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Pop-Phänomen Lizzo: «Body Positivity muss Mainstream werden»

Popkultur

Pop-Phänomen Lizzo: «Body Positivity muss Mainstream werden»

Kaum jemand steht überzeugender für das Prinzip der Selbstliebe ein als Lizzo. Das nächste Ziel der Musikerin: Die Weltrettung.

Drei Grammys, über fünf Milliarden Musik-Streams weltweit, Mehrfach-Platin, eine eigene TV-Show, ein Shapewear-Label, 12.6 Millionen Follower auf Instagram, 24 Millionen auf Tiktok: Lizzo, das darf man so sagen, ist ein Pop-Phänomen. Was das heutzutage bedeutet, ist etwas schwieriger einzuordnen.

Im Fall der 34-Jährigen listet Google plusminus achtzig Millionen Beiträge, neben Musiklinks viele glamouröse Bilder, oft auch von roten Teppichen, sowie News- und Hintergrundartikel auf Plattformen von «New York Times» und «Vogue» bis «Rolling Stone» – in der Regel sind es Lobgesänge. Auch wenn man im Alltag Menschen auf sie anspricht, wird klar, dass es sich bei der Texanerin um mehr als einen der üblichen Popstars handelt.

«Lizzo sollte von Ärzt:innen verschrieben werden»

«Lizzo sollte von Ärzt:innen verschrieben werden», meint etwa meine Mitbewohnerin. Sie ist 47 Jahre alt, Londonerin, ein herzlicher No-Bullshit-Typ und arbeitet seit den Neunzigern in der Entertainmentbranche. Vor drei Jahren sah sie Lizzo live am Glastonbury-Festival: «Eine religiöse Erfahrung!» Ein Bekannter aus Zürich, Radiomoderator (28), schwärmt: «Lizzo ist einfach extrem talentiert, intelligent, humorvoll und sympathisch.» Und dass sie manchmal in der Kritik steht, zeige ihm nur noch mehr, dass sie etwas richtig macht. Denn ja, Kritiker:innen gibt es natürlich auch – aber dazu später mehr.

Eine Sache, in der sich alle einig sind: Lizzo zählt zu den lautesten und vehementesten Selbstliebe-Verfechter: innen der Entertainmentbranche. Und sie ist eine der ganz wenigen, von denen die Message auch angenommen zu werden scheint. Warum dringt genau sie zu so vielen Menschen durch? Im April 2019 hatte ich Gelegenheit, direkt bei ihr nachzufragen.

Lizzo will nicht gefallen, zumindest nicht allen

«Ich bin eine Predigerin, aber ich predige nicht», erklärte Lizzo, als wir für ein Interview zu ihrem Album «Cause I Love You» telefonierten, das damals erschien. «Ich sage niemandem, was sie oder er zu tun oder zu lassen hat. Ich erzähle einfach von Dingen, die mich prägten.» Dann sagte sie: «Ich fühle mich nicht verpflichtet, Interviews zu geben. Dass ihr Motherfuckers alle über mich schreibt und Bilder von mir macht, gehört halt dazu.» Lizzo will nicht gefallen, zumindest nicht allen – und ganz sicher nicht um jeden Preis. Ihre direkte Art ist entwaffnend. Beides macht sie glaubwürdig.

Lizzo kam 1988 als Melissa Viviane Jefferson in Detroit zur Welt. Die harsche Stadt prägte ihre Kindheit, genauso die Kirchengemeinde ihrer Eltern und der Gospel. Als sie knapp zehn war, zog die Familie nach Houston, Texas, wo sie Hip-Hop und Rap lieben lernte, sich unter anderem auch einer Rockband anschloss und parallel klassische Musik und Querflöte studierte.

Sie lebte mehrere Monate in ihrem Auto

Nach dem Tod ihres Vaters fiel sie jedoch in eine schwere Krise, brach das Studium ab, lebte mehrere Monate in ihrem Auto und zog schliesslich nach Minneapolis, um der Musik noch mal eine Chance zu geben. Sie landete in den Paisley Park Studios und nahm einen Song für Princes Album «Plectrumelectrum » auf. «Ein Segen», betont Lizzo bis heute immer wieder. Von da an ging es für sie bergauf – auch für das eigene Selbstvertrauen.

Zu Lizzos ersten viralen Hits gehört ein Video von 2018, in dem sie den Song «Big Shot» von Kendrick Lamar auf der Querflöte spielt und mittendrin in eine rasende Tanz-Choreografie ausbricht. Seither liefert Lizzo ihre schweisstreibenden Choreografien auf den grössten Bühnen der Welt. Die eigene Tanzcrew, die Welthits, Windmaschinen und Pyrotechnik, die Querflöte; all das gehört heute wie selbstverständlich dazu. Doch selbstverständlich ist es keineswegs: Wer zwischen Flötensoli, Wind und Feuer derart energetisch tanzt, rappt und singt und ohne zu zaudern vom einen zum anderen wechselt, der oder die muss ganz offensichtlich viel und diszipliniert trainieren. In den allermeisten Fällen wäre dies nur eine beiläufige Bemerkung wert.

Bei Lizzo ist das anders, weil ihr Auftritt indirekt mit einer bis heute verbreiteten Kritik bricht, dem mal mehr, mal weniger stillen Vorwurf: Diese Körperfülle ist ein Gesundheitsrisiko. Denn genauso offensichtlich wie ihr Atem ist ihr überdurchschnittliches Volumen. Viele würden sagen, Lizzo ist fett. Und manchmal sagt sie das auch selber über sich. Aber bedeutet das auch, dass sie ungesund ist?

Lizzo selber weiss natürlich um diese Kontroverse. Bis vor Kurzem bestand auch ihre eigene Tanzcrew nur aus Frauen, die deutlich weniger wiegen als sie selber. Ihre Amazon-Prime-Show «Watch out for the Big Grrrls», die im März anlief, entstand auch aus Eigennutz: Agenturen, die dicke Tänzerinnen vermitteln, gebe es derzeit nicht, deswegen caste Lizzo ihre Tanzcrew für die Tour selber, hiess es zur Ankündigung. Mit «Watch out for the Big Grrrls» zeigt sie einmal mehr, was möglich ist. Die Frauen, die sich in der Reality- TV-Konkurrenz bewiesen haben, sind heute allgegenwärtig in Lizzos Musikvideos und Live-Shows.

«Wenn etwas unbequem ist, zieh es aus»

Fast parallel zur TV-Premiere lancierte sie Yitty, eine Shapewear-Linie, die sich an alle Frauen richtet: «Underwear, Overwear, Anywhere. Für jeden verdammten Körper. 6X bis XS» kommentierte sie damals auf Social Media. Ihre Kleider seien keine Einladung, zu ändern, wer man ist – im Gegenteil: Sie sei selber müde, ständig einem Sexy-Anspruch genügen zu müssen, schrieb sie zur Lancierung. «Wenn etwas unbequem ist, zieh es aus. Wenn du dich darin gut fühlst, zieh es an.»

Sie wolle uns mit Yitty ermutigen, unsere Beauty-Standards neu zu definieren. Letzteres hat Lizzo in all den Jahren im Popgeschäft konstant getan. Sie zeigt ihren Körper bei jeder Gelegenheit, schon beinahe aggressiv. Das macht sie natürlich nicht zu einer Ausnahme, dennoch schafft sie auch da quasi einen Präzedenzfall. Das Albumcover zu «Cause I Love You» gab die Richtung vor: Darauf ist sie zwar nackt zu sehen, aber was einen bannt, ist nicht der Körper, sondern Lizzos Blick; direkt in die Kamera, verletzlich, gleichzeitig hyperpräsent und scheinbar für alles gewappnet. Sie ist sexy, aber nicht sexualisiert. Sie ist kompromisslos, aber nie vulgär. Das ist der vielleicht markanteste Unterschied.

«Wir müssen uns in der Kultur einnisten und verankern»

Anders als viele andere Frauen im Pop, die unter dem Deckmantel sexueller Selbstermächtigung in die Offensive gehen und mit ihrer kalkulierten Freizügigkeit oft ausgerechnet die alten sexistischen und patriarchalen Strukturen bestärken, zeigt Lizzo Fingerspitzengefühl. Als sie 2019 im «Playboy» zu sehen war, zog sie nicht etwa in der bis heute typisch-plumpen Ästhetik des Magazins blank, sie zeigte sich sexy, sinnlich und verspielt. Auf Social Media kommentierte sie damals: «Das hier darf nicht zum Trend verkommen. Wir müssen uns in der Kultur einnisten und verankern. Body Positivity muss Mainstream werden.»

Und das mag bedeuten, auch nicht mehr konstant über etwas reden zu müssen. In ihren eigenen Social-Media-Beiträgen lässt Lizzo jedenfalls längst locker, auch ihren blanken Hintern, der gern lasziv vor der Kamera kreist und vibriert. Dort lacht sie auch viel und laut, und selbst dann noch, wenn etwa während eines etwas zu euphorischen Moves die «Coochie» unten aus dem Body rutscht. Sich selber nicht allzu ernst nehmen ist eine Kunst, die Lizzo beherrscht wie keine Zweite. Die Konsequenz: Zuhause vor dem Bildschirm lacht man mit ihr, nie über sie. Womöglich der Inbegriff von Selbstermächtigung.

Statement statt Ausreden und Ausweichmanöver

Ist Lizzo also der perfekte Popstar? Nein und sie würde das auch nie für sich in Anspruch nehmen. «Wenn mir jemand erklärt, was ich falsch mache, höre ich zu», sagte sie mir damals am Telefon. Neulich schäumten Fans vor Wut, als sie die Worte «I’m a spazz» im Song «Grrrls» hörten – «Ich bin ein Spasti»; Lizzo wurde Ableismus vorgeworfen, also die Abwertung von Menschen mit Behinderungen.

Doch statt mit Ausreden und Ausweichmanövern reagierte sie mit dem Statement: «Als fette, Schwarze Frau in Amerika wurde ich mit vielen verletzenden Worten konfrontiert, ich verstehe ihre Macht.» Und: «Ich bin stolz, eine neue Version des Songs mit veränderten Lyrics zu veröffentlichen.» Sie wolle Teil des Wandels sein, den sie in der Welt sehen möchte. Als in den USA am 24. Juni das Recht auf Abtreibung kippte, kündigte Lizzo an, dass eine Million US-Dollar aus ihren Tour-Einnahmen an Hilfsorganisationen wie Planned Parenthood fliessen werden; 500 000 Dollar aus ihrer eigenen Tasche, die zweite Hälfte vom Tourveranstalter Live Nation.

«Ich bin nur eine Bitch, ihr seid Tausende Bitches. Ihr könnt die Welt retten»

An jenem Konzert, das meine Mitbewohnerin damals in ihrem Innersten traf, erklärte Lizzo der tosenden Menge: «Das hier ist Zeugnis dafür, dass sich deine sogenannten Sünden in den grössten Segen kehren können, Bitch. Wenn dir jemand Böses tut, pflanz diesen Samen und schau ihm beim Wachsen zu, Hoe.» Im englischen Original reimen sich diese Worte und tönen wesentlich wärmer als im Deutschen.

Vielleicht ist Lizzo ein Pop-Phänomen, weil sie es schafft, die Dinge in Zeiten scheinbar verhärteter Fronten doch noch umzudeuten. In Glastonbury wagte sie ein Experiment: «Ich will, dass ihr alle nach diesem Konzert nachhause geht, in den Spiegel schaut und sagt: Ich liebe dich. Du bist wunderschön. Und du kannst alles erreichen, was du willst.» Sie meine das wirklich ernst: «Übt das. Jeden Tag, besonders dann, wenn ihr euch scheisse fühlt – ich verspreche, es funktioniert.»

Ein Freund erzählte mir einmal von diesem Ritual, einer Technik aus der kognitiven Verhaltenstherapie, um Selbstwert zu gewinnen. Lizzo, die keinen Hehl daraus macht, dass sie professionelle psychologische Hilfe in Anspruch genommen hat, erklärte mir am Telefon, dass es im Leben nichts Wichtigeres gäbe, als diesen Lifehack zu meistern. Zu den Menschen am Glastonbury-Konzert sagte sie: «Ich bin wirklich davon überzeugt, dass wir die Welt retten können, wenn wir zuerst uns selber retten.» Dann fügte sie an: «Ich bin nur eine Bitch, ihr seid Tausende Bitches. Ihr könnt die Welt retten.» Man will ihr unbedingt glauben.

Aktuelles Album von Lizzo: «Special»

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