcore-Szene mit dem englischen Shoegaze im Stil von My Bloody Valentine mischten. Und auch die Themen sind konfrontativer als auf Beths früheren Alben. Es geht um Obsession, Gewalt, Selbstzweifel und auch Depression. Im Grunde aber geht es um unser Straucheln im Umgang mit intensiven Gefühlen, allen voran der Liebe.
«Ich glaube, wir wurden alle konditioniert, Eifersucht zu spüren, uns bedroht zu fühlen oder Angst zu haben.» Beth selbst ist seit jungen Jahren bisexuell und spricht offen über ihre Polygamie: «Wenn ich in einer heterosexuellen oder in einer lesbischen Beziehung bin, fühlt es sich immer an, als würde ich einen Teil von mir betrügen.» Sie sehe sich in dieser Hinsicht zwar als Freigeist, aber vor den Nebenwirkungen der Liebe sei auch sie nicht gefeit. Beth ist überzeugt: «Die Leute, die wir lieben, brechen uns das Herz. Die Welt bricht uns das Herz. Jedes Mal, wenn ich Nachrichten lese, bricht es mir das Herz.» Denn es ist ja simpel: «Wenn dein Herz offen ist, dann bricht es auch.» L
ässt sich dieses Dilemma denn wirklich nicht auflösen? Nun, im Song «Broken Rib» fand Beth dafür zumindest eine Metapher: «I learned to breathe with a broken rib», ich lernte mit einer gebrochenen Rippe zu atmen – man könnte auch sagen: Wir müssen lernen, mit dem gebrochenen Herzen zu leben. «Ich finde, darin steckt auch viel Zärtlichkeit. Wir können uns der Welt nicht entziehen. Wir müssen in ihr leben, sie lieben und versuchen, sie zu reparieren.» Auch Jehnny Beth hat also keine versöhnliche Antwort parat. Aber ihr gebrochenes Herz trägt sie heute stolzer denn je.
Jehnny Beth spielt am 20.10.2025 im Bad Bonn in Düdingen, und am 21.10.2025 im Bogen F in Zürich.