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Rapperin Lady Bitch Ray alias Reyhan Şahin:

Rapperin Lady Bitch Ray alias Reyhan Şahin: "Wieso hab ausgerechnet ich Brustkrebs?"

In «Amazonenbrüste» erzählt Lady Bitch Ray alias Reyhan Şahin von ihrem Brustkrebs – verletzlich, derb, teils urkomisch. Wie Rassismus, Sexismus und stereotype Narrative Betroffene oft härter treffen als die Krankheit selbst, erfahren Leser:innen obendrein.

«Leck mich am Arsch, wo bin ich hier gelandet?», fragt sich Reyhan Şahin, als sie Anfang 2024 im Brustzentrum inmitten pinkfarbener Blümchen und Flyer samt Broschüren zu Krebs und Palliativmedizin auf ihren Abklärungstermin wartet. Diese Szene steht auf Seite 17 ihres am Wochenende erschienenen Buchs «Amazonenbrüste». Schon bald wird Şahin alias Lady Bitch Ray wissen, dass der Knoten in ihrer rechten Brust ein Mammakarzinom ist – und wie eine solche Diagnose selbst die Coolsten unter uns aus der Bahn werfen kann. «Wieso hab ausgerechnet ich Brustkrebs?! Warum ICH?!», schreibt Şahin an einer Stelle – und spricht damit wohl allen Betroffenen aus der Seele.

Şahin hat früh angefangen, gegen ihre Angst anzuschreiben. Linguistin, Pionierin sexpositiver Rapsongs, feministische Aktivistin – beste Voraussetzungen, um als Autorin weit mehr vorzulegen als einen klassischen Krankheitsbericht. Das liegt nicht zuletzt an der Offenheit, mit der die Wahlhamburgerin Selbstgespräche und skurrile Gedanken offenbart und sich ungewohnt verletzlich zeigt. Mal will man sie als Leser:in gegen den unsensiblen Umgang von medizinischem Personal schützen, mal kommt man aus dem Grinsen nicht heraus.

«Tumortitte» gegen geheilten Hodenkrebs

Etwa, wenn sie von stärkenden Nachrichten ihrer «VotzApp»-Gruppe und geschenkten Wimmel-Pimmel-Büchern schreibt oder ihre «Tumortitte» gegen den geheilten Hodenkrebs eines Freundes tauschen will. Wer angesichts der sprachlichen Deftigkeiten Vulgarität wittert, übersieht den Kern: Die wahre Vulgarität steckt weniger in der Verwendung von Kraftausdrücken, sondern vielmehr in der politischen Dimension des Umgangs mit Erkrankten im Allgemeinen und Frauen im Besonderen. Als Linguistin und Forscherin zu Migration, Rassismus und Gender geht Şahin diesem nach und verleiht so all jenen eine dringend notwendige Stimme, die in den gängigen, weissen Krebsnarrativen unsichtbar bleiben: Frauen of Color, queere Menschen, Arbeiterkinder.

Und wenn die x-te Ärzt:in ihren Namen falsch ausspricht – ein Name, dessen türkisches Ş auf den meisten Tastaturen nicht einmal vorgesehen ist– wird deutlich, wie grundlegend Respekt auch sprachlich beginnt. Heilung, zeigt Şahin, bedeutet nicht nur Operationen und Medikamente, sondern auch Solidarität und Sichtbarkeit. Ihre schmerzlich genauen Beobachtungen bieten Orientierung, wo Angst und Traurigkeit übermächtig zu werden drohen. Für Betroffene, aber auch für Angehörige und Freund:innen.

Depression und Krebs gleichzeitig

Denn ja, es ist tröstlich, wenn Şahin genau schildert, was Betroffene beim ersten Mal Chemo erwartet: wie es dort aussieht, was die Leute mitbringen und wie die Behandlung abläuft. Hilfreich ist auch, dass sie benennt, was sonst oft unausgesprochen bleibt: wie es ist, gleichzeitig Depression und Krebs zu haben; dass es Psychoonkolog:innen gibt, die begleiten können; und wie verbreitet es ist, die eigenen Eltern vor der Diagnose beschützen zu wollen.

In der Schweiz erkranken laut Krebsliga jährlich etwa 6600 Frauen und 60 Männer an Brustkrebs, wobei mehr als 80 Prozent nicht an der Erkrankung sterben. Mit ihrem Buch will Şahin Mut machen. «Amazonenbrüste» ist ein Manifest gegen die Sprachlosigkeit und ein Aufstand gegen stereotype Krebsnarrative. Doch auch jene, die nie Krebs hatten, aber Diskriminierung, Angst und das Bedürfnis nach Halt kennen, werden sich in Şahins Buch wiederfinden.

Und für alle, die sich fragen, wie man den Namen ausspricht: «Schahin». So viel Zeit muss sein.

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"Was mir wichtig ist: dass Betroffene ermutigt werden, überhaupt zu kämpfen, sich über ihre medizinischen Möglichkeiten eigenständig zu informieren und dabei die Hoffnung nicht zu verlieren"

annabelle: Ihr Buch «Amazonenbrüste» trägt den Untertitel «Wie ich den Brustkrebs bekämpfte». Das Bild der stets kampfbereiten Krebskranken hält sich hartnäckig – suggeriert den «Kampf zu verlieren» damit nicht immer auch eine gewisse Portion Mitschuld, Schwäche?
Reyhan Şahin: Ja und genau auf dieses sexistische Narrativ, dass von Krebskranken, insbesondere Frauen und queeren Menschen, immer nur Stärke erwartet und Schwäche als «Mitschuld» betrachtet wird, will ich im Buch dekonstruieren. Überhaupt wird bei Krebskrankheiten so getan, als ob man nur dann «gewinnt», wenn man genug «kämpft»– dem ist ja nicht so! Krebs kann jeden treffen und kann potenziell auch jeden töten! Was mir wichtig ist: dass Betroffene ermutigt werden, überhaupt zu kämpfen, sich über ihre medizinischen Möglichkeiten eigenständig zu informieren und dabei die Hoffnung nicht zu verlieren. Die Brustkrebs-Medizin ist mittlerweile ziemlich fortgestritten und es gibt heutzutage oftmals mehrere Behandlungsmethoden. Wir sollten Respekt vor dieser Krankheit haben, statt Angst, die uns lähmt! Es ist aber auch unser selbstbestimmtes Recht, nicht kämpfen zu wollen, auch das muss man sagen. Ich respektiere das, will aber trotzdem auch diesen Menschen einen Funken Halt und Hoffnung geben mit meinem Buch.

In fast jede:r Krankengeschichte gibt es eine Begegnung, mit einem – wie Sie es treffend bezeichnen – Wichserarzt. Wie können wir Patient:innen stärken, sich gegen kleine und grosse Abwertungen zu wehren?
Ich kenne die schlechten, sexistischen Erfahrungen mit Ärzt:innen beim Thema Brustkrebs und es tut mir sehr leid, dass Frauen solche Scheisserfahrungen machen müssen. Meine behandelnden Ärztinnen waren Göttin sei Dank grösstenteils Frauen, und ich habe solche sexistischen Erfahrungen zumindest im letzten Jahr nur wenig machen müssen. Einmal, als ich mir eine Woche nach der Diagnose eine Zweitmeinung von einer männlichen Arzt-Koryphäe via Telefonat holte und ihn fragte, ob ich mich wieder bei ihm melden darf, antwortete dieser, dass er «zu beschäftigt sei, er kriege über 80 Emails täglich!» Daraufhin ich zu ihm: «Was meinen Sie, wie viel Emails ich pro Tag bekomme?! Hallo?! Ich bin schliesslich Dr. Bitch Fatherfucking Ray!»

Wie hat er reagiert?
Er hat gelacht und ich mit. Mir ist bewusst, dass solche vulnerablen Situationen uns betroffene Frauen stumm machen können und uns die letzte Kraft rauben – aber sobald wir mehr Kraft schöpfen und die Möglichkeit haben, sollten wir männlichen arroganten Platzhirschen Paroli bieten, selbst wenn das manchmal Monate oder Jahre später kommt. Das sind wir den nachkommenden Betroffenen schuldig, nur so kann es besser werden.

Eierstocktumor. Brustkrebs. Lungenmetastase – im Klinikalltag werden Patient:innen nicht selten auf ihren Krebs reduziert. Auf das Konto der Entmenschlichung zahlt zudem noch ein, dass Ärzt:innen gerade bei migrantisierten Namen keinen Wert auf die richtige Aussprache zu legen scheinen, das beschreiben Sie im Buch sehr eindringlich.
Ja, das Falschaussprechen von migrantisierten Namen ist – übrigens nicht nur im Gesundheitssystem – leider der Klassiker! Diese Erfahrungen müssen migrantisierte Menschen leider täglich machen, obwohl es eben nur teilweise einige Sekunden mehr Aufmerksamkeit benötigt, einen Namen, egal woher er stammt, richtig auszusprechen. Für mich hat das mit dem absoluten Mindestanteil an Respekt für das Gegenüber zu tun.

Wie reagieren Sie darauf?
Während meiner Krankheitsphase habe ich immer abgewogen: erstmal kräftetechnisch, ob ich’s gerade überhaupt schaffe, meinen falsch ausgesprochenen Namen bei Ärzt:innen oder Krankenpfleger:innen zu korrigieren – dann hab ich sie höflich korrigiert. Ich habe aber auch moralisch abgewogen: wenn man mir eine «gute» Nachricht über meinen Gesundheitszustand übermittelte, habe ich höflich auf die korrekte Aussprache von meinen Namen hingewiesen. Falls die Person mit einer nicht so guten Nachricht kam, hab ich geschwiegen und meinen Namen so «falsch» im Raum stehen lassen, weil ich meine Kraft in dem Moment für die Verdauung für diese schlechte Nachricht brauchte. Solche Situationen beschreibe ich auch in meinem Buch, für mich hat das etwas Abergläubisches, Magisches – andere bezeichnen das als psychologische Strategie, in jedem Fall aber hat’s mir während meiner Krankheitsphase geholfen.

Sie sprechen davon, dass Krebsnarrative in Deutschland (und das betrifft auch die Schweiz) überwiegend weiss geprägt sind. Welche Bedeutung hat es für betroffene Frauen of Color, dass ihre Perspektiven in der öffentlichen Diskussion bislang kaum vorkommen?
Krebsnarrative in deutschsprachigen Ländern sind nicht nur weiss geprägt, sondern auch strukturell diskriminierend. Man denke da nur an die im deutschen Gesundheitssystem etablierten Phänomene wie z.B. «Morbus Mediterraneus», die eine vermeintlich übertriebene Schmerzschilderung von migrantisierten Menschen aus dem Mittelmeerraum bezeichnen, meine Eltern und andere Bekannte mit Migrationsbezug zur Türkei erleben diese Art von Diskriminierung heute noch. Weil Ärzt:innen meine Eltern aufgrund ihrer nicht fliessenden Deutschkenntnisse nicht ernst nehmen, begleite ich wie viele Gastarbeiter-Kids der zweiten Generation meine Eltern und passe auf, dass sie gut behandelt werden.

Was hat Ihnen während Ihrer Krankheitsphase persönlich geholfen?
Ich habe gleich zu Anfang nach meiner Diagnose nach Büchern von betroffenen Frauen of Color gesucht und bin sehr schnell auf das «Krebstagebuch» von Audre Lorde (aus dem Jahr 1980) gestossen. Mit diesem Buch konnte ich mich identifizieren und Kraft schöpfen. Deshalb war es mir wichtig, ein Buch aus der Perspektive einer Frau of Color, mit Migrationsbezug zur Türkei, Alevitin und Feministin und so weiter zu schreiben. Es würde mir sehr viel geben, wenn sich andere Frauen mit «Amazonenbrüste» identifizieren würden. Go for it, Bitches!

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"Ich glaube, dass Diskriminierung und Ausgrenzung auf Dauer krank machen, dieses Private ist hochgradig politisch und sollte öffentlich ausgetragen werden"

Inwiefern sehen Sie Ihre persönliche Erfahrung mit Brustkrebs als politische Erfahrung?
Als von unten kommendes «Gastarbeiter»-Kind habe ich in meinem bisherigen Leben in verschiedenen Bereichen leider so viel Marginalisierung, Diskriminierung und Ausgrenzung erlebt. Sei es im Universitätsbetrieb oder auch mehrheitsgesellschaftlich, in der Deutschrapszene oder als Alevitin innerhalb Communities mit Türkei-Hintergrund, dass ich damit noch weitere fünf Bücher damit füllen könnte. Ich glaube, dass Diskriminierung und Ausgrenzung auf Dauer krank machen, dieses Private ist hochgradig politisch und sollte öffentlich ausgetragen werden. Damit mehr und mehr Frauen sich zukünftig trauen, ihre eigenen Geschichten zu erzählen. Denn solche Geschichten sind nicht nur politisch, sondern auch heilsam.

Und was wäre das Nonplusultra an Leser:innen-Reaktion nach der Lektüre von «Amazonenbrust»?
Mein grösster Wunsch wäre es, wenn sich Betroffene in diesem Buch abgeholt fühlen und als Amazonen tapfer in den Kampf ziehen! Kampf heisst für mich aber auch gezielte Informationsbeschaffung, der Glaube an den medizinischen Fortschritt und das darauf Achten, wie man zukünftig leben kann, damit die Krankheit nicht wiederkehrt. Daneben möchte ich Betroffenen und Angehörigen mit diesem Buch auch Informationen und Tipps geben, die man sonst nicht bekommt. Denn nur deshalb habe ich dieses Buch geschrieben: weil ich diese medizinischen Infos und die Umgangsmöglichkeiten nirgendwo sonst gefunden habe. In literarischer Hinsicht würde ich’s feiern, wenn mir der (K)Literaturnobelpreis (sic!) für «Amazonenbrüste» verliehen werden würde, denn ich habe mir als Cunnilinguistin beim Schreiben wirklich grosse Mühe gegeben! Ich bleibe gespannt.

«Amazonenbrüste» von Reyhan Şahin, 1. Auflage 2025, Tropen Verlag, Erscheinungstermin: 13.09.2025, 240 Seiten

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