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Jennifer Egan – Goldstaub auf ihr Haupt

Kultur

Jennifer Egan – Goldstaub auf ihr Haupt

  • Text: Sacha VernaFoto: Pieter M. van Hattem/Vistalux

Ein Buch wie eine Achterbahnfahrt: Für den Roman «Der grössere Teil der Welt» hat die New Yorker Autorin Jennifer Egan den Pulitzer-Preis erhalten – völlig zu Recht.

Um zehn Uhr vormittags herrscht im «Olea», einem Tapas-Restaurant in Brooklyn, noch kein Betrieb. Die Kellnerin trocknet Gläser, und jemand hackt in der Küche heftig vor sich hin. «Im ‹Olea› wird man uns in Ruhe lassen», hatte Jennifer Egan am Telefon gesagt. «Ich mache in dem Lokal fast alle meine Interviews.» Sie wohnt nur ein paar Blocks entfernt, und Interviews hat sie in den vergangenen Monaten jede Menge geben müssen. Geben wollen.

Wenige Minuten nach zehn ist sie da. Grüne Strickmütze, grüne Strickjacke, rote Nase vom eiskalten New Yorker Winterwind. Keine Allüren. Sie bestellt Milchkaffee und ein türkisches Frühstück. Seit die 49-jährige Autorin für «Der grössere Teil der Welt» im letzten Jahr den renommierten Pulitzer-Preis gewonnen hat, wird sie von Medien und Publikum bestürmt wie nie zuvor in ihrer zwanzigjährigen Karriere. Soeben ist das Buch ins Deutsche übersetzt worden. «Dieser Roman ist die Chance meines Lebens», sagt Jennifer Egan. «Der Rummel zwingt mich zwar zu einer Schreibpause, aber ich wäre dumm, wenn ich nicht alles für den Erfolg des Buchs tun würde.» Schon immer sei es eines ihrer Ziele gewesen, auf der Bestsellerliste der «New York Times» zu landen, gesteht sie lächelnd und wärmt sich an der dampfenden Tasse, die die Kellnerin vor sie hinstellt. «Aber», fährt sie fort, «ich darf mich nicht daran gewöhnen, vom Publikum geliebt zu werden.» Ehrgeiz gepaart mit Wagemut ist eines von Jennifer Egans Markenzeichen. Literatur für die Massen – ja. Gefällige Kompromisse – nein. Deshalb liest sich keines ihrer Bücher wie das vorhergehende. Jedes neue ist erzählerisch noch innovativer als das davor. Das führt so weit, dass «Der grössere Teil der Welt» nicht einmal mehr eine eigentliche Handlung hat. «Damit mache ich es meinen Lesern nicht gerade leicht», räumt Jennifer Egan ein, «aber alles andere würde mich langweilen.»

Den Grundstein zum Roman legte sie ausgerechnet auf der Damentoilette eines Hotels. Eine vergessene Handtasche brachte Jennifer Egan auf die Idee für eine Erzählung über eine Kleptomanin namens Sasha. Bald darauf nahm Sashas Chef Gestalt an, ein Musikproduzent, der Goldstaub auf seinen Kaffee streut und sich statt Deodorant Insektenvernichter unter die Arme sprüht. Es folgten seine Ex-Frau, Kinder, Bekannte, Unbekannte, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – aus Nebenfiguren, die sich ihre eigene Geschichte eroberten, wuchs ein disparates Ganzes heran, bei dem sich Jennifer Egan an zwei Regeln hielt: Jedes Kapitel musste aus einer anderen Perspektive geschildert sein und sich in Form und Stil von allen anderen unterscheiden. Dieses vielstimmige Sammelsurium zusammenhängender Geschichten führt die Leserin von den Punkrock-Kreisen im San Francisco der Siebzigerjahre bis ins klimageschädigte
New York der nahen Zukunft. Es ist eine Achterbahnfahrt durch die verschiedenen Abschnitte im Leben von Figuren, zu der Bands den Soundtrack liefern. Packend, abenteuerlich – und unmöglich nachzuerzählen.

Während Abwechslung beim Schreiben für sie die Regel ist, wäre Jennifer Egan im Alltag ein bisschen mehr Gleichförmigkeit durchaus willkommen. Bloss wissen das ihre zwei Söhne zu verhindern. Jennifer Egans Mann leitet eine kleine Theatergruppe. Gemeinsam versucht das Paar, den Jungs – der eine ist acht, der andere zehn Jahre alt – nicht das Klischee vom chaotischen Künstlerhaushalt vorzuleben, sondern eine unspiessige Version von «home, sweet home». Sie habe stets eine Mutter sein wollen, die viel mit ihren Kindern zusammen ist, sagt Jennifer Egan. Dafür bezahlt sie allerdings einen Preis: «Ich habe immer das Gefühl, zu wenig Zeit zu haben.»

“Ich darf mich nicht daran gewöhnen, vom Publikum geliebt zu werden”

Die Stunden, die sie sich täglich fürs Schreiben reserviert, empfindet sie als eine Art Zeitoder Raumkapseln, die sie in eine Welt verfrachten, die nicht die ihre ist. Die eigene Biografie hält sie
bewusst aus ihren Büchern heraus. Sie liebe ihr Leben, sagt sie, «aber ich will es nicht zweimal leben».

Auch in «Der grössere Teil der Welt» geht es letztlich um das Thema Zeit, «darum, was Zeit bei den Menschen anrichtet», sagt Jennifer Egan und schiebt sich ein Stück Pita-Brot in den Mund. Rührei, Auberginen, Kräuterjoghurt – das türkische Frühstück schmeckt ihr sichtlich. An ihr selbst ist die Zeit, zumindest äusserlich, scheinbar spurlos vorbeigegangen. Sie sieht so jung, blond und blauäugig aus wie auf Fotos, die vor Jahren aufgenommen worden sind. Kommt hinzu, dass Jennifer Egan fast schon unheimlich nett ist. Man kann sich zwar vorstellen, dass sie ihre beruflichen Ziele bisweilen knallhart verfolgt. Doch negative Vorurteile zerfliessen angesichts ihres Charmes wie Butter.

Die Rolle der vergeistigten Schriftstellerin ist ihr fremd. Davor bewahrt sie auch ihre journalistische Arbeit. Jennifer Egan hat neben ihren viel beachteten Büchern auch preisgekrönte Artikel für das «New York Times Magazine» verfasst: zum Beispiel über manisch-depressive Kinder und das Doppelleben homosexueller Jugendlicher im Internet. «Müsste ich zwischen Literatur und Journalismus wählen, würde ich mich für die Literatur entscheiden», sagt sie. Aber das journalistische Schreiben würde ihr fehlen. Besonders fasziniert sie die Macht der neuen Medien, dieses Paralleluniversum, in dem jeder sein kann, wer er will. Im virtuellen Raum gehen Fiktion und Wirklichkeit ganz ohne ihr Zutun ineinander über.

Inzwischen hat sich das «Olea» gefüllt. Jennifer Egan spricht lebhaft und ungekünstelt, sie präzisiert, lacht, gestikuliert. Keinen Moment kommt der Eindruck auf, die medienerfahrene Schriftstellerin weiche wie andere Prominente auf die immer gleichen Antworten aus. Als Nächstes will sie sich eine Altlast vom Hals schaffen. Seit Jahren schon arbeitet sie an einem historischen Roman über die Frauen, die während des Zweiten Weltkriegs für die Marine gearbeitet haben. «Die Leistung dieser Frauen ist von der Geschichte bisher völlig ignoriert worden», sagt Jennifer Egan. Recherchiert hat sie bereits ausgiebig. Zu erwarten ist von ihr – natürlich – kein konventionelles Es-war-einmal-Vehikel.

Die Ungekünstelte


Jennifer Egan wurde 1962 in Chicago geboren, wuchs in San Francisco auf und studierte in Pennsylvania und Cambridge englische Sprache und Literatur. In New York hielt sie sich mit verschiedenen Bürojobs über Wasser, bis sie 1993 mit dem Erzählungsband «Emerald City» ihr viel beachtetes Debüt lieferte. Darauf folgten «Die Farbe der Erinnerung» (1999 mit Cameron Diaz als politisches Drama verfilmt) und der Roman «Look at Me», in dem sie gleichsam prophetisch die Anschläge auf das World Trade Center und den Boom der sozialen Netzwerke vorwegdachte. «Der grössere Teil der Welt» soll fürs Fernsehen adaptiert werden. Jennifer Egan lebt mit ihrem Mann und den zwei Söhnen in Brooklyn, New York.

Jennifer Egan: Der grössere Teil der Welt. Aus dem Amerikanischen von Heide Zeltmann, Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2012, 386 Seiten, ca. 35 Franken, ab 15. Februar im Handel