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Autorin Jehona Kicaj:

Autorin Jehona Kicaj: "Es gibt einen blinden Fleck für die Leiden der kosovo-albanischen Bevölkerung"

Die Autorin Jehona Kicaj schreibt in ihrem Roman "ë" von der Sprachlosigkeit der kosovo-albanischen Diaspora angesichts von Krieg und Trauma. Wie finden sich Worte für ein Leid, das man vermeintlich nur aus zweiter Hand kennt?

Inhaltshinweis: Krieg, Gewalt

annabelle: Jehona Kicaj, Ihr Buch trägt den ungewöhnlichen Titel «ë». Ein Buchstabe, der die albanische Sprache auszeichnet, den aber wohl viele Ihrer deutschsprachigen Leser:innen nicht aussprechen können. Warum haben Sie ihn als Titel gewählt?
Jehona Kicaj: Der Buchstabe «ë» ist der auffälligste und häufigste in albanischen Texten. Er ist vergleichbar mit dem Schwa-Laut im Deutschen, also ein Laut, der nur in unbetonten Nebensilben vorkommt, wie das abgedunkelte «e» am Ende von «Gedanke». Steht er im Albanischen am Wortende, wird er in den meisten Fällen gar nicht ausgesprochen, verändert aber die Betonung des Worts. Damit wird er zum Symbol für das, worum es in meinem Roman geht: Um den Kosovokrieg und seine Folgen, über die in kosovo-albanischen Familien, aber auch in der Öffentlichkeit ihrer neuen Heimatländer meist nicht gesprochen wird. Das «ë» steht für diese Sprachlosigkeit und wird zum Aufhänger für die Frage danach, was vorhanden ist und einen Unterschied für die Betroffenen macht, bisher aber unausgesprochen geblieben ist.

Ihre Protagonistin leidet an Bruxismus: Sie knirscht so stark mit den Zähnen, dass ihr Zahnschmelz zerrieben wird. Sie geht deswegen regelmässig zum Zahnarzt, der ihr attestiert, unter starkem Stress zu stehen. Warum haben Sie diese Metapher gewählt?
Ich würde hier nicht von einer Metapher sprechen. Ich erzähle die Krankengeschichte einer jungen Frau, die morgens aufwacht und ein kleines Stück Zahn auf der Zunge hat. Ihr Zahnarzt weist sie darauf hin, dass ihr nächtliches Zähneknirschen so intensiv ist, dass sie Gefahr läuft, irgendwann nicht mehr ohne Schmerzen sprechen zu können. Sie stellt sich deshalb die Frage, was es zu erzählen gäbe und worüber sie sprechen müsste, bevor es zu spät sein wird.

Ihr Roman handelt vom Kosovo-Krieg, erzählt aus der Perspektive einer jungen, namenlosen Kosovarin, die das Kriegsgeschehen aus sicherer Entfernung in der deutschen Diaspora miterlebt. Sie sieht sich jedoch auch noch Jahre später, als Erwachsene, immer wieder mit dem schweren Erbe des Krieges konfrontiert und versucht, Antworten zu finden. Sie wollten diese besondere Perspektive sichtbar machen. Warum?
Weil mir diese Perspektive in der deutschsprachigen Literatur bisher gefehlt hat, und es für mich als Schriftstellerin eine besondere Herausforderung ist, eine Sprache für etwas zu finden, für das es bisher keine Sprache gab. Meine Protagonistin ist mit ihrer Familie Anfang der 1990er-Jahre als Kleinkind nach Deutschland gekommen. Sie erlebt den Krieg 1998/1999 also nicht nur aus sicherer Entfernung, sondern als ein Kind, das noch nicht alles versteht, was passiert, aber dennoch eine Ahnung aus jener Zeit mitnimmt.

Mit existenziellen Folgen.
Ja, denn daraus ergeben sich Leerstellen, die die nun längst erwachsene Protagonistin rückblickend auszuleuchten versucht. Zusätzlich überlagern sich die Erinnerungen an die Zeit des Krieges mit den Erfahrungen, die durch ihre Migration nach Deutschland bestimmt sind: Ausgrenzung, Zuschreibungen, offener Rassismus und auch Unverständnis für den Krieg, der im Kosovo wütete. Kurz, mir ging es um eine bestimmte Form der Betroffenheit, die zwischen den Kriegserfahrungen vor Ort und der unbeteiligten Beobachtung im Ausland liegt. Die Komplexität all dessen brauchte eine literarische Form, die ich hoffentlich mit meinem Roman gefunden habe.

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"Albaner:innen wurden mitten in Europa aufgrund ihrer Ethnie und Sprache schikaniert, diskriminiert, entlassen, unterdrückt, verhaftet, gefoltert oder ermordet"

Sie wollten also eine literarische Stimme für die kosovarische Diaspora sein?
Nein, das fände ich anmassend. Vielmehr geht es mir darum, über den Krieg aufzuklären und seine Schicksale sichtbar zu machen. In der Schweiz, in Österreich, vor allem aber in Deutschland, begegnet man dem Kosovokrieg häufig mit Unwissen und tut eine tiefergehende Auseinandersetzung mit einem «die Sache ist halt schwierig», leichtfertig ab.

Ein Beispiel: Sie greifen in «ë» die NATO-Intervention von 1999 auf, ein militärischer Einsatz, um die humanitäre Katastrophe und die Vertreibungen der kosovo-albanischen Bevölkerung durch serbische und jugoslawische Streitkräfte zu stoppen. Bis heute gilt sie als völkerrechtlich umstritten, da kein UNO-Mandat bestand.
Ich erlebe es oft, dass jemand sofort das fehlende UNO-Mandat für diesen Einsatz erwähnt, sobald ich sage, dass ich aus dem Kosovo komme. Das scheint eine Art fixe Idee zu sein. Das ist schade, denn diese Intervention – für die deutsche Bundeswehr war es bekanntlich eine Zeitenwende – hat eine Vorgeschichte und hatte Gründe, über die wenig Wissen vorhanden ist. Das fehlende Mandat ist nicht alles, was man über diesen Krieg sagen kann und sollte.

Sondern was noch?
Dass es einen unglaublich grossen blinden Fleck gibt für die damaligen Leiden der kosovo-albanischen Bevölkerung. Die serbische Regierung ging seit den 1980er-Jahren, vor allem aber in den 90er-Jahren, mit starken Repressionen gegen die albanische Bevölkerung im Kosovo vor: Mitten in Europa existierte eine Willkürherrschaft, in der Albaner:innen nur aufgrund ihrer Ethnie und Sprache schikaniert, diskriminiert, entlassen, unterdrückt, verhaftet, gefoltert oder ermordet wurden. Das wissen viele nicht. Man scheint auch vergessen zu haben, dass es in diesem Krieg einen Aggressor gab, der bereits blutige Kriege im ehemaligen Jugoslawien geführt hatte, und den man stoppen wollte. Auch gibt es kein Bewusstsein dafür, dass damals schon Menschen Teil der Gesellschaften Deutschlands oder der Schweiz waren, die Verwandte in diesem Krieg verloren haben.

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"Literatur fordert etwas ganz Grundsätzliches: das Zuhören, ohne die Erzählerin unterbrechen zu können"

Sie glauben an die Macht der Literatur. Inwiefern kann sie gegen das Nichtwissen Abhilfe schaffen?
Indem sie das Eintauchen in eine subjektive Perspektive ermöglicht, die eigene Verwandlung im Moment der Lektüre. Vor allem aber fordert sie etwas ganz Grundsätzliches: das Zuhören, ohne die Erzählerin unterbrechen zu können. Und wenn die Komplexität dieser Perspektive erst einmal erfahren wurde, dann geht es um das Weiterdenken, um das Hinterfragen der eigenen Position und natürlich auch des Gelesenen, letztendlich also um eine Fortsetzung des Diskurses. Literatur wird so zum Teil einer kollektiven Erinnerungsarbeit oder zu einer spezifischen Form des kulturellen Gedächtnisses.

Literatur als Vergangenheitsbewältigung. Existiert denn eine kosovarische Erinnerungskultur?
Auf diese Frage formuliert die Cousine meiner Romanfigur eine sehr entschiedene Antwort. Shpresa, so heisst sie, bildet eine Art Gegenpart zur Erzählerin: Sie hat den Krieg bis zu ihrer Flucht nach Albanien vor Ort erleben müssen und ist auch nach dem Krieg nicht aus Kosovo emigriert, sondern lebt in der kosovarischen Hauptstadt Pristina. An einer Stelle im Roman bemängelt sie etwas polemisch, dass es im Kosovo überhaupt keine Erinnerungskultur gäbe. Nur anhand der Namen der Kinder, die in den 90er-Jahren geboren wurden, liesse sich die Geschichte ablesen: «Kinder, die in den Jahren vor dem Krieg geboren wurden, heißen Qendrim – Standhaftigkeit, Duresa – Geduld, Çlirim – Befreiung.» Und nach dem Krieg hätte man damit begonnen, Kinder nach westlichen Politiker:innen zu benennen: Sie würde Leute kennen, die «Tonibler», «Klinton» oder «Madlen» heissen. Aber das – wie gesagt – ist nur die Meinung einer meiner Figuren.

Was heisst das?
Literatur lebt von dem Spiel mit Ambivalenzen. Im Roman kann ich die Figur so etwas sagen lassen, die Leser:innen sind dann selber angehalten, über diese Aussagen nachzudenken. Sicher ist nur, dass das alles erst einmal sehr wahrscheinlich klingt, oder nicht?

"Im Fokus stehen soll nicht nur die Wissensvermittlung an die nächste Generation, sondern auch die Relation zwischen den Opferzahlen"

Wie erleben Sie die kollektive Kriegsbewältigung der Kosovo-Albaner:innen?
Ich beobachte, dass sie sich entwickelt. International werden bisher die beeindruckenden Filme aus Kosovo am stärksten wahrgenommen. Sie thematisieren nicht nur den Krieg, sondern sind – das freut mich besonders – meist von Regisseurinnen produziert worden und lenken den Blick vermehrt auf das Schicksal von Frauen. Aber auch vor Ort tut sich von Jahr zu Jahr mehr: Abseits der Heroisierung der ‹Kosovobefreiungsarmee› (UÇK) gibt es in der kosovarischen Hauptstadt Pristina das «Museum der Kriegskinder», eine Dauerausstellung zu den im Krieg ermordeten und vermissten Kindern. Zudem wurde diesen Januar in Pristina das «Reporting House“» eröffnet, ein Museum, das die internationale Berichterstattung über die Kriegsjahre zeigt. Und Ende letzten Jahres erschien eine 800-Seiten dicke Studie des kosovarischen Politologen Shkëlzen Gashi, in der alle Massaker, die zwischen 1998 und 1999 im Kosovo verübt wurden, dokumentiert sind. Das Buch ist so wichtig, weil es darin um die Opfer aller ethnischen Gruppen geht.

Das ist in der Tat beachtlich.
Was mir im Kosovo aber nach wie vor stark fehlt – gerade, weil ich in Deutschland sozialisiert bin –, ist ein nationales Museum, das den Krieg detailliert und historisch möglichst vollständig aufarbeitet. Dabei soll nicht nur die Wissensvermittlung an die nächste Generation im Fokus stehen, sondern auch die Relation zwischen den Opferzahlen. Das ist ein Punkt, der auch im westlichen Diskurs immer etwas zu kurz kommt.

Können Sie das näher erklären?
Im Westen wird beim Sprechen über den Kosovokrieg schnell darauf verwiesen, dass es auf beiden Seiten – also auf albanischer wie auch auf serbischer Seite – Opfer gegeben hat. Das ist selbstverständlich richtig. Schwierig finde ich jedoch, wenn die Verhältnismässigkeiten unbenannt bleiben: Die grosse Mehrheit der zivilen Opfer war albanischer Abstammung, während die Aggressoren der damalige serbische Präsident Slobodan Milošević und sein Regime waren.

"Nach und nach fügt sich beim Lesen hoffentlich ein Ganzes zusammen"

Ihr Roman verhandelt auch die bis heute angespannte Beziehung zwischen Kosovo-Albaner:innen und Serb:innen, und wie sich diese in der Diaspora manifestieren kann.
Ja, das ist richtig. Ich möchte aber betonen, dass «ë» kein Roman über die aktuelle geopolitische Lage zwischen Kosovo und Serbien ist. Meine Protagonistin trifft am Anfang ihres Studiums auf eine junge Serbin, sie sitzen zusammen in einem Einführungsseminar. Was sie verbindet, ist nebst der Unsicherheit als Studienanfängerinnen, auch die Erfahrung der Migration nach Deutschland. Der zunehmend freundschaftliche Umgang zwischen den beiden funktioniert aber nur, weil sie alles Historische und Politische aussparen. Unter Alkoholeinfluss fühlt sich die neue Freundin jedoch ermutigt, auf einer Party ein serbisch-nationalistisches Lied abzuspielen, das den heutigen Staat Kosovo als Teil eines ‹Gross-Serbiens› beansprucht – worauf meine Protagonistin den Kontakt abbricht. Was hier aufleuchtet, ist die generationsübergreifende Kontinuität der serbischen Propaganda. Aber ich deute das in meinem Roman nur an, darüber schreiben werden hoffentlich andere.

Wieviele Ihrer eigenen Erfahrungen und Erlebnisse stecken in Ihrem Romanerstling «ë»?
Die Frage wird mir immer wieder gestellt, was ich aufgrund der Parallelen zwischen der Protagonistin und mir auch absolut nachvollziehen kann. Wichtig ist, dass «ë» ein Roman ist – wenn auch ein autofiktionaler. Ich bediene mich einerseits dessen, was ich selbst erlebt habe, anderseits nutze ich auch ganz bewusst die Freiheiten, die mit dem Schreiben eines fiktiven Textes einhergehen, sowohl auf inhaltlicher als auch auf formaler Ebene. Ein Beispiel: Leerstellen und unbeantwortete Fragen beschäftigen nicht nur die Protagonistin, sondern waren für mich der Ausgangspunkt, diesen Roman zu schreiben und mich für längere Zeit tiefgehend mit dem Thema zu beschäftigen. Wenn es in dem Buch um die Recherchen und Nachforschungen der Protagonistin geht, decken sich diese zu einem gewissen Grad auch mit meiner eigenen Arbeit an dem Buch.

Inwiefern?
Wie meine eigene, ist auch die Biografie der Protagonistin von Brüchen gekennzeichnet. Ich wusste von Anfang an: Wenn ich diese Geschichte erzähle, soll sie auch formal zerbrechlich bleiben. Der Roman besteht deshalb aus einer Vielzahl von einzelnen, mal längeren und kürzeren Episoden. Diese Textteile erzählen pointiert von prägenden Erlebnissen und Erfahrungen der Protagonistin und sind formal in sich geschlossen. Da jeder Abschnitt jedoch neu ansetzt, bekommt der Roman als Ganzes eine gewisse Brüchigkeit: Die Erzählerin beginnt ihre Geschichten an wechselnden Orten, mal in Deutschland, mal im Kosovo, oder in verschiedenen Zeitebenen, mal vor, nach oder während des Kriegs und dann wieder im Jetzt. Nach und nach fügt sich beim Lesen hoffentlich ein Ganzes zusammen – und wer genau liest, wird auch eine gewisse Verzahnung der Bruchstücke bemerken.

Jehona Kicaj (1991) wurde in Kosovo geboren und wuchs in Deutschland auf. Sie studierte Philosophie, Germanistik und Neuere Deutsche Literaturwissenschaft in Hannover. Der Roman «ë» ist ihr Debüt. Sie ist damit für den Deutschen Buchpreis nominiert.

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