
"Trop Chaud" erzählt vom Triumph der Klimaseniorinnen – aber was bleibt?
Regisseur Benjamin Weiss hat den Gerichtsfall "Klimaseniorinnen vs. Switzerland" begleitet. Sein Film "Trop Chaud" beleuchtet Hintergründe, doch die Frage, was dieser historische Erfolg für die Zukunft bedeuten kann, bleibt offen.
- Von: Melanie Biedermann
- Bild: Louise va au cinéma
«Sobald ich einen Fuss aus dem Haus setze, habe ich das Gefühl, eine Bleiglocke fällt auf mich runter», erzählt Véronique Mermoud. In heissen Sommern – wie etwa im letzten Jahr und dem Jahr davor – falle ihr das Atmen schwer. Dann schliesse sie ihre Fenster und Fensterläden und lebe zwei Monate drinnen. «Ich gehe um 10 Uhr abends raus, aber das ist nicht dasselbe. Ich habe kein Sozialleben mehr.»
Mermoud ist Klimaseniorin und eine von 2038 Klägerinnen, die am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg (kurz: EGMR) Klage gegen die Schweiz einreichten, weil ihr Land sie nicht genügend vor den gesundheitlichen Folgen der Klimakrise schütze. Ihr persönliches Beispiel zeigt, wie eng diese beiden Dinge miteinander verknüpft sind.
Interviewanfragen aus Australien und Afrika
Am 9. April 2024 gehörte sie zur Gruppe Schweizer Frauen, die Geschichte schrieb: Der Verein Klimaseniorinnen Schweiz gewann seine Klage gegen die Schweiz. Mit seinem Urteil erklärte das Europäische Gericht den Klimaschutz zum Menschenrecht.
Die Bilder der Urteilsverkündung gingen um die Welt: «New York Times» berichtete damals genauso wie «BBC» und «Al Jazeera», Interviewanfragen seien aber auch aus Australien oder Afrika eingetroffen, erzählen die Klimaseniorinnen in «Trop Chaud», dem neuen Dokumentarfilm von Benjamin Weiss.
Darin folgt der Zürcher Regisseur den Frauen und ihrem Rechtsteam bei den Vorbereitungen für die Verhandlungen in Strassburg; er zeigt sie während Zugfahrten und Zoom-Interviews mit internationalen Medien, aber genauso in privaten Situationen bei sich zuhause oder auf Wanderungen durch schmelzende Gletscherlandschaften.
"Die Fronten haben sich verhärtet"
Auch in der Schweiz wurde vor und nach dem historischen Urteil in Strassburg bekanntermassen viel berichtet – nicht zuletzt, weil die Regierung sich seither weigert, dem Urteil nachzukommen. Schweizer Rechtsvertreter sowie zahlreiche Politiker von SVP bis SP betonen entweder, dass das Urteil die Gewaltentrennung untergrabe oder dass die Schweiz bereits genug unternehme, um die Klimakrise im Sinne des Pariser Klimaabkommens einzudämmen.
Bis September braucht es Beweise
Am 6. März 2025 erklärte das Ministerkomitee des Europarats jedoch, dass die Schweiz ihrer Verpflichtung, die Klimaerwärmung auf unter 1.5 Grad zu halten, weiterhin nicht genügend nachkomme. Bis September muss unser Staat dem Europäischen Gerichtshof Beweise vorlegen, dass er nachgebessert hat.
Der Filmtitel «Trop Chaud» spielt also nicht nur auf das erhitzte Klima der vergangenen Jahre, sondern auch auf die Debatten an, die sich um die Klimaseniorinnen und ihren Rechtsspruch entflammten.
Die Fronten haben sich seither verhärtet: Auf der einen Seite die Klimaseniorinnen und Menschen, die sich mit ihnen über den richtungsweisenden Entscheid des Europäischen Gerichtshofs freuen und ihn umgehend umgesetzt sehen wollen. Auf der anderen Seite stehen jene, die eine Verletzung der Gewaltentrennung sehen oder überzeugt sind, die Schweiz tue längst genug, aber auch solche, die die Klimakrise schlichtweg leugnen.
Anwältin Roda Verheyen"Es ist inzwischen auch aus Sicht der Gewaltenteilung zwingend, die Gerichte an diesen Problemen zu beteiligen"
Diese tiefen Gräben stehen bei «Trop Chaud» oft im Fokus und besonders die Szenen aus den Anhörungen in Strassburg und den Reaktionen auf den Entscheid im Schweizer Parlament machen einen teils fassungslos. Ein erstes Mal passiert es, als Jessica Simor, die britische Prozessanwältin der Klimaseniorinnen, die Argumente der Schweiz darlegt.
An dieser Stelle sei erwähnt: Die Klage am EGMR erfolgte auf drei frühere Versuche der Klimaseniorinnen, in der Schweiz zu klagen, doch diese wurden bis auf Bundesebene abgeschmettert. Die (männlichen) Vertreter unserer Regierung argumentierten mitunter, dass die Klägerinnen keine Opfer sein können, weil sie zum Zeitpunkt, an dem die Erwärmung den im Pariser Klimaabkommen vereinbarten Schwellenwert von 1.5 Grad übersteigen wird, höchstwahrscheinlich nicht mehr am Leben sein werden.
Cordelia Bähr auf der «Time 100 List»
Es fällt schwer, bei Aussagen wie diesen einen kühlen Kopf zu bewahren, aber zum Glück bemüht sich der Film auch um eine Aufarbeitung der Fakten. Anwältin Jessica Simor erklärte vor Gericht in Strassburg: «Die Schweiz erlebte bereits einen durchschnittlichen Temperaturanstieg von 2.1 Grad.» Aus heutiger Sicht kann man anfügen, dass die globale Durchschnittstemperatur im vergangenen Jahr erstmals 1.5 Grad über dem vorindustriellen Niveau lag.
Inhaltlich wie formal tut es dem Film gut, dass die Porträts einzelner Seniorinnen und Mitschnitte aus Anhörungs- und Parlamentssälen um Stimmen aus dem Rechtsteam und Umfeld der Klimaseniorinnen sowie externen Expert:innen ergänzt werden. Zu Wort kommen etwa Cordelia Bähr, die leitende, akribische und äusserst engagierte führende Anwältin der Klimaseniorinnen, die seit dem Urteilsspruch am EGMR unter anderem auf der «Time 100 List» der einflussreichsten Menschen des Jahres 2025 landete.
Aber auch Joeri Rogelj, Wissenschafter und Co-Autor der Berichte des International Panel on Climate Change (IPCC), der die hitzige Thematik mit nüchternen Fakten erdet – zusammengefasst in etwa: Der Planet wird sich anpassen können, es sind wir Menschen, die nicht überleben werden.
Am gewichtigsten sind aber wohl die Worte von Roda Verheyen. Die auf Umwelt und Klima spezialisierte deutsche Anwältin erklärt, warum die Kritik an der Gewaltentrennung aus heutiger Sicht nicht mehr hält: «Es ist inzwischen auch aus Sicht der Gewaltenteilung zwingend, die Gerichte an diesen Problemen zu beteiligen. Das liegt schlicht daran, dass wir in einer Konkretionsphase sind, wo man die Rechtsverletzung anfassen, spüren und beziffern kann.» Die Argumentation, dass jemand, der sich vor Gericht mit dem Klima befasst, in irgendeiner Form aktivistisch ist, sei daher «tendenziös und falsch».
Parallelen zum Kampf für Frauenrechte
Letztlich zieht der Film im Kampf der Seniorinnen für Klimaschutz auch Parallelen zum Kampf für das Frauenstimmrecht in der Schweiz. Die meisten von ihnen erinnern sich daran, wer oder was sie damals politisierte. Letztlich war auch dieser Vorstoss mit den Menschenrechten verknüpft: Die Schweiz wollte der Europäischen Menschenrechtskonvention beitreten, doch ohne Frauenstimmrecht sollte das nicht gelingen.
Eingangs erklärt der Film, es sei «eine verwegene Idee» gewesen, dass ausgerechnet Gerichte etwas gegen den Klimawandel ausrichten könnten. Letztlich liefert «Trop Chaud» Argumente, warum sie genau das tun müssen.
«Trop Chaud» läuft aktuell im Kino.
Spezialvorführungen mit anschliessenden Filmgesprächen in Anwesenheit von Klimaseniorinnen und Filmschaffenden:
– Dienstag, 20. Mai, 18.30 Uhr, Kinocenter, Chur, mit: Pia Hollenstein (Klimaseniorin), Benjamin Weiss (Regie und Produzent), Daniel Hitzig (Produzent)
– Mittwoch, 21. Mai, 19.30 Uhr, Kino Wildenmann, Männedorf, mit: Elisabeth Stern, Oda Müller (Klimaseniorinnen), Annika Fausch (Schnitt), Moderation: Catherine A. Berger
– Montag, 2. Juni, 19.00 Uhr, Kino Qtopia, Uster, mit: Oda Müller, Benjamin Weiss, Daniel Hitzig, Moderation: Heidi Witzig
– Samstag, 7. Juni, 19.30 Uhr, Kino+, Meiringen, mit: Marc Bachmann, Benjamin Weiss, Daniel Hitzig
– Donnerstag, 12. Juni, 19.30 Uhr, Rote Fabrik, Zürich (Films for Future), mit: Benjamin Weiss, Daniel Hitzig
– Freitag, 13. Juni, 17.30 Uhr, Kino um die Ecke, Belp, mit: Jutta Steiner (Klimaseniorin), Benjamin Weiss, Daniel Hitzig
– Sonntag, 15. Juni, 11.00 Uhr, Kino Cameo, Winterthur, mit: Benjamin Weiss, Daniel Hitzig
– Sonntag, 15. Juni, 18.00 Uhr, Kino Orion, Dübendorf, mit: Benjamin Weiss, Daniel Hitzig