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Sängerin Zaho de Sagazan:

Sängerin Zaho de Sagazan: "Was wir in der Liebe suchen, finden wir auch in der Freundschaft"

Etwas Rebellion, viel Ausdruck, null Allüren: Die französische Sängerin Zaho de Sagazan ist ebenso stimm- wie meinungsstark. Wir haben mit ihr gesprochen.

Es wird bereits dunkel an diesem Winternachmittag, als Zaho de Sagazan in ihrem kleinen Tourbus den Videocall aus Zürich annimmt. Ein Sonntag. Wenige Stunden später wird sie im französischen Rouen auf der Bühne stehen. Oder besser: hüpfen, sich verrenken, tanzen – kurz: den poetischen Elektropop ihres Albums "La symphonie des éclairs" performen.

Die 25-Jährige sorgt inmitten des keimfreien Popuniversums zunehmend auch international für Aufsehen – ähnlich den aufmüpfigen Gallier:innen im Asterix-Comic lässt sie sich keine Marschrichtung vorgeben und wird genau dafür geliebt.

Freudvolle Rotzigkeit

Zaho verzichtet auf Choreografien und als man ihr wie bei den Filmfestspielen von Cannes schon vorschrieb, sie möge David Bowies "Modern Love" singen, zog sie ihren Auftritt mit einer Art pickendem Kopfnicken und ohne Schuhe, in weissen Socken, durch.

Im Blick eine Portion freudvolle Rotzigkeit, mit der sie die Überforderung der Festivalbesucher:innen konterte. Jury-Präsidentin Greta Gerwig rührte diese kraftvolle Hommage an ihren eigenen Auftritt in "Frances Ha" zu Tränen. Spätestens bei der Abschlussfeier der Olympischen Spiele beeindruckte Sagazan mit Edith Piafs "Sous le ciel de Paris" dann auch den Rest der Welt. Am 13. März wird die Französin in der Schweiz im ausverkauften Zürcher X-tra zu sehen sein, höchste Zeit also für ein Kennenlernen.

annabelle: Ihr Auftritt an den Filmfestspielen in Cannes machte Sie berühmt. Mal abgesehen von Ihrer rauchig-warmen Stimme und einer authentischen Performance: Warum ist eine singende Frau in Socken solch eine Sensation?
Zaho de Sagazan: Verrückt, oder? All die herausgeputzten Schauspieler:innen und Kreativen, die es doch gewohnt sind, sich künstlerisch auszudrücken, sassen plötzlich stocksteif da, fast wie verstummt – gerade diese Ruhe hat es aber auch so magisch gemacht. Vor dem Auftritt hatte ich mich mit meiner grossen Schwester Leïla, die Choreografin ist (Leïla Ka de Sagazan, Anm. d. Red.), beratschlagt und uns war schnell klar, dass ein klassischer Bühnenauftritt nicht sonderlich spannend wäre. Ursprünglich hatte ich vor, meine Schuhe nur zum Tanzen auszuziehen – es ist einfach bequemer so – und mich durchs Publikum zu singen. Die Idee mit den Socken kam dann ziemlich spontan, ich habe sie gerade mal zwei Stunden vor der Zeremonie gekauft.

Die Angst vor Shitstorms scheint Ihnen fremd. Währenddessen viele Kolleg:innen keine Position mehr beziehen wollen, sprechen Sie sich öffentlich gegen die Rechtsextremen in Frankreich aus und appellieren für mehr humanitäre Hilfe in Gaza. Fürchten Sie nicht, anzuecken?
So etwas ist mir egal. Ein Shitstorm aufgrund meiner politischen Überzeugung ist keine grosse Sache. Wenn ich allerdings von Fans höre: "Wenn du gegen die Rechte bist, dann hasst du mich ja auch", trifft mich das tief. Ich werde niemanden hassen, nur weil er oder sie eine andere politische Überzeugung hat. Vielmehr geht es darum, sich die Mechanismen der manipulierenden Machthaber:innen anzuschauen, etwa von denen, die Migrant:innen zum Bösen erklären. Oder nehmen wir Israel–Gaza: Ich bin mir vollkommen bewusst, dass die Lage komplex ist. Aber ich habe ein Herz, das mir sagt, dass das, was in Gaza passiert, absolut schrecklich ist.

In den USA hat Donald Trump die Wahl gewonnen, trotz breitenwirksamer Unterstützung für Kamala Harris durch Stars wie Taylor Swift und Leonardo DiCaprio. Haben wir die Macht der Kultur überschätzt?
Ich glaube nicht – eher haben wir die Menge an frauenfeindlichen und rassistischen Menschen unterschätzt. Es wäre wohl auch zu einfach, wenn ein paar grosse Stars ihre Stimme erheben und wir fortan vor nichts mehr Angst zu haben bräuchten.

Es scheint, als verlören die Menschen immer mehr den Glauben – an Politik, Medien, Wissenschaft. Wie lässt sich diese Entwicklung stoppen?
Mit Toleranz! Gefährlich wird es, wenn Menschen sich missverstanden fühlen. Mich macht es wahnsinnig, wenn Pflegefachpersonen, die sich krumm arbeiten, für Marie Le Pen abstimmen, weil die ihnen erzählt, dass die Migrant:innen schuld an den geringen Löhnen wie auch allen anderen Problemen seien. Wenn beide Seiten immer nur "Arschloch" rufen, wird das am Ende die Gesellschaft total spalten. Wir müssen im Gespräch bleiben, auch wenn es schwierig ist. Wenn wir aufhören, zu reden, wird alles noch schlimmer. Schweigen ist keine Option. Gerade während der Parlamentswahlen in Frankreich und auch während des US-Wahlkampfs war ich immer, immer in Panik vor der Zukunft. Aber jedes meiner Konzerte hat mich beruhigt.

Wie das?
Weil ich Menschen zusammenkommen sah und dachte: Wir sind nicht verloren. Der Tag, an dem wir verloren sind, ist der Tag, an dem wir aufhören, miteinander zu reden. Der Tag, an dem niemand mehr lächelt. Kultur bringt Menschen zusammen – von rechts, von links, aus allen möglichen Ländern. Ohne Kultur verlieren wir uns. Und das ist es, was ich auch bei jedem Konzert spüre – diese verbindende Kraft. Selbst wenn die Welt düster ist, gibt es immer noch diesen Raum, wo wir uns begegnen können. Kultur ist so viel mehr als Unterhaltung. Gerade jetzt, wo die Welt so chaotisch ist, rettet sie uns, lässt uns Hoffnung schöpfen.

Also tragen Künstler:innen eine grosse Verantwortung, oder?
Ja, natürlich. Ursprünglich wollte ich Pflegefachfrau werden, entdeckte dann die Musik und sagte mir: Ich könnte ja auch einfach versuchen, Menschen auf diese Weise zu behandeln. Ich selbst war lange Zeit sehr melancholisch, oft traurig, und die Musik hat mich aus meinem Tief herausgeholt. Der britische Sänger Tom Odell etwa war wie ein bester Freund für mich, er hat mich verlässlich begleitet – ohne dass ich ihm damals je begegnet wäre. (Inzwischen haben die beiden ein Duett aufgenommen, Anm. d. Red.) Heute sehe ich mich manchmal selbst in dieser Rolle. Wenn ich mit meiner Band Konzerte gebe, enden wir immer mit "Ah que la vie est belle" von Brigitte Fontaine. Nach Stunden voller Lieder über Traurigkeit und schwere Themen will ich den Menschen zeigen, wie schön das Leben ist und mit ihnen tanzen.

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"Ich war schon früh bereit, zehn Stunden am Klavier zu sitzen und nach dem einen fehlenden Wort zu suchen"

Sie singen in "Dis-moi que tu m’aimes" von dem Bedürfnis nach Liebesbekundungen und fordern in einem anderen Song explizit: "Hab Sex". Doch es zeichnet sich eine andere Entwicklung ab. Wir leben in einer Welt, in der immer mehr Menschen bewusst auf Partnerschaft und Sex verzichten. Was passiert gerade?
Ich glaube, unsere Generation holt sich da ein Stück Freiheit zurück. Mit Codes zu brechen, wie der im Christentum verankerten Idee der Familienbildung, bedeutet auch, etwas Neues freizusetzen. Natürlich gibt es Menschen, die mit zwanzig heiraten und Kinder wollen – warum aber das als Norm festlegen? Das ist einer der grossen Fortschritte unseres Jahrhunderts: dass wir vermeintliche Wahrheiten in Frage stellen können.

In Japan wird bereits die "friendship marriage" zelebriert. Tritt vielleicht die Freundschaft an die Stelle der romantischen Liebe?
Ich selbst habe noch keine grosse Liebesgeschichte erlebt, aber ich weiss um die Kraft der Freundschaft und finde es wunderbar, dass sie in den Mittelpunkt rückt! Was wir in der Liebe suchen – diese Seelenverwandtschaft, diese tiefe Verbindung –, das finden wir doch auch genau da. Der französische Soziologe und Philosoph Geoffroy de Lagasnerie hat in seinem Buch "3 – Ein Leben ausserhalb" darüber geschrieben, wie die traditionelle Paarbeziehung uns oft isoliert, wir fangen an, auf unser Zuhause aufzupassen, wollen es vor anderen schützen, wohingegen Freund:innen uns neue Welten eröffnen, zu Perspektivenwechseln einladen, uns neuen Menschen vorstellen.

Sie brechen gern mit Stereotypen, etwa dem der bescheidenen Frau. Sie sagen offen, dass Sie viel verdienen – warum fällt Ihnen das so leicht?
Dass ich viel verdiene, ist eine pauschale Aussage. Sie fällt mir leicht. Aber wenn es um Geld und konkrete Beträge geht, tue ich mich sehr schwer. Ich wuchs in einer Familie auf, die lange Zeit nur vom Lehrerinnengehalt meiner Mutter lebte, und das mit fünf Kindern. Mein Vater war Künstler, aber das funktionierte damals überhaupt nicht. Wir haben uns bei Emmaüs (ähnlich wie Caritas-Shops, Anm. d. Red.) eingekleidet und oft Linsen gegessen. Meine Mutter sagte immer, dass Geld verdienen nur einem Zweck diene: es nicht zum Thema machen zu müssen. Jetzt verdiene ich mehr als die meisten Menschen um mich herum. Obwohl ich erst 25 Jahre alt bin und vor zwei Jahren als Altenpflegerin noch sieben Euro pro Stunde bekam. Wenn es darum geht, irgendwo eine Rechnung zu bezahlen, Miete oder sonst was, will ich nicht darüber reden, selbst wenn es zu meinem Nachteil ist. Ich sage lieber: da, nimm, mach – Hauptsache, wir setzen uns nicht zu lange damit auseinander. Sicher arbeite ich auch deswegen so gern mit meinen Freund:innen zusammen, von denen ist auch niemand vom Geld getrieben.

Sie sagten, dass Ihr Vater Olivier de Sagazan lange erfolglos als Künstler gearbeitet hat. Inwiefern hat Sie das beeinflusst?
Ich habe meinen Vater immer wie einen Verrückten in seiner Werkstatt arbeiten sehen. Er malt, fotografiert und ist auch Performancekünstler. Als solcher war er ständig damit beschäftigt, irgendwas Seltsames zu machen – etwa unter Eis zu schreien. Immer mit ganzer Leidenschaft, völlig frei, das hat mich in meinem Unabhängigkeitsdenken definitiv bestärkt. Durch meinen Vater habe ich aber auch verstanden, dass wir nicht talentiert geboren werden, sondern erst Talente ausbilden. Mir war bewusst, dass meine ersten Songs mit 13 Jahren Quatsch waren, aber ich spürte, dass ich die nötige Leidenschaft in mir hatte, so lange daran zu arbeiten, bis etwas Grossartiges entsteht. Ich war schon früh bereit, zehn Stunden am Klavier zu sitzen und nach dem einen fehlenden Wort zu suchen.

Im Dezember waren Los Angeles, New York, San Francisco dran, im Frühjahr geht es weiter auf Tour nach Kanada. Keine Angst, im Zuge des weltweiten Erfolgs zum Plastikpop-Püppchen genormt zu werden?
Ah, überhaupt nicht, machen Sie sich keine Sorgen: Meine Familie würde mir umgehend die Leviten lesen! Diese ganze Dua-Lipa-Beyoncé-Richtung, hop und drehen, ist so gar nicht meins – auch wenn ich beide für überaus talentiert halte. Ich selbst mag Rock’n’Roll, Jacques Brel und freie Bewegung, ganz so wie ich es will. Und sollte ich je eine Choreografin brauchen, werde ich meine Schwester fragen. Jetzt freue ich mich total, auf anderen Kontinenten meinen kleinen Wahnsinn auf die Bühne zu bringen.

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