Werbung
Pop-Up: Matthias Brücker

Kultur

Pop-Up: Matthias Brücker

  • Text: Julia HoferFoto: Karin Heer

Er hat das Down-Syndrom. Und macht eine Ausbildung zum Schauspieler. Geht das? Und wie das geht!

Matthias Brücker (19) erinnert sich noch gut an die Schnupperlehre als Industriepraktiker, die er letztes Jahr gemacht hat. «Den ganzen Tag schrüble! Nein! Megalangweilig!», bricht es aus ihm heraus, während seine kurzen Beine schnell zwischen den Stuhlbeinen vor- und zurückschwingen. Die Unzufriedenheit beruhte auf Gegenseitigkeit: Der Schnupperstift mit dem Down-Syndrom könne nicht stillsitzen, stellte der Lehrmeister fest und urteilte: nicht ausbildungsfähig. Für den Teenager war das nicht weiter schlimm, er hatte sowieso anderes im Sinn. Seit er vor sieben Jahren einer Theatergruppe für behinderte Kinder beigetreten ist, hat er einen Traum: Er will Schauspieler werden.

Doch wie das auch in anderen Familien vorkommt, waren seine Eltern der Meinung, ihr Sohn solle zuerst etwas Vernünftiges lernen. Der Zufall wollte es, dass der Theaterpädagoge Urs Beeler, in dessen Kurs Matthias hobbymässig Theater spielte, zu dieser Zeit mit dem Behinderten-Theater Hora eine weltweit einzigartige Ausbildung lancierte: eine Schauspielerausbildung für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung. Urs Beeler setzte sich bei den Eltern für seinen Schüler ein und gab zu bedenken: Wie weit kann es Matthias in einem normalen Beruf bringen? Welche andere Ausbildung würde es ihm erlauben, an seinem körperlichen Ausdruck und seiner Sprache zu arbeiten, ihm die Chance bieten, auf Tournee zu gehen und Applaus für seine Leistungen zu erhalten? Der Vater sagte: Er soll machen, was ihn glücklich macht. Die Mutter erkannte: Er muss seine Chance jetzt nutzen; was die Zukunft bringt, wissen wir nicht. Die IV-Berufsberaterin fragte: Wie soll jemand Schauspieler werden, der nicht einmal für eine IV-Anlehre in Frage kommt?

Die bürokratische Hürde konnte überwunden werden, seit einem Jahr ist Matthias Brücker Schauspielschüler. Heute ist Grundausbildung, in den Trainingsräumen des Theaters Hora in Zürich. An einer Wand des Proberaums hängt ein Zeitungsartikel über den Spanier Pablo Pineda, Europas erstem Primarlehrer mit Down-Syndrom. Matthias zieht mit einem kräftigen Ruck seine Trainingshose rauf, dann das knallorange T-Shirt ebenso entschlossen darüber. Er beginnt, mit den Hüften zu kreisen. Urs Beeler fordert seine fünf Schüler auf, ein Bild zu dieser Bewegung zu finden. «Eier knacken», schlägt jemand vor. «Und wie klingt das?» Matthias macht laut «knnnnnnrrr». Die anderen übernehmen das Geräusch. Aus der Bewegung wird ein Hula-Hoop-Tanz, daraus ein Pizzaiolo, der Teig durch die Luft wirbelt. Irgendwann sind sie Affen, die sich durch den Urwald hangeln. «Weiter so, das Bild nicht verlieren!», ruft Urs Beeler Matthias Brücker zu, der die Bewegung schon wieder weiterentwickelt hat und sich gerade an einem imaginären Seil durch den Raum zieht. Der Lehrer fordert seine Schüler; die Feedbacks sind klar und direkt: «Mach nicht das Gleiche wie dein Nachbar, das ist langweilig!» oder, als Matthias seine Bewegungen verlangsamt und mit seinen Gedanken irgendwohin träumt, «du hast das Seil verloren!».

Der Lehrer impft seinen Schülern schauspielerisches Handwerk ein: Warum kann man keinen Streit spielen und dabei lachen? Muss ich auf der Bühne übertreiben oder natürlich sein? Was mache ich, wenn mein Bühnenpartner improvisiert? Auch wenn seine Zöglinge grosse Fortschritte machen – am Ende der Ausbildung wird kaum einer zwischen sich selbst und der Rolle unterscheiden können. Gerade das hat aber auch eine besondere Qualität. «Deshalb ist ihr Spiel», sagt Urs Beeler, «so emotional und berührend.»

Zwei Jahre dauert die Ausbildung, eine Anstellung im Hora-Ensemle steht in Aussicht. «Theater ist mein Leben», sagt Matthias Brücker mit einer Begeisterung, die man beinah mit den Händen fassen kann. «Wir spielen einfach alles. Verrückte, sich verlieben, Serienkiller wie in ‹Stirb langsam›. Ein Bordell!» Sein grosses Vorbild ist Jörg Schneider. «Weil der lustig ist und einfach alles kann: Lustig sein. Ernst sein. Traurig sein.» Ob er manchmal nervös ist vor einem Auftritt? «Nie!», kommt es sofort zurück. «Ich bin eine Rampenlichtsau.»

Matthias Brücker ist vom 8. bis 12. September in der Märchenkomödie «Die Geschichte vom Baum» im Casino-Saal Aussersihl in Zürich zu sehen; www.hora.ch