
Künstlerin Monster Chetwynd: «Ich lernte früh, dass Kultur mich mit Menschen verbindet, die in anderen Zeiten gelebt haben»
Kunst aus den schattigsten Winkeln unseres Bewusstseins: Willkommen in der Welt von Monster Chetwynd.
- Von: Dietrich Roeschmann
- Bild: Monster Chetwynd, The Trompe l’oeil Cleavage, 2025 © Monster Chetwynd
Der Weg zu Monster Chetwynd führt über knirschenden Kies, vorbei an Gartenmöbeln, Velos und frisch bepflanzten Hochbeeten. Hinter einem Schuppen unter Bäumen windet sich schliesslich eine Metalltreppe hinauf zum obersten Stockwerk des Containerdorfes am Stadtrand von Zürich. Künstler:innen und Kreative teilen sich das verwunschene Areal zwischen Autobahn und Engrosmarkt mit Geflüchteten. Abends kommen Sexworkerinnen zu ihrer Schicht am angrenzenden Strichplatz.
«Hi, ich bin Monster», sagt sie mit frischem Lächeln. Neben ihren Augen tanzen zwei dunkle Lidschattenflecken, die an die Flügelzeichnung eines Nachtfalters erinnern. Monster trägt rosa Jeans, dunkle Sneakers und einen dünnen, schwarz-roten Wollpulli mit Fledermausärmeln. Gut gelaunt schliesst die 51-Jährige die Tür zu ihrem Studio auf, das sie sich mit einer Freundin teilt.
Keine Angst vor dem Chaos
Am Ende musste sie sich dann doch beeilen, um es rechtzeitig zum verabredeten Treffen zu schaffen. Jeden Tag besuche sie ihre Mutter, die ein paar Minuten von hier in einem Alterszentrum wohnt. Sie ist Mitte achtzig. Die Demenz schleicht langsam in ihr Leben und auf indirekte, aber intensive Weise auch in das Leben ihrer Tochter. «Wenn ich um neun Uhr morgens zu ihr komme und eine Stunde später wieder gehe, habe ich das Gefühl, es ist immer noch neun», sagt Monster Chetwynd. Als sei sie durch eine Falltür in eine andere Welt geraten, mit völlig anderer Zeitrechnung. «Ich geniesse das sehr. Es ist schön, diese Welt mit ihr zu teilen.»
Monster Chetwynd hat keine Angst vor dem Chaos. Im Gegenteil. Sie mag das Unvorhersehbare – und das kreative Potenzial, das darin liegt. Seit ihren späten Zwanzigern arbeitet die britische Künstlerin in überschwänglichen Performances mit handgefertigten Kostümen, Requisiten und fantastisch wuchernden Bühnensettings an der spielerischen Unterwanderung der Wirklichkeit, die ja oft nichts anderes ist als die Summe der Konventionen und der Vorstellungen, die wir uns von uns selbst, den anderen und der Welt machen.
«Viel Freiheit und eine grosse Magie»
Auch ein Name ist eine Konvention, die Wirklichkeit herstellt. Ihren aktuellen hat Monster 2018 angenommen. Davor hiess sie zwischenzeitlich Spartacus Chetwynd, nach dem antiken Streiter für Gerechtigkeit, Liebe und Solidarität, dann Marvin Gaye Chetwynd, wie der Soulsänger, der von seinem Vater, einem streng gläubigen Prediger, erschossen worden war. «Der Name ist für mich ein Werkzeug, das ich nutzen kann, um auf eine bestimmte Weise gesehen zu werden», sagt sie. «Darin liegt viel Freiheit und eine grosse Magie. Es ist meine Taktik, inspiriert und offen zu bleiben für neue Erfahrungen.»
Monster haben keine klare Identität, kein eindeutiges Geschlecht. Als Projektionen unserer Angst, Zweifel und Scham wohnen sie in den schattigen Winkeln unseres Bewusstseins. Das mache sie für Chetwynd attraktiv. Monster verkörpern die Kehrseite der Vernunft, sagt sie, das Abgründige, Ungreifbare, Groteske, sie sind wild, unberechenbar und überraschend.
2012 wurde Monster Chetwynd als erste Performance-Künstlerin überhaupt für den Turner Prize nominiert, die wichtigste Auszeichnung in Grossbritannien für zeitgenössische Künstler:innen. Damals war sie gerade Mutter geworden, ihr Sohn drei Monate alt. Zur Vernissage in der Tate Britain kam sie als zerzauster alter Mann mit dicken schwarzen Strichen unter den Augen: «Ich hatte keine Zeit und kein Geld, um mir ein schönes Kleid zu kaufen», erklärte sie gegenüber dem Guardian, «also dachte ich, wenn ich eines meiner alten Kleider und einen Bart trage, wäre die Kombination schillernd genug und ich käme damit durch.»
"Alles, was ich mache, sieht aus, als würde es gleich zusammenfallen"
Das war typisch für Monster Chetwynd – und ist es bis heute. Nie steht sie neben ihrer Kunst, sondern immer mittendrin, untrennbar verbunden mit den Dingen und den Menschen, die sie umgeben. «Meine Londoner Galeristin Sadie Coles behauptete einmal, ich erinnere sie an ein Glühwürmchen – wenn ich nicht anwesend sei, fehle dieses kleine pulsierende Leuchten». Sie lacht. Leuchten koste sie keine Mühe. «Es kommt ganz von allein, wenn ich Spass an dem habe, was ich gerade ausprobiere, und sich alles zu einem Ganzen fügt.»
Vor fünf Jahren zog Monster Chetwynd mit ihrer Mutter, ihrem Sohn und zwei Katzen nach Zürich. Im Kunsthaus wird sie jetzt ihre bislang umfangreichste Ausstellung zeigen. Inspiriert vom Defilée der pompösen Grabmale entlang der Via Appia in Rom, will sie in der obersten Etage des Chipperfield-Baus statt antiker Totenarchitektur die riesigen Köpfe all der Monster, die sie in den vergangenen Jahren erschaffen hat, zu einem kurzweiligen Parcours arrangieren.
Die begehbaren Masken sind zu kleinen Galerien ausgebaut. Oft mehrere Meter hoch, haben sie ihre Vorbilder auf der Chilbi und im Karneval, im Puppentheater oder in Kultfilmen wie «Zardoz», einem hinreissend absurden, feministischen Science-Fiction-Drama aus den Siebzigern mit der jungen Charlotte Rampling.
Sie müsse spüren, was sie tue
Zwei Modelle dieser Monsterköpfe aus Pappmaché liegen derzeit auf dem Boden ihres Ateliers. Zusammengesunken dösen sie in der Morgensonne, zwischen Kisten und Regalen mit Stoffen, Farben, Zeitungen und Latex. Chetwynd hat sie eigenhändig geformt und zusammengeklebt. Das ist ihr wichtig. Sie müsse spüren, was sie tue, in der festen Überzeugung, dass es dann auch die Menschen spüren – die Energie, die in das Material gef lossen ist, die Lust am Modellieren der eingeweichten Pappe, das Flüstern der freundlichen Wesen in ihrem Kopf, die ihr dabei helfen.
Schon 2007 bei ihrer ersten Ausstellung in der Schweiz im Zürcher Migros Museum für Gegenwartskunst musste sich das Publikum durch den Schlund eines Pappmaché-Monsters zwängen, um die Ausstellung zu betreten. Dahinter erwartete die Besucher:innen eine in Rotlicht getauchte Antikenlandschaft aus Papier, monumental und gebrechlich zugleich. «Alles, was ich mache, sieht aus, als würde es gleich zusammenfallen», sagt die Künstlerin.
Do-it-yourself-Ästhetik
Es ist der perfekte Look für eine Kunst, die lustvoll und spielerisch den Übergang feiert, die Auflösung der Grenzen zwischen High und Low, das Ineinanderfliessen von Material und Ideen. Alles wird wiederverwertet und ist abbaubar, Teil eines grossen Kreislaufes. Diese Do-it-yourself-Ästhetik macht ihre Monster so zugänglich und weckt eine seltsam euphorische Empathie. Damit haben die Monster uns auf ihrer Seite und wir folgen ihnen bereitwillig in die komplexen Plots, die Monster Chetwynd in ihren Performances entfaltet.
An der Art Basel Hongkong etwa führte sie kürzlich zwischen liebevoll gebastelten Rieseninsekten mit ihrer Truppe die Performance «The Lanternfly Ballet» auf – als Hommage an eine Fliege, die weder leuchtet noch f liegen kann, wie ihr Name behauptet, sondern die ihre prächtig schillernden Flügel allein dazu nutzt, um beim ungelenken Hüpfen von Blatt zu Blatt wenigstens gut auszusehen. Monster Chetwynd liebt solche Geschichten von freundlichem Eigensinn und glamouröser Widerständigkeit und verwandelt sie mit ihrer Truppe in gemeinschaftlich erlebte Momente voller poetischer Absurdität.
Auf ihre Themen stösst sie oft aus Wut oder Frust über bedenkliche gesellschaftliche Dynamiken, denen sie etwas Positives entgegensetzen möchte. Das Material dafür sammelt sie in langen Recherchen – beim Lesen, Filme schauen, beim Stöbern in der Opern- und Ballettgeschichte oder in den Erinnerungen an die eigene Kindheit, die sie aufgrund der beruflichen Verpflichtungen ihrer Eltern grösstenteils in Malaysia, Pakistan, Hongkong und Australien verbrachte.
Chetwynds Mutter arbeitete lange als Produktionsdesignerin beim Film, ist vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit einem Oscar. «Als Kind hat sie mir Virginia Woolfs ‹Orlando› vorgelesen, wir gingen in Ausstellungen, ins Kino und Theater», sagt sie. Manchmal habe sie ihr auch am Set helfen dürfen, beim Herstellen der Requisiten oder beim Finish der Räume. «Ich habe früh gelernt, dass Kultur mich mit Menschen verbindet, die in anderen Zeiten gelebt haben.»
In ihren heutigen Performances schöpft sie aus einem breiten Spektrum an Quellen – von Kinderbüchern, Technicolor-Klassikern, Dada, Punk und Mysterienspielen bis hin zu Christine de Pizans 1405 verfasster Gleichstellungsutopie «Die Stadt der Frauen» oder Silvia Federicis Theorie der Frauengemeinschaften. Dadurch erschafft sie Räume zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die vor unangepassten Ideen nur so strotzen.
«Ich bin eine gute Produktionsleiterin»
Ihre Lust, spielerisch Regeln zu unterlaufen, kommt nicht von ungefähr. «Meine Eltern legten grossen Wert darauf, dass wir uns über Konventionen hinwegsetzen und Risiken eingehen lernen», erzählt sie lachend. «Sie wären enttäuscht gewesen, wenn ich eine Karriere im Bankwesen angestrebt hätte.»
Anstelle von Strategien für Status und finanziellen Erfolg habe sie gelernt, offen auf andere zuzugehen, sich mit ihnen zu verbinden und gemeinsam positive Energien zu erzeugen. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie dabei die Kontrolle aus der Hand gibt. «Ich bin eine gute Produktionsleiterin», sagt Chetwynd. Sie entwirft die Kostüme, baut die Requisiten, schreibt das Skript und gibt den Rahmen vor, in dem dann alle frei sind, Eigenes einzubringen, im Austausch mit den anderen.
Wie gut es ihr gelingt, auch die disparatesten Kräfte zu bündeln, zeigten auch die Vorbereitungen zu ihrer Ausstellung im Kunsthaus Zürich. Allein der Monsterkopf, den sie im Garten des Chipperfield-Baus installiert hat, besteht aus 55 Teilen, angefertigt aus recyclebarem Beton.
Nach dem Überwinden einiger bürokratischer Hürden im Zusammenhang mit dem Baugesuch ragt das mächtige Haupt mit dem grimmigen Blick jetzt für die nächsten zwei Jahre gut neun Meter hoch über den Beeten und Blumenrabatten. Im Innern können Kinder ungehemmt toben – und Erwachsene lernen, wie gut es auch ihnen tun könnte, die Hemmungen abzulegen und Risiko zuzulassen.
Ausstellung: Monster Chetwynd – The Trompe l’oeil Cleavage. Kunsthaus Zürich, bis 31. 8.