
Was ist eine gute Mutter, Lisa Brühlmann?
Teenager und scheiternde Eltern: Die Zürcher Filmemacherin Lisa Brühlmann über ihren neuen Film "When We Were Sisters".
- Von: Jacqueline Krause-Blouin
- Bild: Franco Tettamanti
Lisa Brühlmann dreht gerade in Toronto für Netflix, als wir mit ihr sprechen. Zwei Monate ist sie dort, vermisst ihre beiden Kinder (7 und 11) sehr, wie sie im Interview erzählt. Brühlmann wohnt noch immer in Zürich, in der Stadt, in der sie aufgewachsen ist. Erstaunlicherweise, denn die 44-Jährige hat längst Hollywoodstatus.
Mit einem beeindruckendem Karrierestart hat sie 2017 die Schweizer Filmszene erobert und sich als Regisseurin einen Namen weit über die Landesgrenzen hinaus gemacht. Ihr Erstlingswerk «Blue My Mind» wurde mit renommierten Preisen ausgezeichnet und als Meilenstein des jungen Kinos gefeiert. Auch im Seriengeschäft etablierte sie sich mit Regiearbeiten für internationale Formate wie «Killing Eve» und stieg mit einer Emmy-Nominierung endgültig in die Riege der gefragtesten Regietalente auf.
Brühlmann ist für ihren unerschrockenen Blick auf gesellschaftlich relevante Themen bekannt. In ihrem neuen Film «When We Were Sisters», einer berührenden Coming-of-Age-Geschichte über Patchworkfamilien und Wahlverwandtschaft, hat sie nicht nur Regie geführt und das Drehbuch geschrieben, sondern spielt auch selbst eine der Hauptrollen: Monica, eine Mutter, die regelmässig an sich und ihren eigenen Massstäben scheitert. Aber was bedeutet es überhaupt, eine gute Mutter zu sein? Zeit für ein Gespräch über Frauen hinter der Kamera, Erwartungen an Teenager und die Wichtigkeit von getrennten Wohnungen in einer Beziehung.
annabelle: Lisa Brühlmann, war Ihnen von Anfang an klar, dass Sie die Rolle der Monica selbst übernehmen würden?
Lisa Brühlmann: Nein, ich habe es mir lange überlegt und gezweifelt. Aber es hat mich sehr gereizt, eine solch spannende, komplexe, zwiespältige Figur zu spielen. Ich habe mich dann quasi selbst gecastet und vor der Kamera ausprobiert, ob ich es überhaupt schaffen könnte, so tief zu gehen. Wenn nicht, wäre ja mein eigener Film schlecht geworden. (lacht) Es ist immer ein künstlerisches Wagnis, Regie zu führen und gleichzeitig zu spielen.
Sie sind als Regisseurin überaus erfolgreich, drehen als eine der wenigen Schweizer Filmschaffenden für die ganz grossen Player in Hollywood. Was hat sich mit der Emmy-Nominierung für «Killing Eve» 2019 verändert?
Das war auf jeden Fall ein wichtiger Pfeiler in meiner Karriere, der mir einige Türen geöffnet hat. Ich bekomme tolle Angebote und darf mir Projekte aussuchen, die mich inspirieren. Ich werde für Auftragsarbeiten als Regisseurin engagiert und habe jetzt mit «When We Were Sisters» nach einiger Zeit wieder mein eigenes Projekt gemacht. Hier in Toronto drehe ich die Netflixserie «Something Very Bad Is Going To Happen» von den Duffer Brothers, den Schöpfern von «Stranger Things».
Inwiefern ist das Arbeiten in Hollywood anders als in der Schweiz?
Es ist so viel mehr möglich. Stellen Sie sich vor, Sie haben sich als Kind immer Lego gewünscht und stehen plötzlich im Legoland – das sind einfach andere Budgets. Die Arbeit mit den grossen Anbietern gibt mir mehr Raum, weil ich weniger Verantwortung habe und mich ganz auf die Regie konzentrieren kann. Ich darf so auch immer wieder neue Orte kennenlernen und für einige Zeit in eine andere Lebenswelt eintauchen.
Sie haben als Schauspielerin angefangen und sind dann ins Regiefach gewechselt. Werden Sie bald wieder selbst spielen?
Nein, ich brauche erst einmal Abstand. Das Spielen ist für mich enorm anstrengend und ich schaffe es nicht so gut, eine Rolle abzustreifen. Regie zu führen ist mein Hauptberuf, meine Heimat, aber ich habe nach wie vor eine grosse Spielfreude. Und bei meinem Film «When We Were Sisters» habe ich mir gedacht: Wenn ich es jetzt nicht mache, dann mache ich es wahrscheinlich nie wieder.
Ihre Figur Monica fragt ihre Tochter in einer Szene «Bin ich ein schlechtes Mami?». Sie hätte auch fragen können «Bin ich ein gutes Mami?». Warum haben Sie das so formuliert?
Ich glaube, die Angst, keine gute Mutter zu sein, steckt in uns allen. Das Baby kommt und man will ihm alles geben und dann merkt man plötzlich, dass man manchmal an sich selbst scheitert. Monica realisiert, dass sie ihren eigenen Massstäben als Mutter nicht gerecht wird, oder zumindest nur punktuell, wenn sie ihr Kind für einen kurzen Moment mit ihrer Liebe fast erschlägt. Sie hat selbst als Kind keine gesunde Liebe erfahren und kann nicht anders. In den Momenten, in denen sie sich ihres Scheiterns bewusst wird, schmerzt es enorm und macht ihre Aggression noch grösser.
"Glückliche Mutter, glückliche Kinder – daran glaube ich"
Ihr Film spielt in den Neunzigern. Was denken Sie, wie hat sich das Elternsein im Vergleich zu heute verändert?
Wir Eltern von heute wissen einfach sehr viel mehr. Wir sprechen über Traumata, lesen über achtsame Erziehung, hören Podcasts und wälzen mit unseren Freund:innen Themen, die früher noch Tabu waren. Heutzutage ist es etwa völlig normal, in Therapie zu gehen, das war früher stigmatisierend. Wir analysieren unsere eigene Kindheit, um Fehler nicht zu wiederholen und es steht uns mehr Wissen zur Verfügung. Ich glaube, wir sind bewusster Eltern als frühere Generationen.
Wenn man Ihren Film sieht, wird einem einmal mehr bewusst, was man als Mutter alles falsch machen kann. Was ist überhaupt eine gute Mutter?
Ich bin davon überzeugt, dass man als Mutter darauf achten muss, selbst zufrieden zu sein. Glückliche Mutter, glückliche Kinder – daran glaube ich. Und deswegen erlaube ich mir auch meine eigenen Bedürfnisse. Pure Anwesenheit macht noch keine gute Mutter. Ich bin eine berufstätige Frau, ich bin oft weg, aber wenn ich da bin, dann will ich eine präsente Mutter sein. Bei mir ist immer Chaos in der Wohnung und ich muss auch nicht jeden Tag das Mittagessen kochen, um eine gute Mutter zu sein. Viel wichtiger ist mir, eine sichere, vertrauensvolle Bindung zu meinen Kindern zu schaffen. Ich würde sogar sagen, dass es der Beziehung mit meinen Kindern guttut, dass ich nicht immer da bin. Weil ich so manchmal mehr Raum habe, um über sie nachzudenken, als wenn man ständig im Alltag feststeckt und vor allem funktioniert. Mein Ziel ist, dass meine Kinder wissen, dass sie raus in die Welt gehen, aber immer zu mir nachhause zurückkommen können. Da, wo es sicher ist.
Patchworkfamilien wie im Film sind heute keine Ausnahmen mehr. Empfinden Sie diese neuen Familiensituation für Kinder als überfordernd?
Man muss die Kinder gut miteinbeziehen und sie begleiten. Die Kinder tragen die Trennung der Eltern mit, und man kann ihnen das auch nicht abnehmen. Man muss ihren Schmerz akzeptieren. In dieser Situation werden Räume plötzlich ganz wichtig. So ein eigenes Zimmer kann heilig sein, ein Rückzugsort, den man dem Kind unbedingt lassen sollte. Eine Scheidung bringt viel Unsicherheit mit sich, das habe ich selbst gemerkt, seit ich von meinem Ex-Mann getrennt bin. Mein neuer Partner und ich haben uns deshalb auch bewusst dafür entschieden, nicht zusammenzuziehen. Das Konzept des Zusammenziehens kann man ja generell in Frage stellen: Man emanzipiert sich, findet sich, lebt allein und plötzlich soll man wieder ein Zimmer mit jemandem teilen – und den Schrank! (lacht)
Ihr Debüt «Blue My Mind», 2017, und jetzt auch «When We Were Sisters» sind Coming-of-Age- Geschichten. Was reizt Sie besonders an der Lebensphase der Pubertät?
Es ist die Zeit, in der sich die Persönlichkeit bildet, es steht immer alles auf dem Spiel. Alles scheint grösser, die Emotionen, die Hormone spielen verrückt, alles bedeutet so viel mehr. Man ist schon eine Persönlichkeit, hat aber noch nicht die Befugnis, sein Leben so zu leben, wie man will, weil andere immer noch die Regeln machen. Zeiten des Umbruchs sind immer interessant.
"Ich hatte manchmal das Gefühl, nicht so richtig in die Welt zu passen"
Wie waren Sie selbst als Teenager?
Ich hatte manchmal das Gefühl, nicht so richtig in die Welt zu passen. Ich hatte viele Fragen zu Identität und war eine Suchende. Vielleicht auch, weil ich ohne Vater aufgewachsen bin und ihn erst mit 23 Jahren kennengelernt habe. Aber ich war auch sehr lebensfroh und hatte immer gute Freundschaften, die Wahlfamilie war für mich schon immer sehr wichtig, auch weil ich Einzelkind bin. Ich bin überzeugt davon, dass Blut nicht dicker als Wasser ist und dass man sich seine eigene Familie schaffen kann.
Hat die Zusammenarbeit mit den Teenager-Schauspielerinnen Ihre Sicht auf den Film verändert?
Teenager ist so ein weiter Begriff. Es sind alles Menschen und alle sind sehr unterschiedlich. In «Blue My Mind» habe ich bereits mit jungen Erwachsenen zusammengearbeitet und da war es ganz anders. Luna Wedler hat immer sofort hundert Prozent beim Proben gegeben, so dass ich fast Angst hatte, dass sie dann beim Dreh gar keine Kraft mehr haben würde. Bei Paula Rappaport, die in «When We Were Sisters» meine Tochter spielt, war es anders. Sie wollte beim Proben gar nicht viel zeigen, was mich sehr nervös gemacht hat. Aber sie versicherte mir: «Lisa, vertrau mir, beim Dreh mache ich es dann schon». Und ich hatte keine andere Wahl. Tatsächlich hat sie dann schon beim ersten Take abgeliefert.
Als junge Erwachsene haben Sie in der Schweizer TV-Serie «Tag und Nacht» gespielt. Wie beobachten Sie junge Schauspielerinnen heute?
Sie sind so viel selbstbewusster, tun Dinge, die ich mich niemals getraut hätte, nehmen sich Raum, stehen für sich ein, das finde ich sehr inspirierend. Ich hatte damals immer das Gefühl, ich muss liefern, schnell sein, alle glücklich machen. Meine Rolle in der Serie war nicht sehr vielschichtig und ich habe mich dauernd gefragt, warum ich im kurzen Röckchen herumstehe und nicht die Person hinter der Kamera bin, die sich spannende Dinge ausdenkt. Zum Glück bin ich jetzt diese Person.
Im Kino: «When We Were Sisters» von und mit Lisa Brühlmann. Mit Carlos Leal, Malou Mösli und Paula Rappaport