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Krebs zu Weihnachten? Kate Winslet traut sich mit ihrem Regiedebüt

Krebs zu Weihnachten? Kate Winslet traut sich mit ihrem Regiedebüt "Goodbye June" etwas

Kate Winslet führt erstmals Regie und was nach Weihnachtsfilm aussieht, geht in Wirklichkeit viel tiefer.

Was zum Teufel soll das, Kate Winslet? Da drehst du deinen ersten Film als Regisseurin und schon nach dem Trailer will man am liebsten in Embryonalhaltung in ein Erdloch abtauchen? Ein Krebsdrama pünktlich zu Heiligabend – entzündete Beine, Palliativstation und Tod inklusive, dein Ernst?

Zugegeben, starbesetzt und schauspielerisch durchweg grandios, aber eben ganz weit weg von jeglichem Hollywoodglam und Puderzuckerlandschaften. Mit einer von der Chemo gezeichneten June (Helen Mirren), der kurz vor Weihnachten eröffnet wird, dass sie nur noch wenige Tage zu leben hat. Dem überforderten Ehemann (Timothy Spall) und ihren aufgelösten Kindern (Toni Collette, Andrea Riseborough, Johnny Flynn und Winslet selbst).

Das alles in einer Zeit, in der wir uns doch alle nur nach heiler Christmas-Movie-Welt und ein paar Tagen Auszeit von Kriegsangst und Klimakatastrophen wünschen. Was also hast du dir nur dabei gedacht?

Das Drehbuch schrieb Sohn Joe nach dem Tod der Grossmutter

So wie es aussieht Einiges. Und ziemlich sicher genau das, was es zum Fest der Liebe braucht: Eine Rückbesinnung auf das, was wirklich wichtig ist. Etwa dass Tod und Krebs auch Leben sind und zu uns dazugehören, auch und gerade an Weihnachten. Dass der Tod nicht nur Abschied bedeutet, sondern uns Überlebende näher zusammenrücken lässt, ja sogar versöhnen kann. Und es Möglichkeiten gibt, mit den Toten weiterzuleben.

All das hat Familie Winslet 2017 selbst erlebt, als Sally Bridges-Winslet mit 71 an Krebs starb. Kate Winslets Sohn Joe war damals 13 und bekam hautnah mit, welchen Schmerz die Trauer um die Grossmutter mit sich brachte, aber auch, wie Familie sich gegenseitig tragen kann. Sechs Jahre später fing er mit dem Drehbuch zu «Goodbye June» an und beweist Beobachtungsgabe wie Reife, die es nur allzu gut verstehen lässt, dass seine Mutter genau diesen Stoff selbst verfilmen wollte.

Der Mut des Films liegt in der Zumutung

Der Mut des Films liegt in seiner Zumutung. Sie entsteht aus einem realitätsnahen (selbst Richtmikrofone wurden vom Set verbannt, um bloss nichts weichzuspülen), dabei aber stets liebe- wie humorvollen Blick auf die Menschen und schafft Platz für all die unterschiedlichen Bedürfnisse, Dynamiken und Schrulligkeiten.

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Nehmen wir den Umgang mit Trauer. Da gibt es die spirituelle Fraktion (Toni Collette), die Krankenhauszimmer ausräuchert und Schamanenflötenlieder spielt, bis man als überreizte Zuschauer:in gewillt ist, jegliche Blasinstrumente vorab im Krematorium einäschern zu lassen. Die solvente Powerschwester Julia (Kate Winslet), die nichts dem Zufall oder schlimmer noch: anderen Familienmitgliedern überlassen will und dabei sich selbst zu vergessen droht. Den Bier trinkenden Ehemann Bernie (Timothy Spall), dessen Ignoranz nur seine Angst zu verstecken versucht, nach diesem gemeinsamen Leben bald ohne June auskommen zu müssen.

Wie offen sind wir selbst für das Leben der Anderen?

Die Zerbrechlichkeit des Mannes trifft mit umso grösserer Wucht, als der gebeugte Rentner versucht, die Aufmerksamkeit eines Unbekannten im Spitalwartezimmer zu erlangen.

Genervt, fast schon angewidert blickt der junge Mann widerwillig von seinem Handy auf den brabbelnden Alten, der zum Störfaktor degradiert wird. Eine Szene, die Zuschauenden zwingt sich selbst zu fragen, wie offen man noch für das Leben und Leiden der Anderen ist.

Wie gut Kinder tun, wenn sie neben dem Selbstgebastelten auch das Leben in Grosis Krankenzimmer bringen und intuitiv spüren, wann es Nähe und Fragen braucht, die keiner zu stellen wagt. Wann kommst du heim, Nanna?

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"Mütter und Väter meinen selbst im Sterben noch, dass ihr Job darin bestehe, ihre Familie zu schützen"

Wohltuend, wie facettenreich der junge Drehbuchschreiber sich seiner Filmfamilie widmet, allen voran der sterbenden Grossmutter. Es sind die stillen Momente, die noch lange nachhängen: June, die morgens allein aufwacht. June, die nachts alleine wach liegt. June, die nur im Schutz der Dunkelheit Angst zeigt.

Dabei erinnert der Film immer wieder, dass die Sterbenskranken nicht nur Sterbenskranke, sondern auch Lebende sind. Die Mütter und Väter bleiben und selbst im Sterben noch denken, dass ihr Job darin besteht, ihre Familie zu schützen, Schmerzen zu verstecken und bloss niemandem zur Last zu fallen.

Und dabei auch keine Heiligen sind, sondern ganz normale Menschen, die mehr und weniger liebenswerte Seiten haben und haben dürfen. Und die bei aller Selbstbestimmtheit angesichts ihrer geschwächten Lebenslage leicht mal den Übergriffen der Familie ausgeliefert sind.

Man möchte schreien: Verschwendet nicht die kostbare Zeit!

Gerade zu Anfang schlagen die Kalenderblätter im Eiltempo um, eins nach dem anderen viel zu schnell und man ist versucht, alle auf der Leinwand durchzuschütteln: Haltet die Tage fest, geniesst jede einzelne Sekunde zusammen und verschwendet nicht die kostbare Zeit mit der Anschaffung irgendwelcher Kühlschränke, damit Besucher:innen kühle Getränke zur Verfügung stehen.

Wie gut, dass es inmitten des anonymen Spital-Irrsinns gerade auf den Palliativstationen Pflegende geben kann, die überforderte Angehörige und Patient:innen gekonnt begleiten. Sie zeigen, dass in den letzten Tagen nicht mehr alles medizinisch Machbare getan werden muss und dass Trauer verschiedene Gesichter haben darf – vorausgesetzt, die Masken fallen, wenn es wichtig ist, sich den Sterbenden zu offenbaren.

Sozialkritisch geht es bei «Goodbye June» weniger zu und sicher wird ausgeblendet, dass viele weniger privilegierte Menschen nicht das Glück haben, umgeben von ihren Liebsten im Schein bunter Lichterketten zu sterben.

Und klar ist Pfleger Angel (Fisayo Akinade) in seiner Engelsgeduld wohl eher die Ausnahme im stressigen Spitalalltag, aber gerade weil der Film das Sterben nicht weichspült, sei ihm die ein oder andere kleine Überzeichnung verziehen. Ein wenig Wohlgefühl braucht es im Angesicht des Todes eben auch.

"Goodbye June ist kein klassischer Weihnachtsfilm, aber ein Film, den wir gerade an den Festtagen gut gebrauchen können"

«Mommy, ich muss dir etwas zeigen», sagt Julia eines Nachts im Krankenzimmer und schiebt Junes Spitalbett ans Fenster. Es ist der erste Schnee des Jahres, der Mutter und Tochter in Freude eint. «Mit etwas Glück komme ich als Schneeflocke wieder und seh euch dann immer zu Weihnachten», sagt June.

Ein zärtlicher Moment, der Hoffnung macht, dass das Leben auch nach dem Tod in Verbundenheit weitergeht. Junes Familie deckt Weihnachten für die geliebte Verstorbene ein und hebt das Glas. Statt Trauer zu leugnen und zu tabuisieren, begegnet die Familie ihr gemeinsam und hält zusammen, was zusammengehört. Darin liegt ein ungemeiner Trost, nicht zuletzt auch für June, deren Leben auch nach ihrem Tod Bedeutung beigemessen wird.

Goodbye June ist kein klassischer Weihnachtsfilm, aber ein Film, den wir gerade an den Festtagen gut gebrauchen können. Eine Zumutung, vor allem aber ein Geschenk, das kein Herz kalt lassen wird und gerade in unserer tränenscheuenden Kultur Boden schafft, um sich auszuweinen, zu lachen und in jedem Fall am Ende Trost zu finden.

 

«Goodbye June» läuft jetzt auf Netflix

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